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Gemeinsam, anders, glücklich (eBook)

Vom erfüllten Leben meines Bruders mit Behinderung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
ZS - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-96584-479-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gemeinsam, anders, glücklich -  Uli Hauser
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Johannes träumt vom Fliegen - auf einem Kettenkarussell. Durch die Luft sausen und mal nicht behindert sein. Das wäre so schön. Und wunderbar. Aber auch gefährlich. Er darf nicht fallen und nicht stürzen, sein Rücken ist versteift. Johannes, das geht leider nicht, sagt sein großer Bruder. Aber eigentlich will er ihm auch seinen Wunsch erfüllen. Nur wie? Gemeinsam machen sich die beiden auf die Suche. Und entdecken ein Fahrrad, auf dem sie nebeneinander sitzen und sich im Kreis drehen können.  So beginnt er, der Sommer ihres Lebens. Ein Buch über das, was möglich ist, wenn wenig möglich -erscheint. Eine Ermutigung, das Große im Kleinen und Stärke in der -Schwäche zu finden. Über das Leben in einer Gemeinschaft. Von Menschen, die sich umeinander kümmern. Und Menschen, die ihr Schicksal annehmen. Für alle, die neue Kraft schöpfen wollen. 

Uli Hauser arbeitete über 30 Jahre als stern-Reporter. Und ist der Älteste von sechs Geschwistern. Geboren in Orsoy am linken Niederrhein, engagierte er sich fru?h in der Jugendarbeit und gru?ndete viele Initiativen, die Mut machen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern. Ihm gefällt, andere zu motivieren, ihre Möglichkeiten zu erweitern. Und sich nicht mit dem abzufinden, was ist. Uli Hauser verfasste gemeinsam mit Gerald Hu?ther die Bestseller 'Jedes Kind ist hoch begabt' und 'Wu?rde'; in 'Geht doch!' beschreibt er seinen Spaziergang von Hamburg nach Rom. Hauser lebt mit seiner Frau in Hamburg, die Kinder sind aus dem Haus.

Uli Hauser arbeitete über 30 Jahre als stern-Reporter. Und ist der Älteste von sechs Geschwistern. Geboren in Orsoy am linken Niederrhein, engagierte er sich früh in der Jugendarbeit und gründete viele Initiativen, die Mut machen, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern. Ihm gefällt, andere zu motivieren, ihre Möglichkeiten zu erweitern. Und sich nicht mit dem abzufinden, was ist. Uli Hauser verfasste gemeinsam mit Gerald Hüther die Bestseller "Jedes Kind ist hoch begabt" und "Würde"; in "Geht doch!" beschreibt er seinen Spaziergang von Hamburg nach Rom. Hauser lebt mit seiner Frau in Hamburg, die Kinder sind aus dem Haus.

Stab im Rücken


„Wir könnten auch auf den Spielplatz gehen“, sagte ich. Schaukeln. Ich wusste nicht, wo ich nun ein Karussell herbekommen sollte. Johannes kennt von mir, dass ich ihm Wünsche erfülle. Oder es zumindest versuche. Früher, wenn ich zu Freunden ging, wollte er mit. Und ich nahm ihn immer mit, egal zu wem.

Johannes war immer dabei. Für meinen Bruder Stephan wurde die Reaktion der anderen auf ihn gar zu einem Ausschlusskriterium bei der Wahl einer Freundin: Guckte die komisch, wenn sie Johannes sah, war es das. Niemand von uns konnte sich vorstellen, mit einem Mädchen zusammen zu sein, das Johannes ausschloss. Er war unser Maßstab für unsere Vorstellung von Liebe und der Vermessung der Welt. Was das anging, orientierten wir uns an unserem Bruder. Was falsch war und was richtig: Johannes half uns zu verstehen.

Wir machten uns keine weiteren Gedanken. Johannes war da, und es war gut so. Man konnte keinen Marathon laufen mit ihm, aber wer wollte das schon.

„Nein, kein Spielplatz.“ Johannes zog die Augenbrauen hoch. Fand ich in Wahrheit jetzt auch keine gute Idee.

„Schaukeln, nicht gut?“

„Ach, nee.“ Ich wusste, Johannes schaukelt für sein Leben gern. „Achtung, Johannes, jetzt ganz gut festhalten, sonst fällst du hinten herunter“, hatte ich früher immer gesagt. Die Leute guckten und sagten: „Das ist doch viel zu gefährlich für den Jungen, lass das.“

So sind wir miteinander groß geworden, immer ein bisschen mehr, immer ein bisschen drüber über dem, was andere dachten. Stephan legte sich beim Schlittenfahren sogar auf Johannes und sauste mit ihm den Berg herunter. Den Berg hoch brauchte Johannes eine Hand, und gut war es.

Fahrradfahren ging auch mal, für eine kurze Zeit, auf einem Dreirad. Johannes sang eine Zeit in einem Chor, und bei Landessportfesten war er in weithin unbekannten, aber nicht weniger fordernden Wettbewerben erfolgreich. Zum Beispiel im Weitwurf von Reissäckchen. Dem Rollen von Riesenbällen. Und im 20 Meter-Hindernisgehen. Alles keine olympischen Disziplinen, aber eben auch anstrengend. Am liebsten war er mit uns unterwegs, seinen Brüdern, keine Party ohne Johannes. Ich möchte auch nicht ausschließen, dass wir manchmal mit ihm angegeben haben; weniger mit seiner Behinderung als unserem Bemühen, uns zu kümmern und Wünsche von den Lippen abzulesen. Fähigkeiten, die ja auch im Umgang mit Frauen nicht zu unterschätzen sind. Es gab auch nie, soweit erinnerlich, unangenehme, brüskierende oder blamable Situationen. Ein jeder nahm Johannes so, wie er ist und an die Hand, auch versuchte keiner, ihn bloßzustellen. Nur einmal wurde es unangenehm. „Du weißt“, meinte vor Jahren mal ein Bekannter meines Vaters, „was früher mit deinem Bruder passiert wäre, oder?“

Johannes und ich waren Eis essen, ich ging noch in die Schule, und wir trafen den Mann auf der Straße. Ich wusste, dass er als junger Mensch Nationalsozialist gewesen war, wir sprachen oft darüber. Ich war auf alles gefasst.

„Man hätte ihn“, er führte die Hand an seine Gurgel, „also das mit ihm gemacht.“

Er sagte das so gleichgültig und ohne sichtliche Regung, dass ich zu erschrocken war, ihn zu fragen, wie er das wohl meinte.

1969, als mein Bruder geboren wurde, waren viele noch da, die mitgemacht oder geschwiegen hatten und nun verdrängten, was war und wie es war, amtlich zu einem Krüppel gestempelt, gequält, gedemütigt, getötet zu werden.

Johannes löffelte genüsslich eine Erdbeereis-Kugel, es war ein absurder Moment in hellstem Sonnenschein. Wie ein Überlebender, der den Sieg davongetragen hatte, stoisch genießend. 29 Jahre früher hätten sie ihn aussortiert, abgeholt und weggesperrt. Lebensunwertes Leben. Nicht arbeitsfähig.

Eine Belastung. Weil krumm. Und geistig nicht ganz auf der Höhe.

An Menschen wie ihn hätten die Nazis probiert, wie ein Massenmord zu organisieren sei.

Bereits zu Beginn des Krieges begannen Einsatzgruppen in Polen, psychisch kranke und behinderte Menschen aus Heimen zu holen und zu erschießen. Im Oktober 1939 wurde in Posen ein Bunker abgedichtet und Hunderte Bewohner einer nahe gelegenen psychiatrischen Anstalt vergast. So begann es; bis zum Kriegsende brachten die Nationalsozialisten 300.000 Menschen mit Behinderungen um. Für sie waren es „Ballastexistenzen“. Ein besonders perfides Wort in der Schreckenssprache einer totalitären Ideologie.

Es dauerte Jahrzehnte, bis über all dies gesprochen werden konnte. In diese Stimmung wurde Johannes hineingeboren, in Scham und Schweigen. Noch gab es die Worte, die Menschen wie seinesgleichen herabwürdigten. Schwachsinnige, Krüppel, Idioten, so wurden sie genannt. Und viele dieser Kinder zu Hause verwahrt, verzweifelte Eltern, verständnislos. Noch 1973 verweigerten evangelische Pfarrer behinderten Jugendlichen die Konfirmation. Urlaubsgäste verlangten Rückerstattung, sie fühlten sich in ihren Ferienhotels vom Anblick behinderter Menschen gestört. Gemeindeverwaltungen verhinderten den Bau von Heimen, weil „unseren gesunden Kindern“ der „Anblick dieser armen Teufel nicht zugemutet“ werden könne. Universitäten lehnten ab, Wohnraum für behinderte Studenten zu schaffen. Die Stimmung war mancherorts wie 1920 im preußischen Invalidengesetz beschrieben: „Der Krüppel als solcher gehört in eine Anstalt.“

Nur für die Hälfte der Betroffenen gab es Schulunterricht. Kaum Ärzte, die sich auskannten, wenig Wissen. Behinderungen wurden erst sehr spät oder gar nicht erkannt und damit Therapiemöglichkeiten oder gar Heilungschancen verpasst. Es gab keine gesetzliche Meldepflicht, die Ärzte wehrten sich erbittert. Die einen sahen das besondere Vertrauensverhältnis zu ihren Patienten gefährdet, die anderen verwiesen in ihrer Abwehr auf das Unheil des Nationalsozialismus, als Kinderärzte verpflichtet waren, die Geburt körperlich oder geistig behinderter Menschen zu melden. Um sie dann zu töten.

Nun aber war der Krieg vorbei und die Welt ein Wirtschaftswunder. Was geschehen, sollte verschwiegen und vergessen werden. Nicht auch noch darüber reden, ist gut jetzt. Das war die Situation in jener Zeit. Damals nach den vermeintlichen Ursachen einer Behinderung gefragt, nannten die meisten Menschen Vererbung, Trunksucht oder andere Krankheiten. Drei von zehn wiesen Eltern die Schuld für ein behindertes Kind zu. Zwei Drittel befürworteten eine Verbannung in ein Heim, möglichst weit weg. Jähzornig seien diese Behinderten, böswillig, stumpfen Sinns und eher abartig veranlagt.

Demut, Dankbarkeit und das Erdulden des Unabwendbaren: Dies war, was die Gesellschaft behinderten Menschen und ihren Eltern und Geschwistern abverlangte. Lieb sollten sie sein und dankbar für jede Wohlfahrt. Noch Anfang der 1970er-Jahre war vielen Behörden nicht bekannt, wie viele Behinderte der Hilfe bedurften.

Dies änderte sich, als sich mehr und mehr Menschen und auch meine Eltern in Selbsthilfegruppen organisierten. Sich nicht abfinden wollten mit organisierter Lethargie und Teilnahmslosigkeit. Sie fanden einander und tauschten Erfahrungen aus, das tat gut. Fühlten sich ermutigt und geschätzt in ihrer Mühe, luden Experten zu Gesprächsrunden und dachten weniger in Einschränkungen denn in Möglichkeiten. Als erster deutscher Staatsmann forderte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1972 die Solidarität mit geistig und körperlich Behinderten. „Großer Einfallsreichtum“ sei nötig, wenn es um die Wiedereingliederung der Behinderten in den Arbeitsprozess gehe. „Es ist“, sagte er, „durch bewundernswerte und geduldige Arbeit bewiesen worden, wie viele von ihnen zur Rehabilitation fähig sind, wenn man sich ihrer nur annimmt.“

In der Folge änderten sich Gesetze und Zuständigkeiten. Und so langsam nahm man sich der Probleme an.

Johannes wuchs hinein in eine Zeit des Aufbruchs. Und des Entsetzens, was geschehen war. Über Barmherzigkeit hinaus wurden neue Debatten geführt, was Menschsein bedeutet. Dass ein Mensch innerlich stärker sein kann, als es sein äußeres Schicksal vermuten lässt. Menschliche Größe sich nicht an Erfolg oder Reichtum bemisst, sondern eben auch an kleinen Gesten; der Berührung, der Zuneigung, des Verständnisses. Dass in jedem Menschen etwas ist, das unzerstörbar ist und nicht sterben kann. Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. So, wie ich diese auch bei Johannes erlebe und seinen behinderten Freunden.

Es gibt spannende Umfragen unter Menschen mit schweren Behinderungen. So schätzt jeder Zweite seine Gesundheit als gut oder sehr gut oder hervorragend ein. Johannes sagt das auch von sich: „Hauptsache gesund.“

Zum Staunen schön, diese Worte. Besonders nach den vielen Operationen, die mein Bruder hinter sich hat. Und den vielen kleinen und größeren Krankheiten, die er tapfer ertrug.

So zahlreich waren diese, dass sie hier gar nicht aufzuzählen sind. Sehr gefährlich aber wurde seine Skoliose. Dieses Wort, abgeleitet vom griechischen skolios, was so viel wie krumm bedeutet, beschreibt die seitliche Verdrehung des Rückgrats bei gleichzeitiger Verdrehung der Wirbel. Es ist ein langsamer Prozess, den niemand aufhalten kann. Die Rippen drücken auf Herz und Lunge, das Atmen wird immer schwerer. Herzrasen, Verdauungsprobleme und das Gefühl, dass da eine unsichtbare Macht ist, die dich mit jedem Tag mehr erdrückt.

„Sie müssen was unternehmen, Frau Hauser, Ihr Sohn sollte sofort operiert werden, es ist dringend.“ Meine Eltern waren verzweifelt, so viele Arztbesuche hatten sie schon hinter sich, so viel schon geleistet,...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ableismus • Anteilnahme • Anti-Diskriminierung • Aufklärung • Barrierefreiheit • Behinderten-heim • Biografie • Biographie • Bruder • Debattenbuch • Disability-Rights-Movement • Einschränkung • Empathie • Empowerment • Erfahrungsbericht • Fahrrad-fahren • Familie • geistige-Behinderung • Gesellschaftskritik • Handicap • Heilkraft der Bewegung • Heim • Hilfe • Inklusion • inklusiv • Integrativ • Journalist • Leben mit • Menschen mit Behinderung • Menschenrechte • Mobilität • Mutmachbuch • Sach-buch • Selbstbestimmung • Soziale Gerechtigkeit • Stern • Teilhabe • Ullrich • Ulrich • Unterstützung • Vielfalt
ISBN-10 3-96584-479-2 / 3965844792
ISBN-13 978-3-96584-479-7 / 9783965844797
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