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Die Vermessung der SPD -  Michael Heidinger

Die Vermessung der SPD (eBook)

Die deutsche Sozialdemokratie und das Prinzip "Volkspartei"
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
216 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-9203-7 (ISBN)
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Die SPD befindet sich im demoskopischen Niedergang. Doch wie kann die Partei wieder zu einer sozialdemokratischen Volkspartei werden und bei Wahlen erfolgreich sein? Michael Heidinger liefert in seiner Monographie eine tiefgehende Analyse der Strukturprobleme der SPD und entwickelt konkrete politische Vorschläge, wie eine auf den sozialdemokratischen Werten fußende Gesellschaft Realität werden kann. Dabei stellt sich der Autor der Herausforderung, jahrelang vertretene Politikansätze als 'instrumental inkompetent' zu entlarven und neue Wege aufzuzeigen. Die Grundwerte der SPD sind zeitlos, die Instrumente zu ihrer Umsetzung sind es nicht und müssen an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Nur durch eine inhaltliche Neuausrichtung als Volkspartei kann die SPD wieder demoskopisch erfolgreich sein. Dieses Buch analysiert den Zustand der SPD aus einer völlig neuen Perspektive und ermutigt zu politischen Veränderungen, mit denen sie wieder zu einer starken sozialdemokratischen Volkspartei werden kann.

Der Autor, Jahrgang 1963, ist promovierter Volkswirt, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Dinslaken, funktionshöchster Reservist der Bundeswehr und seit 1986 Mitglied der SPD. In der Partei hat er zurzeit die ehrenamtliche Position des Vorsitzenden des Arbeitskreises Sicherheit und Bundeswehr der NRWSPD inne.

II. Die Wiedergeburt – ein neues Godesberg für den Weg der SPD zur Volkspartei im 21. Jahrhundert


Die Rückbesinnung der deutschen Sozialdemokratie auf das Prinzip „Volkspartei“ ist eine zentrale Voraussetzung dafür, wieder Volkspartei-Wahlergebnisse erzielen und direkte politische Handlungsoptionen gewinnen zu können. Das ist der Weg, mit dem die SPD ihrer historischen Verantwortung als älteste Partei Deutschlands gerecht werden kann. Denn ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie wichtig es war, dass die SPD an den entscheidenden geschichtlichen Weggabelungen politisch geführt und die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen aktiv geprägt hat.

So hat die Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg den Übergang vom Kaiserreich zur ersten Demokratie auf deutschem Boden entscheidend verantwortet und wichtige Weichen gestellt. Unter Bundeskanzler Willy Brandt wurden die Ostverträge abgeschlossen, die Grundlage zum Erhalt des Friedens und später zur Überwindung der deutschen Teilung waren. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat mit hohem ökonomischem Sachverstand die Ölkrise und mit den richtigen innenpolitischen Entscheidungen die Herausforderungen des „Deutschen Herbstes“ bewältigt. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat zum einen mit seiner Ablehnung der Beteiligung Deutschlands am Irakkrieg 2003 die Bundesrepublik vor einem außenpolitischen Desaster bewahrt. Zum anderen hat er mit der Agenda 2010 entscheidend zur Stabilisierung des deutschen Sozialstaates beigetragen. Ohne diese Beschlüsse wäre in der Corona-Pandemie gut anderthalb Jahrzehnte später für den deutschen Staat die finanzielle Kraftanstrengung nicht möglich gewesen, mit der die drohende wirtschaftliche und soziale Katastrophe abgewendet werden konnte.Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die SPD im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts eine hohe Motivation haben sollte, wieder zur führenden politischen Kraft in Deutschland zu werden. Hiervon ist sie zurzeit weit entfernt – auch wenn sie aktuell den Bundeskanzler stellt. Allerdings ist es auch nicht verwunderlich, dass die SPD in ihrer langen Geschichte von mehr als anderthalb Jahrhunderten immer mal wieder Phasen durchlebt(e), in denen sie zur Realisierung einer den sozialdemokratischen Grundwerten entsprechenden Gesellschaft keine politischen Angebote unterbreitet, die eine Mehrheit der Bevölkerung anspricht und mitnimmt. Wichtig ist nur, dass in solchen Situationen eine selbstkritische Bestandsaufnahme erfolgt. Mit Hilfe der Fehleranalyse sind die von der SPD entwickelten politischen Vorschläge wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die Parteigeschichte kann hierbei Orientierung und Inspiration für einen aktuellen und zustimmungsfähigen Gesellschaftsentwurf bieten.

Dies leistet der angekündigte Blick auf die Entwicklung der SPD in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland.9 Als Partei mit klarer Haltung gegen die nationalsozialistische Diktatur, die u. a. in der Reichstagsrede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz ihren Niederschlag gefunden hat, ist die SPD mit einer großen moralischen Autorität in die erste Bundestagswahl am 14. August 1949 gegangen. Umso enttäuschter war sie, als sie mit 29,2 Prozent nur als zweite Siegerin aus der Bundestagswahl hervorging – knapp hinter der Union mit 31,0 Prozent. In der historischen Betrachtung ist dabei weniger das Ergebnis an sich kritisch, lag es doch auf dem Niveau der besten Wahlergebnisse der SPD in der Weimarer Republik.10 Vielmehr war der Umgang mit diesem Resultat problematisch. Nach Bewertung des Politikwissenschaftlers Franz Walter reagierte die alte SPD in den folgenden Jahren bis 1957 „mit ihrem eingeschliffenen Reflex, sich nach Rückschlägen in den Schmollwinkel zu verkriechen, sich dann erst recht für die Partei der besseren Menschen zu halten und mit dem ganzen Rest der Gesellschaft zu hadern.“11

Eine Aufarbeitung der Gründe für die nicht zufriedenstellenden Wahlergebnisse hat die SPD seinerzeit nicht geleistet. Hätte sie es getan, so wäre ihr aufgefallen, dass zwar ihre politischen Werte eine hohe Wertschätzung erfahren hatten, nicht aber ihre politischen Instrumente. Am deutlichsten wurde diese Diskrepanz im Umgang mit dem Wirtschaftssystem. Die Genossinnen und Genossen arbeiteten eben nicht an der Weiterentwicklung der soeben in Deutschland etablierten „Sozialen Marktwirtschaft“ mit, sondern lehnten diese ab, „zogen sich zurück und warteten fatalistisch auf die große Krise der Erhard’schen Marktwirtschaft.“12 Die SPD bewegte sich insofern mit ihren politischen Inhalten nicht mehr auf der Höhe der Zeit und verbaute sich zudem den Zugang zum aktuellen Lebensgefühl der Bürgerinnen und Bürger, für die nach dem Krieg der steigende materielle Wohlstand im Vordergrund stand. Darüber hinaus verschärfte ein erheblicher Verlust an Inhaberinnen und Inhabern des SPD-Parteibuchs, der sich im Zeitraum von 1948 bis 1954 auf immerhin 300.000 Mitglieder belief, die Krise der SPD. Folge des personellen Aderlasses war ein massives Ansteigen des Altersdurchschnitts. Diese und vergleichbar kritische Entwicklungen führten für die SPD schließlich zum Desaster der Bundestagswahl vom 15. September 1957, die der Union mit 50,2 Prozent die erste und einzige absolute Mehrheit an Stimmen und Mandaten bescherte.

In der Gesamtschau auf die Entwicklung der SPD während der ersten Jahre der Bundesrepublik Deutschland lässt sich feststellen, dass viele der damaligen Erscheinungsformen der Strukturkrise der SPD – katastrophale Wahlergebnisse auf der Bundesebene, Mitgliederschwund, Ansteigen des Altersdurchschnitts der Parteimitglieder, fehlende Akzeptanz der vorgeschlagenen Instrumente, Defizite im Ansprechen des Lebensgefühls der Bürgerinnen und Bürger – auch im Jahre 2023 wieder relevant sind. Es ist deshalb interessant zu beleuchten, wie die SPD die damalige Krise bewältigt und es letztlich geschafft hat, 1969 den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu stellen. Auch wenn die Situation natürlich nicht eins zu eins übertragbar ist und die zu findenden Antworten selbstverständlich die Antworten des Jahres 2023 sein müssen, können die seinerzeit gefundenen Lösungen doch Anregung sein.

Was aber gab den Anstoß für ein Umdenken? Wer formulierte seine Unzufriedenheit mit dem Zustand der SPD und mahnte Veränderungen an? Es waren die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, insbesondere die Regierenden Bürgermeister aus den Hansestädten und Berlin, sowie einige Ministerpräsidenten, die deutlich vernehmbar Reformen einforderten. Sie taten dies sehr selbstbewusst, da sie bewiesen hatten, wie Wahlen gewonnen werden können. Denn auf ihrer Ebene repräsentierten sie die SPD als Volkspartei: Sie hatten den Bürgerinnen und Bürgern ein praxistaugliches sozialdemokratisches Politikangebot unterbreitet, das sowohl im Bereich des sozialdemokratischen Markenkerns als auch in den übrigen relevanten Politikfeldern realisierbare Antworten gab.

Der ausgeübte Reformdruck mündete in den SPD-Parteitag vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg. Dort wurde bei nur 16 Gegenstimmen das neue Grundsatzprogramm der SPD beschlossen. Die SPD stellte sich wieder als linke Volkspartei mit großer Breitenwirkung auf. „Das Programm wurde auf die Dauer weit über die Bundesrepublik hinaus für die internationale Sozialdemokratie wegweisend: Godesberg galt bald als Synonym für eine dezidierte Abkehr von traditionalistischen Positionen und als Hinwendung zu einem modernen Konzept reformerischer Politik.“13

Auch wenn das Godesberger Programm in diesem Sinne ein enormes reformatorisches Potenzial entfaltet hat, atmete es doch den Geist seiner Zeit. Trotzdem kann es auch im Jahr 2023 noch wertvolle Hinweise geben, welche Ideen, Anregungen, Positionen und Impulse hilfreich sein können, will die SPD ihren Weg zurück zur Volkspartei finden. Die folgenden Aspekte sind hierfür in besonderem Maße erwähnenswert:

  • Mit der Abkehr von einer rein marxistischen Wertebasis, die noch das Heidelberger Grundsatzprogramm von 1925 dominierte, öffnete sich das Godesberger Programm in ideologischer Hinsicht breiteren Bevölkerungskreisen.14 Es definierte die Werte „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“15 als die „Grundwerte des sozialistischen Wollens“16 und stellte fest, dass der „demokratische Sozialismus … in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt“17 sei. Mit diesem Wertefundament konnte die SPD auch Menschen zur politischen Heimat werden, die nicht einen orthodox marxistischen Blick auf die Gesellschaft hatten.
  • Die bedeutsamste Zäsur nahm das Godesberger Programm im Hinblick auf das angestrebte Wirtschaftssystem vor. Die SPD forderte jetzt nicht mehr wie noch im Heidelberger Programm18 „die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum“19, sondern bekannte sich zur marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung: „Das private Eigentum an...

Erscheint lt. Verlag 3.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
ISBN-10 3-7597-9203-0 / 3759792030
ISBN-13 978-3-7597-9203-7 / 9783759792037
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