Zwischen zwei Welten (eBook)
288 Seiten
Edel Sports - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-98588-090-4 (ISBN)
Norbert Nachtweih, geboren 1957 in Sangerhausen, spielte in der DDR-Oberliga bei FC Chemie Halle, bevor er 1976 in den Westen floh. Mit Eintracht Frankfurt gewann er 1980 den UEFA-Cup, später wechselte er zu FC Bayern München, wo er die Deutsche Meisterschaft und den DFB-Pokal gewann. Im Rahmen seiner Autobiografie nahm er erstmalig Einblick in seine Stasiakte.
Norbert Nachtweih, geboren 1957 in Sangerhausen, spielte in der DDR-Oberliga bei FC Chemie Halle, bevor er 1976 in den Westen floh. Mit Eintracht Frankfurt gewann er 1980 den UEFA-Cup, später wechselte er zu FC Bayern München, wo er die Deutsche Meisterschaft und den DFB-Pokal gewann. Im Rahmen seiner Autobiografie nahm er erstmalig Einblick in seine Stasiakte. Mathias Liebing ist freier Journalist und Dokumentarfilmer. Sein thematischer Fokus liegt auf hintergründigen Sportgeschichten, bewegenden Lebenswegen sowie der Sportpsychologie. Über Norbert Nachtweih hat der Leipziger bereits als Jugendlicher für die Mitteldeutsche Zeitung geschrieben. Für eine NDR-Doku und dieses Buch konnte er Nachtweih überzeugen, erstmals Einsicht in seine Stasi-Akte zu nehmen.
DIE CHANCE VON BURSA
Der Amerikaner in der Bar
Die Spätsommersonne ist ein Traum. Ich, der vielleicht größte Traumtänzer des deutschen Fußballs, stehe am Rande der großen Hotelterrasse. Die Millionenstadt Bursa liegt wie ein Teppich vor mir. Der sachte Wind weht den Ruf des Muezzins aus der berühmten Grünen Moschee herüber. Unten auf der Straße sucht eine muntere Hochzeitsgesellschaft den Weg in den Park. Weiter hinten erhebt sich das Uludag-Gebirge. Bis zu seinem Abriss 2016 wäre sogar das Atatürk-Stadion zu sehen gewesen. 45 Jahre nach meinem letzten Besuch bin ich dahin zurückgekehrt, wo das Abenteuer meines Lebens begann. Und bin auf einer Großbaustelle gelandet. Das Celik Palas Hotel, seit seiner Eröffnung in den 1920er-Jahren die erste Adresse für ausländische Besucher der Stadt, wird runderneuert. Inklusive des Hamams, ein großer Kuppelbau mit einem stattlichen Thermalbecken und einer selbst während des Umbaus atemberaubenden Akustik. Sogar die Stille klingt besonders. Angeblich kämen Künstler für Gesangsstunden hierher. Vor Jahren waren Liz Taylor und Audrey Hepburn da, noch früher Kemal Atatürk. Und die DDR-Olympiaauswahl, mit der ich im November 1976 in Bursa mein letztes Länderspiel gemacht habe. Die Reise in meine Vergangenheit beginnt genau hier.
Ganz ehrlich, ich habe kaum Erinnerungen an das alles. Ich weiß noch, dass ich an der Bar saß. Und ich weiß, dass die meisten meiner Mannschaftskameraden sich im Pool vergnügten. Aber ob wir als U21-Nationalmannschaft, in der anders als heute keine Jungmillionäre, sondern echte Junioren spielten, überhaupt in das Thermalbad durften? Keine Ahnung. Ich vermute, den Jungs wird der normale Pool mit Blick über die Stadt gereicht haben. So etwas kannten wir nicht von den Hotels, in denen wir üblicherweise übernachteten: zwischen Ostsee und Erzgebirge. Und schon gar nicht von unseren Vereinen wie meinem Halleschen FC Chemie, in denen wir noch Jugendspieler waren.
Wenige Stunden zuvor hatten wir gegen die Türkei ein 1:1-Unentschieden erreicht. Ich könnte jetzt sagen, dass ich der beste Mann auf dem Platz gewesen war. Aber das wäre gelogen. Denn auch an das Spiel habe ich kurioserweise keine Erinnerungen mehr. Es ist wie ausgelöscht. Schon komisch, weil sich in genau jenen Stunden mein Leben für immer veränderte. Ach, viel mehr: Ich beendete mein altes Leben auf einen Schlag und startete in ein Abenteuer, das eigentlich bis heute anhält.
Dieses Abenteuer beginnt an der Bar. Was ich noch weiß, ist, dass sich mein guter Freund Jürgen Pahl mit einem anderen Hotelgast sehr angeregt unterhielt. Jürgen, unser Torwart, war schon damals ein Außenseiter. Heute würde man sagen, ein Intellektueller, oder mit dem Abstand von ein paar Jahren und einem Augenzwinkern: ein Schwurbler. Aber egal, ich saß da, vor mir eine Cola, die wir von der Delegationsleitung des Fußballverbands genehmigt bekommen hatten. Neben mir Jürgen und ein Amerikaner.
Ein Amerikaner! Natürlich durften wir das nicht. Westkontakte waren den Auswahl- und Klubmannschaften bei Auslandsaufenthalten strengstens untersagt. Vor Reisen wurde uns das immer wieder eingeschärft. Oftmals kam ein Parteisekretär aus Halle zu uns ins Training, um uns auf Linie zu bringen und vor allem zu erklären, was die Imperialisten alles Böses mit uns vorhatten. Er zeigte dann Fotos, Ausschnitte aus der Bild-Zeitung und erzählte, wie das Verbrechen im Westen grassierte. Wie gefährlich es nachts auf den Straßen war. Schuld war immer der Kapitalismus. Der Westen und seine Bruderstaaten waren das Böse, wir die Guten. Schwarz-Weiß, ganz einfach.
An diesem Abend des 15. November 1976 war im Hotel gut was los. Die Türken hatten unsere Delegationsmitglieder unten im Saal des Hotels zu einem Bankett eingeladen. Was waren die nervös. Für den Empfang wollten sie sich rausputzen. Für uns bedeutete diese Ablenkung vor allem ein zweites Getränk. Ich weiß noch, dass ich immer wieder zwischen der Bar und einer Gruppe von Spielern pendelte. Und dass wir glücklich waren, mal eine echte Coca Cola zu trinken. Bier oder andere alkoholische Getränke waren uns strengstens untersagt. Und daran haben wir uns meistens gehalten. Währenddessen vertiefte sich Jürgen, der im Gegensatz zu mir gut Englisch sprach, immer mehr in das Gespräch mit dem Ami, einem Reiseleiter, der am nächsten Tag mit seiner Gruppe weiter nach Istanbul wollte. Ich verstand wenig, bekam aber mit, dass irgendwas verabredet wurde. Es muss 23.10 Uhr gewesen sein, alle anderen Spieler waren schon weg. Auch Jürgen und ich hätten schon seit zehn Minuten auf unseren Zimmern sein müssen, als die schwere Lifttür aufging und einige Delegationsmitglieder erschienen. Als sie uns sahen, zeigten sie mit dem Daumen zum Lift und sagten: „Das kostet!“
Für uns war damit Abpfiff. Ich sehe noch das Gesicht des Amerikaners vor mir, der nicht verstehen konnte, wie wir mit uns umspringen ließen. Uns hat das auch genervt, aber wir mussten uns das gefallen lassen. Als wir aufstanden, flüsterte der Amerikaner Jürgen etwas zu und zeigte uns den Schlüssel mit der Zimmernummer. Es war ein bisschen wie in einem Hollywoodfilm. Wir hatten also eine nächtliche Verabredung, eine streng geheime. Was mich vor eine gewisse Herausforderung stellte. Denn ich teilte mir mit Lutz Eigendorf das Zimmer. Er war Spieler des Stasiklubs BFC Dynamo Berlin. Ein paar Jahre später würde er als Republikflüchtling von der Stasi ermordet werden. Das konnte ich in diesem Moment aber nicht im Geringsten ahnen. Vielmehr war klar, dass ich gerade ihm, dem Spieler des Vereins von Erich Mielke, nichts von der heimlichen Verabredung erzählen konnte. Also sagte ich Lutz, ich würde noch einmal zu Jürgen ins Zimmer gehen. Das war so weit unverdächtig, und auch die Gefahr, dass Lutz mitkommen wollte, bestand nicht. Denn er war ein Einzelgänger.
Als wir um eine Stunde nach Mitternacht zur verabredeten Zeit vor dem Zimmer des Amerikaners standen und vorsichtig klopften, machte er uns sofort auf. Er hatte auf uns gewartet. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whiskey. Ich erinnere mich, dass das Fenster seines riesigen Zimmers, vermutlich eine Suite, geöffnet war und die Gardinen sich leise im Wind bewegten. Und an die Flasche mit den bauchigen Gläsern auf dem Tisch erinnere ich mich auch. Einen Whiskey hatte ich bis dahin noch nie getrunken. Die ersten Schlucke vor einer Reise, mit der ich mein altes – noch junges – Leben hinter mir ließ. Ohne zu wissen, was mich erwarten würde.
Der Traum von der Bundesliga
Ein paar Monate zuvor in Halle an der Saale: Am oberen Boulevard befand sich damals einer meiner Lieblingsorte. Das Casino war eine Mischung aus Vereinskneipe und Verwaltungsgebäude. Unten die Gastwirtschaft, oben Büroräume und Wohnungen für Spieler. Hier, mitten in der Stadt zwischen Hauptbahnhof und Marktplatz, schlug damals das Herz des Halleschen FC Chemie. Getäfelte Wände, vergilbte Gardinen. Urgemütlich. Hier tranken unter der Woche Spieler und Fans an einem Tisch ihr Feierabendbier. In den 1970ern war das ein Wohlfühlort, denn zumindest dem Klub ging es gut. Ich war im Sommer 1971 gerade nach Halle gewechselt und spielte dort in der Jugend. Als Aufsteiger hatte sich der HFC als Oberliga-Dritter zum zweiten Mal für den Europapokal qualifiziert. In der ersten Runde des UEFA-Pokals schaffte Klaus Urbanczyk mit seinem Team ein 0:0 gegen den PSV Eindhoven. Vor dem Rückspiel ereignete sich dann die wahrscheinlich größte Katastrophe des DDR-Fußballs: Im Hotel in Eindhoven brach in der Nacht vor dem Rückspiel ein Brand aus. Beim Versuch, Mitspieler und andere Hotelgäste zu retten, zogen sich einige HFC-Spieler zum Teil schwere Verletzungen zu. Den Nachwuchsspieler Wolfgang Hoffmann haben sie nicht herausholen können, er kam nie aus Eindhoven zurück.
Als Nachwuchsspieler beim Oberligisten Hallescher FC Chemie ging es uns gut. Ziemlich gut. Und das war mir bewusst – mir war klar, dass ich ein privilegiertes Leben führe. Ich habe an der Kinder- und Jugendsportschule nach der zehnten Klasse den Abschluss gemacht und danach eine Lehre begonnen. In der Schule war ich nicht schlecht, trotz der häufigen Ausfälle wegen Trainingslagern und Junioren-Länderspielen. Das Leistungssportsystem der DDR bot hier einige Freiheiten, die ich alle genutzt habe. Und so habe ich nicht mehr gemacht als nötig. Im Englischunterricht war ich beispielsweise ein selten gesehener Gast. Oder, um ganz ehrlich zu sein: Englisch hieß für mich Freistunde. Ich war fast nie da. Wozu sollte ich Englisch einmal brauchen? Eine Antwort hatten die Verantwortlichen in der Kinder- und Jugendsportschule und im Verein darauf auch nicht. Also „easy going“, wie ich heute sagen würde.
Als ich den Schulabschluss in der Tasche hatte und die Lehre als Maschinen- und Anlagenmonteur begann, wurden die Freiheiten noch ein wenig größer. In der DDR hatte jeder Fußballer noch einen offiziellen Beruf. Aber richtig gearbeitet haben die allerwenigsten. Meist wurde die ohnehin geringe Arbeitszeit im Pausenraum mit Kaffee oder in der Chefetage des jeweiligen Kombinats verbracht. Das war nichts anderes als eine Art verschleierter Profifußball. Denn vom Halleschen FC Chemie bekam ich offiziell kein Gehalt, mein Grundeinkommen zahlte der Betrieb. Ob ich da an der Werkbank stand und in der Berufsschule saß oder nicht. Hinzu kamen Prämien für die Oberliga-Einsätze. Und dann bekamen alle Juniorennationalspieler noch regelmäßig Besuch vom „Berliner“ – zumindest haben wir den so genannt. Das war ein Parteifunktionär der SED, der uns regelmäßig besuchte und jedem Auswahlspieler ein Kuvert mit Bargeld in die Hand drückte. Bei mir waren da immer so 200 bis 250 Mark drin. Das war im Osten...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Autobiografie Fußballspieler • Autobiographie • Biographie Fußballer • BRD • Bundesliga • DDR • DDR-Flucht • deutsch-deutsche Grenze • Deutsche-Einheit • Deutscher Meister • DFB • Eintracht Frankfurt • exklusive Einblicke • FC Bayern München • Fußball-Buch • Fussball-Fan • Fußball-spieler • Fußball-Trainer • Geschenk-buch Männer • Mauerfall • Norbart Nachtwei • Norbert Nachtweih • Sport-Biografie |
ISBN-10 | 3-98588-090-5 / 3985880905 |
ISBN-13 | 978-3-98588-090-4 / 9783985880904 |
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