Der Wiener Spionagezirkel (eBook)
232 Seiten
Promedia Verlag
978-3-85371-922-0 (ISBN)
Der Autor Thomas Riegler, Jahrgang 1977, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an den Universitäten Wien und Edinburgh. Seit 2016 Affiliate Researcher am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem: 'Österreichs geheime Dienste. Eine neue Geschichte' (Wien 2022).
Der Autor Thomas Riegler, Jahrgang 1977, studierte Geschichte und Politikwissenschaften an den Universitäten Wien und Edinburgh. Seit 2016 Affiliate Researcher am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem: "Österreichs geheime Dienste. Eine neue Geschichte" (Wien 2022).
Die »Bolschewikenzentrale«: Wien als Zentrum sowjetischer Spionage
Österreich gilt bis heute als Spielwiese internationaler Geheim- und Nachrichtendienste. Bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verzeichnete man eine intensive Tätigkeit verschiedener Agenten aus aller Herren Länder. Wien löste damals Paris als Hauptstadt der Spionage ab. Diese richtete sich wie auch in den darauffolgenden Jahrzehnten überwiegend nicht gegen Österreich. Interessant war das Land wegen seiner zentralen geografischen Lage als Drehkreuz und Knotenpunkt für Spione, die sich zwischen der Tschechoslowakei, Ungarn, Deutschland und der Sowjetunion hin- und herbewegten.41
Rein politisch und wirtschaftlich war das hohe Spionageaufkommen jedenfalls nicht zu erklären: Österreich, noch bis 1933 eine Demokratie, war weder militärisch noch wirtschaftlich von Belang. Aber es gab eine Reihe von Faktoren, die Spionage begünstigten: Einer war das liberale Niederlassungsrecht.42 Außerdem stellte Spionage in den 1920er- und 1930er-Jahren nur dann ein Vergehen dar, wenn es um Aktivitäten ging, die gegen Österreich gerichtet waren. In solchen Fällen wurde wegen »Geheimbündelei« Anklage erhoben. Im Falle eines Schuldspruchs drohten Inländern eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Bei Ausländern bewegte sich der Strafrahmen zwischen einem Monat und bis zu einem halben Jahr.43
Überdies war die Spionageabwehr schwach ausgeprägt: Die seit 1920 bestehende Zentrale Evidenzstelle (ZEST) der Bundespolizeidirektion Wien war ein Informationszentrum und kein operatives Amt. Die Aufgabe der ZEST lautete: »Sammlung aller politisch hervortretenden Personen und Bewegungen ohne Rücksicht auf ihre Wertung als staatsfeindlich oder staatsfreundlich.«44 Zentrale Bedeutung hatte dabei die Überwachung der heimischen kommunistischen Bewegung: Parteitage und öffentliche Kundgebungen wurden erfasst – ebenso wie die Tätigkeit österreichischer kommunistischer Funktionäre.45 Die ZEST wurde aber dem Anspruch ihres Initiators – des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober –, ein zentraler Nachrichtendienst zu werden, nicht gerecht. Dafür waren nie genug Finanzmittel vorhanden und andere Behörden widersetzten sich diesen Zentralisierungsbestrebungen. 1933 machte die Gründung eines staatspolizeilichen Evidenzbüros in der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit die ZEST praktisch obsolet.46
Im Österreich der Zwischenkriegszeit bestand auch kein ständiger militärischer Nachrichtendienst. Dieser war 1920 aufgelöst und 1924 sowie 1933 wieder ins Leben gerufen worden. Diese Struktur nahm aber keine Abwehrarbeit wahr, sondern beschränkte sich auf die Beobachtung der militärischen Lage im Grenzgebiet. Somit verfügten Kriminalbeamte des staatspolizeilichen Büros innerhalb der Wiener Polizeidirektion über die Oberhoheit im Hinblick auf die Spionageabwehr.47 Ab 1920 initiierte Schober einen Nachrichtenaustausch über kommunistische Aktivitäten mit mehreren Ländern. Diese »antikommunistische Interpol« hielt zahlreiche Konferenzen ab.48
Grundsätzlich aber waren die österreichischen Behörden laut dem Historiker Gerald Jagschitz bestrebt, »die internationale Agentenszene unbelästigt zu lassen und nur in jenen Fällen einzuschreiten, in welchen eine Verwicklung von österreichischen Staatsbürgern konstatiert wurde. So wurde etwa ein Österreicher verhaftet, der sich durch Bestechung von Beamten aus der Nachrichtengruppe des Landesbefehlshaberamtes (der späteren Heeresverwaltungsstelle Wien) streng vertrauliche militärische und politische Nachrichten beschaffte und sie sofort an die tschechoslowakische, polnische, englische, französische und rumänische Mission, zeitweise auch die ungarische Gesandtschaft weitergab. Diese Nachrichten betrafen nicht Österreich selbst, sondern jene Daten, die die Nachrichtenabteilung über fremde Staaten beschafft hatte.«49
Unter den vielen Akteuren, die in Wien operierten, stach einer besonders hervor. Schon Ende des 19. Jahrhunderts galt Wien als das bevorzugte Operationsgebiet der zaristischen Geheimdienste.50 Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg stiegen die Spionagefälle nochmals sprunghaft an. Speziell das Grenzgebiet Galizien entwickelte sich zum Hotspot. Die zaristischen Dienste Ochrana und der militärische Radweska hatten in der k. u.k-Armee zahlreiche Quellen. Der bekannteste Verratsfall war jener von Oberst Alfred Redl, der im Jahr 1913 platzte.51
Wien zog aber auch oppositionelle russische EmigrantInnen an. Diese bildeten eine der größten »Ausländerkolonien«. Ende 1911 hielten sich in Wien 5324 russische Staatsbürger auf, von denen laut Polizeidirektion lediglich 20 als politische Flüchtlinge galten.52 Im Neuen Wiener Journal wurde 1925 rückblickend zusammengefasst: »Es herrschte damals in Österreich die Gepflogenheit, politische ›Verbrecher‹ an Russland nicht auszuliefern. Da aber beinahe die gesamte russische Intelligenz, soweit sie im Ausland studiert hatte, zum politischen Verbrechertum zählte, wurde von dem stillschweigenden Asylrechte ausgiebiger Gebrauch gemacht.«53 Als die Spannungen zwischen Österreich und Russland zunahmen, wurde die »Russenkolonie« zum strategischen Asset. Den Auslieferungsansuchen zaristischer Gerichte wurde nur mehr stattgegeben, wenn es sich nicht um politische Delikte handelte.54
Einige der wichtigsten Kader der Bolschewiki ließen sich in Wien nieder: Alexander und Elena Trojanowski von 1911 bis 1914, Nikolai Bucharin von 1912 bis 1914, Stalin von Jänner bis Februar 1913 und Lenin im Dezember 1900, März 1901, Juni 1913 und für wenige Tage Ende August/Anfang September 1914. Am längsten wohnte die Führungsperson der russischen Sozialdemokratie, Leo Trotzki, in Wien, und zwar von Oktober 1907 bis August 1914.55 Auch die Prawda erschien ab 1909 von Wien aus.56 Mit der Übersiedlung Lenins von Paris nach Krakau 1912 wurde Wien überhaupt »zu einer der Schaltstellen im Verbindungsnetzwerk der Auslandsorganisation der Bolschewiki«, so der Historiker Paul Kustos. Das Ehepaar Trojanowski und deren Wohnung in der Schönbrunner Schlossstraße Nr. 30 war die erste Anlaufstelle für durch Wien kommende Kader.57 Sie alle hatten in Wien von den Behörden nichts zu fürchten. »Man betrachtete in Wien jeden Feind der Romanow als Freund«, so der Journalist Günther Haller. Laut einem Bericht in Der Tag von 1925 war zumindest ein Wachmann mit dem Namen Czermak dazu abgestellt gewesen, Trotzki immer wieder einmal aufzusuchen.58
Die Wohnung des Ehepaars Trojanowski in der Schönbrunner Schlossstraße Nr. 30 war eine wichtige Anlaufstelle für bolschewistische Kader. An den Aufenthalt Stalins erinnert eine Gedenktafel.
Die Russische Revolution von 1917 sollte das Spionageaufkommen auf eine andere Ebene heben. Schon im Jahr 1920 wurde die geheime Telegrafenagentur Rosta eingerichtet, die täglich Bulletins für linke Zeitungen herausgab. Indem er einen Beamten bestach, bekam der Verantwortliche Sandor Rado das Material »unmittelbar« vom Leiter von Radio Wien. Dieses fing zur internen Information der Bundesregierung täglich die aus Moskau »An jedermann, jedermann!« adressierten Telegramme auf, die das Nachrichtenmaterial der sowjetischen Republiken enthielten.59 Rado ging von 1920 an zwei Jahre lang täglich ins Außenministerium und holte die dort aufgefangenen sowjetischen Telegramme ab. Der Chef der Presseabteilung hatte die Pförtner angewiesen, ihm »jederzeit« Einlass zu gewähren, weil er »diplomatischer Beauftragter von Äthiopien« sei, einem Land, mit dem Österreich damals keine auswärtigen Beziehungen unterhielt. Diese Anordnung »bekräftigte« Rado »von Zeit zu Zeit mit ein paar Kronen«. Ein Teil des so erlangten Materials wurde in mehreren westlichen Sprachen ausgestrahlt. Täglich wurden Bulletins in Deutsch, Französisch und Englisch herausgegeben und an »linksorientierte« Zeitungen und Organisationen versandt.60 Das war damals »die einzige Nachrichtenquelle aus Moskau«, so Rado in seinen Erinnerungen. Außer den Radiotelegrammen bekam Rosta-Wien auch Zeitschriften und die Prawda und Iswestija, die über einen sehr langen Weg von Murmansk, über einen norwegischen Hafen und anschließend mit der Bahn nach Oslo und von dort weiter nach Österreich geliefert wurden: »Die sowjetischen Blätter wurden von uns fotokopiert und als Faksimile für die Bibliotheken vervielfältigt, weil diese Zeitungen schon damals einen außerordentlichen bibliophilen Wert darstellten. Selbst Lenins Reden wurden uns durch eine Schallplatte übermittelt. Wir mieteten einen großen Saal in Wien und ließen die Platte vor einem riesigen Publikum laufen.«61
Am 25. Februar 1924 nahmen Österreich und die Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf. Dieser Schritt war vorwiegend wirtschaftlich motiviert. Bereits 1930 rangierte Österreich als sechstgrößter...
Erscheint lt. Verlag | 16.9.2024 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arnold Deutsch • Cambridge Five • KGB • Komintern • MI5 • MI6 |
ISBN-10 | 3-85371-922-8 / 3853719228 |
ISBN-13 | 978-3-85371-922-0 / 9783853719220 |
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