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Digitalität und Ambiguität -

Digitalität und Ambiguität (eBook)

Organisationskulturen der Sozialen Arbeit unter Druck
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
196 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8013-1 (ISBN)
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Auf der Suche nach Anschluss an die mit der Digitalisierung verknüpften Chancen werden in den Wohlfahrtsverbänden und in sozialarbeiterischen Einrichtungen Digitalisierungsinitiativen vorangetrieben und mit finanziell und personell knappen Ressourcen umgesetzt. Der Band nimmt die damit verbundenen strukturellen und kulturellen Veränderungen sowie soziotechnische und psychosoziale Neuerungen in den Blick und analysiert die Dynamiken und Ambivalenzen organisationaler Digitalisierungsprozesse im Sozialen Sektor. Dazu werden verschiedene Konzeptionen von Ambiguität, Spannung und Widerspruch herangezogen und in Hinblick auf ihre jeweilige Erklärungsreichweite diskutiert.

Alexander Degel ist seit 2018 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Mikrosoziologie an der HSU. Zuvor studierte er Psychologie und Philosophie (NF) an der an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Universität Zürich. Seit 2016 ist er in Ausbildung zum Psychoanalytiker und Gruppenpsychotherapeut sowie seit 2017 promoviert er zum Thema Unternehmensberatung. Seit 2021 ist er im Drittmittelprojekt DigiTrans (Digitalisierung der psychosozialen Beratung im Feld der Familien- und Lebenshilfe) tätig. Katharina Liebsch ist seit 2010 Professorin für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Mikrosoziologie an der HSU. Zuvor war sie Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main (2004-2010) tätig und als Professorin für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten (2001-2004).

Neue Kontrolldynamiken im digitalen Mikro-Dispositiv.


Kontrollverluste und labile Rahmungen im Kontext digitalisierter Sozialberatung

Eric Sons1

„Der Glaube an die Welt, ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heißt zum Beispiel, Ereignisse hervorrufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt bringen […]. Bei jedem Versuch entscheidet sich die Frage von Widerstand oder Unterwerfung unter eine Kontrolle neu“ (Deleuze 1990, S. 253).

Das sich formierende Dispositiv der Digitalität (Unger 2021, S. 51; Wimmer 2013) und die sich seit Jahrzehnten global ausbreitende „Digital-Macht“ haben spätestens seit der Corona-Krise auch Organisationen der Sozialen Arbeit erreicht und stellen diese vor vielfältige neue Herausforderungen. Der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass sich neue Machtformationen und Wissensordnungen wie Dispositive häufig als Antworten auf einen besonderen gesellschaftlichen Notstand herausbilden (Foucault 1994, S. 392). Aus dieser Sicht überrascht es wenig, dass die Digitalisierung (der Schule, der Sozialen Arbeit, der Wirtschaft etc.) seitens der politischen Klasse und vieler gesellschaftlicher Akteur*innen wie Führungskräften als adäquate Antwort auf die epidemische Notlage Corona betrachtet wurde (Wunder 2021, S. 10 ff.). Dabei wird in der öffentlichen und politischen Debatte um die Digitalisierung in Deutschland häufig eine technizistisch-ökonomisch verengte Rückstands- und Defizitperspektive eingenommen: Organisationen der Sozialen Arbeit wird nahegelegt, sich selbst sowie ihre Klient*innen so rasch wie möglich fit für die Digitalisierung und den globalen Wettbewerb zu machen (Unger 2021, S. 52 ff.). Dabei aber, so lautet die Ausgangsthese meines Beitrags, bilden sich im Kontext der Digitalisierung von Organisationen der Sozialen Arbeit neue transformative Kontrolldynamiken heraus. Diese werden seitens der sozialpädagogischen Fachkräfte als Kontrollverlust erlebt und sind bis jetzt zu wenig in den wissenschaftlichen Fokus geraten. Deshalb soll hier der Blick auf die Dynamisierung unterschiedlicher Dimensionen und Aspekte von Kontrolle gerichtet werden, die sich innerhalb konkreter digitalisierter bzw. digitaler Beratungspraktiken der Sozialen Arbeit zeigen. Um diese Dynamisierung von Kontrolle zu erfassen, werden die relationalen Rollen der zentralen Elemente Körper, Orte, digitale Objekte und Zeitlichkeit im Kontext digitaler Beratungspraktiken bzw. digitaler Mikro-Dispositive2 analysiert und theoriegeleitet konzeptualisiert.

Zum Thema Kontrolle finden sich in den Sozialarbeitswissenschaften, ähnlich wie in arbeitssoziologischen Untersuchungen (zur Übersicht: Nies 2021), vereinzelte Bezüge und analytische Perspektiven (z. B. Anhorn/Balzereit 2016; Lehner 2020; Lutz 2010). In der Sozialen Arbeit wurde der Kontrollbegriff vorrangig im Kontext der Thematisierung des doppelten Mandats bzw. des Trippelmandats eingeführt (Staub-Bernasconi 2012; Urban 2004). Hier werden auf der Meso-Ebene Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Mandatierungen, nämlich der staatlichen Kontrollfunktion, der Professionsethik der sozialpädagogischen Fachkräfte und der falladäquaten Hilfeleistungen für die Klient*innen beschrieben, die es seitens der sozialpädagogischen Fachkräfte auszuhalten und ggf. auszubalancieren gilt. Thieme (2017, S. 22) weist darauf hin, dass der sozialpädagogische Kontrolldiskurs praxeologisch und normativ auf politische Professionsfragen verengt wurde und bis heute kaum datenverankerte Theoretisierungen von für die Sozialarbeitsforschung bedeutsamen Kontrolldynamiken vorliegen. Ziel meines Beitrags ist es daher, diese mandatstheoretische und professionsethische Verengung des Kontrollthemas durch eine grundlagentheoretisch-reflexive und empirisch-datenverankerte Untersuchung zu erweitern und zur Entwicklung neuer analytischer Perspektiven auf das aktuelle Thema der digitalen Transformation der Sozialen Arbeit und dessen Organisationen beizutragen.3 Dafür greife ich auf ausgewählte poststrukturalistische Arbeiten4 und Konzepte von Michel Foucault und Gilles Deleuze zurück. Diese stellen bis heute originelle und radikale gedankliche Provokationen dar, mit denen ein machtkritisches und kontrolltheoretisch informiertes Verständnis von Praktiken der sich in der digitalen Transformation befindlichen Organisationen der Sozialen Arbeit entwickelt und vorgeschlagen werden soll.5 Mit einem solchen Blick können empirische Veränderungen, die Organisationen der Sozialen Arbeit bei ihrer Digitalisierung praktisch durchlaufen, begrifflich-analytisch erfasst, ggf. verschoben sowie weiterführende Konzepte und Forschungsfragen ausgearbeitet werden. Dies soll zugleich eine theoriegeleitete Reflexion ausgewählter Ambivalenzen, Ambiguitäten und praxeologisch-empirisch relevanter Spannungsverhältnisse leisten, die im Kontext der Digitalisierungen von Beratungspraktiken in der Sozialen Arbeit auftreten.6 Methodologisch ist der Beitrag von der Idee inspiriert, die Foucault in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge“ (Foucault 1974, S. 10) entworfen hat, nämlich weit entfernte Elemente, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang aufweisen, aus Analysegründen gedankenexperimentell zusammenzuführen. Zu diesem Zwecke werden hier konkrete digitale Beratungspraktiken mit abstrakten, vom französischen Poststrukturalismus entwickelte Theorien bzw. Konzepte von Kontrolle, Macht und Disziplinierung in einen gedanklichen Zusammenhang gebracht.

Das Thema der sich in Organisationen der Sozialen Arbeit durch die Digitalisierung verändernden Kontrolldynamiken wird in vier Schritten theoretisch, inhaltlich und konzeptionell entfaltet: Zunächst soll in einem ersten Schritt mit Bezug zu Michel Foucaults Arbeiten zur Disziplinierung bzw. Disziplinargesellschaft (Kapitel 1.1) und Gilles Deleuzes essayistischer und visionärer Skizze zur Kontrollgesellschaft (Kapitel 1.2) eine gesellschaftstheoretische Grundlegung zur Rahmung von Beobachtungen zur Digitalisierung der Beratung in der Sozialen Arbeit erarbeitet werden. Daran anknüpfend werden Anknüpfungspunkte und konzeptionelle Bezüge zur sozialpädagogischen Beratungspraxis dargelegt (Kapitel 1.3).7

In einem zweiten Schritt werden die in digitalen Mikroprozessen vorfindlichen Macht- und Wissensprozesse thematisiert (Kapitel 2) und das theoretische Konzept des Mikro-Dispositivs hergeleitet und erläutert (Kapitel 2.1).

Das Konzept des Mikro-Dispositiv wird im dritten Schritt durch konkrete Auswertungsarbeit von empirischem Material angewandt und erprobt. Dazu werden Passagen bzw. Zitate aus Expert*inneninterviews mit Geschäftsführer*innen eines bundesweit agierenden Sozialverbands durch Theorie geleitete Deutungen analytisch aufgeschlüsselt (Kapitel 3).8 Zunächst wird die Arbeitsweise der textbasierten digitalen Beratung betrachtet und die hier vorfindliche Spannung zwischen Stabilisierung, zeitlichen Verzögerungen sowie kommunikativen Abbrüchen herausgearbeitet (Kapitel 3.1). Daran anknüpfend zeige ich, dass digitale Beratungssettings durch lose Relationierungen und einen asymmetrischen Möglichkeitsraum gekennzeichnet sind (Kapitel 3.2). Wie labile Rahmungen von digitalisierter Beratung unterschiedliche Erfahrungen des Kontrollverlustes auf Seiten der sozialpädagogischen Fach- und Führungskräfte evozieren, wird im nächsten Schritt dargelegt (Kapitel 3.3), um dann die spezielle Zeitlichkeit und neue Körper/Objekt-Synthesen als zentrale Faktoren der instabilen Dynamik digitaler Beratungsgefüge zu veranschaulichen (Kapitel 3.4). Abschließend werden die erarbeiteten Ergebnisse zusammengefasst und mit Bezug zu den Spezifika des Sozialen Sektors und dessen übergreifenden Digitalisierungsdynamiken diskutiert sowie daraus resultierende Forschungsdesiderate und Forschungsfragen identifiziert (Kapitel 4).

1.Disziplinargesellschaft und spätmoderne Kontrolle


...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8013-4 / 3779980134
ISBN-13 978-3-7799-8013-1 / 9783779980131
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