Der Beitrag von Bürgerschaftlichem Engagement zur Daseinsvorsorge im Hilfe-Mix (eBook)
298 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8712-3 (ISBN)
Björn Helling ist Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Sozialpädagoge (M.A.). Neben seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TH Nürnberg promovierte er von 2021 bis 2024 er an der FAU Erlangen-Nürnberg im Fach Soziologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Bürgerschaftliches Engagement, Daseinsvorsorge, Hilfe-Mix und alltagsnahe Unterstützungstrukturen.
2Kontextualisierung: Gestaltung von Daseinsvorsorge im Hilfe-Mix
Die aufgeworfenen Forschungsfragen sind einerseits stark praxisorientiert (siehe Kapitel 3). Gleichzeitig sind sie an mehrere wissenschaftliche Diskurse anschlussfähig (Hartnuß 2023). Eine Auswahl an drei zentralen Diskursen wird nachfolgend aufgeführt. Dazu wird unter Kapitel 2.1 der theoretisch-konzeptionelle Kontext vorgestellt. In Kapitel 2.2 findet eine Auseinandersetzung mit dem Versorgungsverständnis des Wohlfahrtspluralismus statt. Unter Kapitel 2.3 erfolgt eine theoretische Verbindung des Wohlfahrtsmix mit sozialplanerischen Konzepten.
2.1Theoretisch-konzeptioneller Kontext
Die Bearbeitung der Forschungsfragen erfordert zunächst eine Skizzierung des theoretischen Hintergrunds zur Ausgestaltung von Sorge bzw. Unterstützung im Kontext der modernen Gesellschaft. Dazu werden im ersten Unterkapitel 2.1.1 die Formen des Helfens moderner Gesellschaftstypen im Kontrast zu anderen Gesellschaftstypen aufgezeigt. Daran anschließend werden in Kapitel 2.1.2 die Begriffe der sozialen Kohäsion und des sozialen Kapitals vorgestellt, die für ein Verständnis innergesellschaftlicher Unterstützungsarrangements bedeutsam sind. Im dritten Unterkapitel 2.1.3 wird die Relevanz der Organisationsebene für die konkrete Ausgestaltung von (künftigen) Engagementsettings dargelegt.
2.1.1Alltagsunterstützung in der spätmodernen Gesellschaft
Nach Luhmann ist Hilfe bzw. Unterstützung als sozial konstruiertes Phänomen zu verstehen (Luhmann 2005, S. 167–186). Im systemtheoretischen Verständnis von Luhmann stehen den Hilfeleistungen stets Erwartungen einer Wechselseitigkeit bzw. Gegenseitigkeit gegenüber (z. B. Prestigezuweisung, Erwiderung von Hilfe, Arbeitsleistung). Damit ist das Ausüben bzw. das Arrangement von Hilfe auch immer im Kontext der unterschiedlichen Formen von Kultur und Gesellschaft zu sehen (Gesellschaftssysteme). Im historischen Rückblick können drei Gesellschaftstypen mit ihren jeweiligen Formen des Hilfehandelns unterschieden werden (Luhmann 2005, S. 167–186; Lambers 2018):
Archaische Gesellschaft — Reziprokes und wechselseitiges Helfen
Als archaisch werden einfache und relativ autarke Gesellschaftsformen der Frühzeit aufgefasst. Gesellschaft bedeutet hier eine relativ überschaubare Gemeinschaft, z. B. innerhalb eines Dorfes oder Stammes (Lambers 2018, S. 28f.). Für den Einzelnen sind gegenseitige Unterstützungen in archaischen Gesellschaften unerlässlich und von existentieller Bedeutung. Diese werden in der Regel wechselseitig, in zeitlicher Nähe und innerhalb kleiner Gemeinschaften erbracht. Hilfe wird für archaische Gesellschaften als reziproker Bedarfsausgleich beschrieben, denn Hilfe und Gegenhilfe bzw. Dank liegen nah beieinander. Luhmann spricht hier von einer „Dehnbarkeit der Dankbarkeit“ (Luhmann 2005, S. 170).
Hochkultivierte Gesellschaft — Moralisch und religiös begründetes Helfen
Mit zunehmender Größe und Komplexität werden archaische von den hochkultivierten Gesellschaftsformen abgelöst, z. B. Gesellschaftsformationen ab dem Mittelalter. Es entwickeln sich stärkere gesellschaftliche Klassen, Ordnungen und Machtverhältnisse. Aus kleinen Gemeinschaften bilden sich größere Dörfer und Städte. Auf unmittelbar gegenseitige Hilfen innerhalb einer überschaubaren Gemeinschaft angewiesen zu sein, ist zunehmend unwahrscheinlich (Unterbrechung unmittelbarer Reziprozität). Durch den Rückgang von unverzüglichen gegenseitigen Hilfen, entgrenzen sich Hilfe bzw. Hilfeverpflichtungen von deren Erwiderung. Die Notwendigkeit und Motivation gegenseitiger Hilfe geht verloren. In den hochkultivierten Gesellschaftsformen sind Menschen dahingehend von unmittelbar gegenseitiger Hilfe entpflichtet. Weiterhin zeichnen sich hochkultivierte Gesellschaften durch arbeitsteilige Produktionsformen und funktionale Differenzierung aus. Waren werden nicht mehr zur Selbstversorgung produziert, sondern zunehmend gehandelt. Auch Hilfe wird in gewisser Weise mittels sogenannter Konsensualverträge gehandelt, also einer Art freien Absprache, z. B. zum Tausch von Hilfe gegen Geld oder Seelenheil. Auf dieser Basis wird Hilfe neu definiert, begrenzt und begründet. Gesellschaftlich wird Hilfe als Tugend sowie moralische und religiöse Pflicht stilisiert. Unterstützung stellt dahingehend ein öffentliches Statussymbol dar, wird zur Standespflicht sowie zur familiären Verantwortung (Luhmann 2005, S. 167–186).
Moderne Gesellschaft — Organisiertes Helfen nach definierten Kriterien
Spätestens mit der Industrialisierung bildeten sich Formen der modernen Gesellschaft heraus. Aus heutiger Sicht können vier Phasen der Moderne unterschieden werden: die Frühmoderne, die Industriemoderne, die Postmoderne und die Post-Postmoderne. Als bedeutsamen Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungsprozesse stellt Keupp die „Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise“ dar (Keupp 1987, S. 36). Funktionale Differenzierungen innerhalb der Arbeitswelt und Gesellschaft erreichen hier ein hohes Maß, nicht zuletzt durch die Verbreitung von Technik sowie die Entstehung von spezialisierten Arbeitsfeldern. Existenzen und Lebensverläufe werden durch die Kopplung an die Lohnarbeit geprägt und aus sozialen Zusammenhängen gerissen. Die Lebensstile der Moderne charakterisieren sich als deutlich unverbindlicher, freier aber auch konkurrierender. Der Wert des Helfens drückt sich zunehmend in konkret festgelegten Geldwerten bzw. Gebühren aus. Dementsprechend können Hilfeleistungen in der Moderne bei Bedarf zugekauft werden. Die unbezahlten Formen traditioneller Hilfen werden dahingehend auch als „Ausbeutung der Mildtätigen“ interpretiert (Luhmann 2005, S. 173). Entsprechend wird die Gabe von Hilfen innerhalb der modernen Gesellschaft auf eine neue Grundlage gestellt. Bestimmte Hilfebedarfe werden gesellschaftlich definiert und mit passenden Versorgungsangeboten hinterlegt. Somit sind Versorgungsleistungen an konkrete vertragliche und gesetzliche Grundlagen gebunden. Die jeweiligen Leistungen werden zunehmend beruflich professionalisiert erbracht. Für den Einzelnen sind diese Leistungen erwartbar und verbindlich gegeben. Es bilden sich wohlfahrtstaatliche Strukturen heraus. Dank der Absicherungen können Entfaltungsspielräume für die Einzelnen geschaffen und vergrößert werden. Gesellschaftlich wirken die institutionalisierten Hilfen stabilisierend (Funktional-Strukturelle Hilfe). Während bestimmte Hilfe-Formen in der Moderne institutionalisiert sind, gilt dies bis dato nicht (bzw. kaum) für den Bereich alltagsunterstützender Leistungen. Vor dem Hintergrund, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, in soziale Netzwerke eingebunden zu sein (z. B. Dorfgemeinschaften oder familiale Strukturen), bleibt es bislang Aufgabe des Einzelnen, sich auf individueller Ebene eine Unterstützungsstruktur zu schaffen, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann (Luhmann 2005, S. 167–186).
Anzumerken ist, dass traditionelle Hilfeformen, die vorrangig den archaischen und hochkultivierten Gesellschaften zugeschrieben werden, auch in der Moderne nicht gänzlich verschwunden sind und in Teilen weiterhin Bestand haben. Ein weiterer relevanter Aspekt ist, dass es in der Entwicklung zur Moderne immer wieder zu „Individualisierungsschüben“ innerhalb der Gesellschaft gekommen ist, welche die Ausgestaltung von Unterstützung prägen (Eurich 2020, S. 210). Solche Prozesse gesellschaftlicher Individualisierung sowie deren Auswirkungen auf soziale Beziehungen werden auch in der Soziologie thematisiert (Treibel 2006, S. 245ff.). Insbesondere Becks Individualisierungstheorie wurde dazu breit rezipiert, aber auch kontrovers diskutiert (Beck & Beck-Gernsheim 1994). Auch in der aktuellen Soziologie finden sich gesellschaftstheoretische Beiträge in Anschluss an die Thesen zur Individualisierung, u. a. im Werk „Spätmoderne in...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8712-0 / 3779987120 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8712-3 / 9783779987123 |
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