Teilhabe leben mit intellektueller Beeinträchtigung (eBook)
230 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041876-9 (ISBN)
Dr. Melanie Knaup ist Regierungsrätin in der Hessischen Lehrkräfteakademie. Dr. Heiko Schuck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung, an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dr. Reinhilde Stöppler ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung
Dr. Melanie Knaup ist Regierungsrätin in der Hessischen Lehrkräfteakademie. Dr. Heiko Schuck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung, an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dr. Reinhilde Stöppler ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung
1 Einleitung
»Warum noch ein Buch zur Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung? Dazu ist doch schon so viel publiziert und gesagt worden.« Diese und ähnliche Gedanken mögen aufkommen beim Betrachten des Buchdeckels. Und ja, es passiert was im Bereich der Teilhabe in gesellschaftliche Lebensbereiche von marginalisierten Menschen. Es hat sich ein Aktionsbündnis Teilhabeforschung e.V. gegründet (https://www.teilhabeforschung.org/startseite), mit hoch dekorierten Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Teilhabebereichen. Die Bundesregierung hat mittlerweile den dritten Teilhabebericht veröffentlicht, der aufzeigt, welche Fortschritte bereits erzielt werden konnten. Er zeigt jedoch auch eindrucksvoll auf, welche Defizite im Bereich der umfänglichen Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen noch bestehen und für die es seit Jahren keine wirklichen Lösungsansätze zu geben scheint. Insbesondere die Teilhabechancen der Gruppe der Menschen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung werden durch vielfältige Aspekte beeinflusst. Hinzu kommt die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Situation in Deutschland: ein Finanzloch, das durch Einsparungen gestopft werden muss, eine scheinbar größer werdende Akzeptanz gegenüber Rechtspopulismus und den damit verbundenen menschenverachtenden Ansichten gegenüber Minderheiten. Die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit (intellektueller) Beeinträchtigung wird von politischen Akteur*innen offen diffamiert und in Frage gestellt. Dagegen gilt es einmal mehr aufzubegehren, weswegen gar nicht oft genug davon gesprochen werden kann mit der Hoffnung, dass daraus konkretes Handeln entsteht.
Zum Verständnis der Teilhabe
Die Gesellschaft und sozialpolitische Ansprüche spielen zur Umsetzung von Teilhabe eine entscheidende Rolle. Der Begriff Teilhabe ist in der Sozialpolitik – insbesondere in Bezug auf Beeinträchtigungen – zu einem zentralen Leitbegriff geworden, der darauf abzielt, allen Menschen Zugang zu gesellschaftlichen Lebensbereichen und Handlungsfeldern zu ermöglichen. In diesem Sinne ist es gesellschaftlicher und politischer Auftrag, Menschen in benachteiligten Lebenslagen dieses Recht zu wahren und sie zu sozialen und lebensweltlich bedeutsamen Aktivitäten zu befähigen.
»Teilhabe ist etwas, was der einzelne Mensch erfährt und erlebt. Die jeweiligen Lebensumstände und ihr Wandel im Lebensverlauf prägen die Bewertung dessen, was Gleichheit in der Teilhabe für den Einzelnen ausmacht. Der einzelne Mensch erlebt und beurteilt die Zustände in der Gesellschaft aus seinem eigenen Blickwinkel heraus« (BMAS 2016, S. 1).
Die Bedeutung der Gesellschaft führt auch Bartelheimer (2007) an, wenn er sagt, dass mit dem Begriff der Teilhabe zwei Fragen verhandelt werden: »Wie wird gesellschaftliche Zugehörigkeit hergestellt und erfahren, und wie viel Ungleichheit akzeptiert die Gesellschaft?« (ebd., S. 8). Um sich mit diesen Fragen beschäftigen zu können, ist eine begriffliche Konkretisierung von Teilhabe, wie folgend vorgeschlagen, notwendig:
- 1.
Teilhabe beschreibt ein Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen Bedingungen: Sie ist zu verstehen als »eine positiv bewertete Form der Beteiligung an einem sozialen Geschehen bzw. eine positive Norm gesellschaftlicher Zugehörigkeit« (Bartelheimer et al. 2020, S. 43). In Anlehnung an die Sozialgeschichte von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung bedeutet die Anforderung hinsichtlich einer historischen Relativität von Teilhabe, dass Teilhabe an den jeweils geltenden Sichtweisen einer gegebenen Gesellschaft zu messen ist und diese in Wechselbeziehung zu persönlichen Faktoren steht.
- 2.
Teilhabe nimmt eine subjektorientierte Perspektive ein: »Das Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen Bedingungen wird (...) aus der Perspektive des Individuums erfasst. Gesellschaftliche Bedingungen, Strukturen der Umwelt, sozialstaatliche Leistungen etc. werden danach beurteilt, welche Möglichkeiten sie dem Individuum in seiner Lebensführung eröffnen« (ebd., S. 44). In (vergangenen) Zeiten einer gesellschaftlich akzeptierten defizitorientierten Sichtweise auf Beeinträchtigung waren fehlende Initiativen und Maßnahmen, Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, nicht zu erwarten, da sie nicht der vorherrschenden und akzeptierten Sicht der jeweiligen Gesellschaft zu dieser Zeit entsprachen.
- 3.
Teilhabe zielt auf Möglichkeiten der Lebensführung: »Nicht jede Funktion der Lebensführung verlangt ein hohes Maß an Aktivität, aber Teilhabe setzt stets ein (selbstbestimmt) handelndes Subjekt voraus; sie kann weder durch stellvertretendes Handeln anderer noch durch fremdbestimmt vorgegebenes Handeln erreicht werden« (ebd., S. 44). Dazu ist eine wohlwollende Zurückhaltung von Betreuungspersonen von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung nötig und eine Fremdeinschätzung einer angemessenen aktiven Teilhabe zu vermeiden. Das darf jedoch nicht bedeuten, dass dem Personenkreis Unterstützungsleistung und Assistenz entsagt wird.
- 4.
Teilhabe impliziert Wahlmöglichkeiten: »Die enge Verbindung von Teilhabe und Selbstbestimmung ist mit Blick auf das Individuum mit der handlungsleitenden Vorstellung von Mündigkeit, Emanzipation und Selbstbestimmungsfähigkeit verknüpft« (ebd., S. 45). Insbesondere Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sollten in die Lage versetzt werden, zwischen Alternativen auswählen zu können. Überforderungstendenzen durch zu hohe Erwartungen hinsichtlich der Selbstverantwortung müssen dabei jedoch vermieden werden.
- 5.
Teilhabe ist mehrdimensional: »Es gibt keinen zentralen gesellschaftlichen Ort, an dem über Teilhabe allumfassend entschieden wird, sondern vielfältige, ausdifferenzierte Lebensbereiche mit je unterschiedlichen Teilhabebedingungen und Funktionen für die Lebensführung eines Menschen« (ebd., S. 45). Um die Teilhabe von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung an der Gesellschaft bewerten zu können, muss davon ausgegangen werden, dass sich Teilhabe erst durch das Zusammenwirken verschiedener Teilhabeformen ergibt. Dies können beispielsweise die Teilhabe am System über Erwerbsarbeit sein, die Teilhabe durch soziale Beziehungen, die zugesagte Teilhabe durch Rechtsgrundlagen sowie die kulturelle Teilhabe durch den Erwerb von Kompetenzen und damit einhergehende geteilte gesellschaftliche Wertorientierungen.
- 6.
Möglichkeitsräume der Teilhabe als Währung sozialer Gerechtigkeit: »Alle sollen die Möglichkeit haben, sich für Optionen der Lebensführung, für Handlungspraktiken zur Verfolgung von Interessen zu entscheiden«. (...) Dabei »findet Verschiedenheit von Menschen Anerkennung; unterschiedliche persönliche Charakteristika, Präferenzen und Lebensentwürfe werden als gleichwertig angesehen« (ebd., S. 46). Durch Abhängigkeitsverhältnisse oder institutionell geprägte Lebensformen, wie sie im Kontext einer intellektuellen Beeinträchtigung häufig vorkommen und nicht gänzlich zu vermeiden sind, dürfen subjektive Bedürfnislagen und individuelle Heterogenität nicht verloren gehen oder unberücksichtigt bleiben.
- 7.
Teilhabe markiert einen zu schützenden Spielraum der Lebensführung: »Teilhabe und Nicht-Teilhabe als einfachen Gegensatz (Dichotomie) zu verstehen, wird der tatsächlichen Differenzierung individueller Lebenssituationen und -chancen nicht gerecht. Teilhabe im Sinne von Verfügungsräumen impliziert unterschiedliche Ausprägungen, die im konkreten Verwendungszusammenhang einer genaueren Bestimmung und Vermessung bedürfen« (ebd., S. 47). Wird die Teilhabe eines Menschen an der Gesellschaft bewertet, darf nicht nur eine statische Momentaufnahme geltend gemacht werden. Individuumszentrierte und bedürfnisgerechte Teilhabe setzt die Berücksichtigung biografischer Muster oder ggf. der gesamte Lebenslauf eines Menschen mit Beeinträchtigung voraus.
Es wird deutlich, dass gesellschaftliche Teilhabe durch vielfältige intra- und interpersonelle Faktoren auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen beeinflusst wird, dem sozialpolitisch Rechnung zu tragen ist. Durch den Nationalen Aktionsplan in Deutschland implementiert, ist die zentrale rechtliche Begründungslinie für die Teilhabe an gesellschaftlichen Lebensbereichen von Menschen mit Beeinträchtigung u. a. die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Wichtigster Grundsatz ist die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« (Artikel 3c). Die UN-BRK ist dementsprechend entscheidende Grundlage, die in allen Beiträgen dieses Buches zum Tragen kommt. Grundlegende Voraussetzung ist, die Anerkennung des Rechts »aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und (...) den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft« zu gewährleisten...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Barrierefreiheit • Mobilität • Teilhabe |
ISBN-10 | 3-17-041876-9 / 3170418769 |
ISBN-13 | 978-3-17-041876-9 / 9783170418769 |
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