Demokratie (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02309-3 (ISBN)
Gabriele von Arnim wurde 1946 in Hamburg geboren. Sie hat studiert, promoviert und zehn Jahre als freie Journalistin in New York gelebt. Danach schrieb sie u.a. für DIE ZEIT und SÜDDEUTSCHE, BR und WDR und arbeitete als Moderatorin für ARTE, SDR/SWR und SF. Sie schreibt Rezensionen für Zeitungen und Hörfunk, moderiert Lesungen, hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt in Berlin.
Gabriele von Arnim wurde 1946 in Hamburg geboren. Sie hat studiert, promoviert und zehn Jahre als freie Journalistin in New York gelebt. Danach schrieb sie u.a. für DIE ZEIT und SÜDDEUTSCHE, BR und WDR und arbeitete als Moderatorin für ARTE, SDR/SWR und SF. Sie schreibt Rezensionen für Zeitungen und Hörfunk, moderiert Lesungen, hat mehrere Bücher veröffentlicht und lebt in Berlin. Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin. Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u.a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.Zuletzt erschienen Vaters Kiste (2022) der Die Krume Brot (2023).
Gabriele von Arnim
Vorwort: Warum Demokratie?
Demokratie ist für mich unverzichtbar, weil sie, wie keine andere Staatsform, die Menschenwürde schützt.
Gerhart Baum
Seit achtzehn Jahren, so konstatiert es die Organisation Freedom House, die 1941 unter anderem von Eleanor Roosevelt begründet wurde und seither weltweit die Freiheitsgrade misst, schwinde die Demokratie kontinuierlich dahin. In zweiundfünfzig Staaten seien in den letzten Jahren politische Rechte und bürgerliche Freiheiten beschnitten worden, während es in nur einundzwanzig Nationen Verbesserungen gab.
Wir lesen es täglich. Autoritäre Bewegungen und rechtsextreme Parteien gewinnen immer mehr Zustimmung, immer mehr Wahlen. Und das, obgleich sie bekanntlich Menschenwürde, politische Rechte und Freiheiten eben nicht schützen. Weil es ihnen nicht um das Menschenwohl geht, sondern um Ideologien, nicht um Minderheitenschutz, sondern um Macht. Die nicht die bürgerliche Würde wiederherstellen wollen, sondern den nationalen Stolz, indem sie – hier, in Deutschland – die deutsche Geschichte verharmlosen, Geschichtsbewusstsein denunzieren, perfide Begriffe wie «Schamkultur» und «Schuldkult» in den Diskurs einführen.
Sie wollen stolz sein auf ihr Land – doch ihr Weg zum Stolz ist nicht Weltoffenheit, Menschenfreundlichkeit, Zukunftsgestaltung, sondern Hass, Verunglimpfung, Lügengebilde.
Der Auftrag der Demokratie ist es, Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit zu schützen, freie Wahlen, Bildung für alle, soziale Sicherheit möglich zu machen. Das sind hohe Werte, hehre Worte, die man leicht sagt und bei denen man nicht immer mitbedenkt, was es bedeutet, sie zu leben. Dass Demokratie kein Zustand ist, sondern ein Prozess, dass man sich auch selbst engagieren muss, um diese Werte zu bewahren. Oft bleiben die Begriffe abstrakt, abgehoben, werden zu selten aus der Sphäre der politischen Theorie in den persönlichen und privaten Alltag geholt.
Deshalb war es die Idee für diesen Band, Demokratie zu erzählen. Von sich zu erzählen. Dem eigenen Verhältnis zur Demokratie, von den unmittelbaren Erfahrungen mit der Freiheit, den Rechten und Pflichten, von der eigenen Lethargie oder dem Engagement, dem Frust und der Lust, in einer Demokratie zu leben.
Denn immer steht der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft. Er ist die Gesellschaft. «Der Mensch, der einzelne Mensch», schreibt die große Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch «Secondhand-Zeit», «hat mich schon immer fasziniert. Denn im Grunde passiert alles dort.»
Manchmal frage ich Freunde, welches innere Bild sie sehen, wenn sie das Wort «Demokratie» hören.
Bundesrepublik, sagt eine, die in der DDR aufwuchs.
Deutschland in Trümmern nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt die Nächste, die den Weg in ein demokratisches Deutschland mitgegangen ist.
Polyphonie, Gemeinschaft, Verantwortung, sagt eine andere, die in korrupten, drogenvergifteten Ländern gelebt hat.
Nächtliche Seelenruhe, weil man keine Angst haben muss, von Schergen abgeholt zu werden, sagt ein Anwalt.
Schulstunden, in denen wir Demokratie geübt haben, sagt eine Amerikanerin, da habe sie gelernt, was Freiheit, Mitsprache und Kompromiss bedeuten.
Als ich mich selbst befragte, tauchten die Worte «Erleichterung» und «Hoffnung» auf. Erleichterung, in einer freien Gesellschaft leben zu können, und Hoffnung, dass sich das System Demokratie hin zu mehr Teilhabe, Gerechtigkeit, Bürgernähe entwickelt.
Denn nein, Demokratie ist nicht die gute Fee, die mit einem Zauberstab die Welt heilt. Auch hier erleben wir verletzende Wirklichkeiten. Kinderarmut, sexualisierte Gewalt, Femizide, eine skandalöse Schere zwischen Arm und Reich, um nur einige Beispiele zu nennen. Wahrlich nicht immer wird die Würde des Menschen gewahrt. Weil es uns so oft nicht gelingt, den anderen und uns als Mensch wahrzunehmen, uns gemeinsam als Menschen wahrzunehmen und sich gegenseitig zu würdigen.
Demokratie muss man lernen, muss man üben. Als Bürger und auch als Politikerin. Wenn Volksvertreter die Verunsicherung und oft auch Überforderung so vieler nicht wahrnehmen und nicht darauf reagieren, wenn sie in dieser «Zeit der Verluste» (Daniel Schreiber), in der immer mehr Gewissheiten verloren gehen, Beschlüsse nicht gründlich erklären, driftet ein Teil ihrer Wähler ab in Systemverweigerung und Radikalität.
Oft wissen diejenigen am besten, was Demokratie bedeutet, die Diktaturen entkommen sind. Weil sie endlich frei atmen und denken und singen und reden können. Weil sie nicht mehr tagtäglich befürchten müssen, staatlicher Willkür ausgesetzt zu sein. Und oft begreifen wir erst, wie privilegiert wir sind, in einer Demokratie zu leben, wenn Geflüchtete erzählen aus ihren Leben in ihren Ländern. Begreifen erst, was Freiheit ist, wenn Unfreiheit ein Gesicht bekommt, eine Geschichte. Wenn Menschenrechtsverteidiger und Menschenrechtsverteidigerinnen drangsaliert und inhaftiert werden, gedemütigt und gefoltert. Wenn Respekt und Achtung nichts gelten. Denn sie sind die Hüter der Menschenwürde – gemeinsam mit Rücksicht und Anerkennung, Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit. Und mit Fantasie, einer inneren Vorstellungskraft, um andere Leben denken, anderes Denken verstehen zu können, Diversität als Lebendigkeit zu empfinden.
All das, wovor die extreme Rechte sich zu fürchten scheint.
Eine Weile habe ich gedacht, der Rückwärtsruck sei der Aufstand derjenigen, die ahnen, dass ihre Zeit vorbei ist. Die sich noch einmal krakeelend wehren müssen, bevor sie untergehen. Ein raues, radikales Zwischenspiel.
Inzwischen fürchte ich, dass dieses Zwischenspiel das eigentliche Stück von der Bühne fegen könnte, wenn wir nicht endlich anfangen, die Wirklichkeit zu sehen. Menschenwürde zu leben. Alle. Wenn wir nicht gemeinsam versuchen, der Zukunftslust Kraft einzuatmen, um die Zukunftsangst zu vertreiben.
Menschen machen Systeme. Und Systeme prägen Menschen, verändern sie. Und verführen dazu – in Diktaturen aus Angst, in Demokratien aus Lethargie –, nicht richtig hinzuschauen, nicht wahrzunehmen, was in der Gesellschaft geschieht, in der man lebt.
Und gerade jetzt, angesichts von so vielen Krisen, Kriegen, Gewalt und Unterdrückung, möchte man ja immer wieder innerlich abschalten.
Der Weltschrecken ist zu groß, um ihn auszuhalten, sagt mir ein Freund.
Aushalten ist die einzige Chance, damit umgehen zu können, sagt eine Freundin.
Viele überlassen sich der Furcht – alles zu unübersichtlich, zu komplex, zu bedrohlich – und üben sich in Wirklichkeitsabwehr. Selbst die Klimakatastrophe, längst wissenschaftlich erforscht und belegt und überall spürbar, wird wider alle Fakten geleugnet. Man fürchtet sich vor allem vor Geflüchteten und Wohlstandsverlust, röhrt wie ein wunder Hirsch, fällt gar das Wort «Verzicht». Fragen wir doch mal anders, fragen wir, wie wir uns die Zukunft wünschen, in der wir leben wollen, und suchen dann nach Wegen dorthin. Uns fehlt ein gemeinsames Narrativ, eine verlockende Erzählung von dem, was wir doch (fast) alle wollen: Frieden, Gewaltfreiheit, grüne Städte, soziale Gerechtigkeit usw. Womöglich ließe sich ja doch ein mehrheitsfähiges gemeinsames Wollen formulieren und danach handeln. Wenn auch Verzicht dazugehört, würden wir vielleicht auch Verzicht akzeptieren. Die ewigen Beschwichtigungen der Regierung, dass die Probleme gelöst würden, ohne dass uns etwas abgefordert werde, sind doch reine Augenwischerei. Und wer kann denn bitte mit Sicherheit sagen, dass uns für ein gemeinsames Ziel nicht etwas zuzumuten ist? Dass wir uns nicht etwas zumuten würden?
Der Umweltforscher Wolfgang Sachs spricht in einem «Zeit»-Interview von gesellschaftlicher Genügsamkeit, manchmal spricht er in seiner vorsichtigen Art auch von «frugalem Wohlstand».
Schon Mahatma Gandhi hat gesagt: «The world has enough for everyone’s need, but not enough for everyone’s greed.»
Es gäbe so viele Möglichkeiten, und es gibt so viele Ansätze und Projekte, sich fantasievoll einer Zukunft zuzuwenden, stattdessen aber wird auf so vielen Ebenen im öffentlichen Raum – nicht nur beim Klima – in den gesellschaftspolitischen Rückwärtsgang geschaltet.
Als ich kürzlich einer Freundin erzählte, dass die Berliner Senatorin für Verkehr auf die Frage, warum sie entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen den Autoverkehr nicht eindämmen wolle, geantwortet habe: «Weil wir in einem freiheitlichen Land leben», hat sie wutentbrannt aufgeheult. Und ich musste an einen Freund denken, der vor vielen Jahren – in München war gerade Ozonalarm – das Debakel in einem unvergesslichen Satz zusammenfasste: «Autos dürfen draußen spielen, Kinder müssen drinnen bleiben.»
Wenn wir die Wirklichkeit nicht sehen wollen, katapultieren wir uns hinein in eine gesellschaftliche und individuelle Erstarrung.
Eine freie Gesellschaft aber braucht freie Menschen, die sich nicht zurückziehen in ihre festgemauerten Meinungen wie in ihre Wohnung und meinen, dort gut und sicher aufgehoben zu sein. Eine freie Gesellschaft braucht Menschen, die sich trauen, Fenster und Türen zu öffnen, in die Welt zu gucken, sie neu zu denken, Menschen, die Veränderungen akzeptieren und auch die Furcht vor Ungewissheit aushalten.
Denn wir brauchen nicht nur neue institutionelle Formen der Demokratie, etwa mehr Bürgerräte, brauchen nicht nur ein...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Anthologie • Antje Rávik Strubel • Autokratie • Bürgerrechte • Can Dündar • Clemens J. Setz • Colum McCann • Dana Grigorcea • Daniel Kehlmann • Debattenbuch • Demokratie • Demonstrationen • Deniz Utlu • deutsche Politik • Dietmar Dath • Dinçer Güçyeter • Donald Trump • Freiheit • Gabriele von Arnim • Gesellschaft • Gesellschaftsdebatte • Gesellschaftskritik • Intellektuelle • Jan Brandt • Jochen Schmidt • Kathrin Röggla • Landtagswahlen • Lukas Bärfuss • Marcel Beyer • Matthias Nawrat • Michael Maar • Necati Öziri • Per Leo • Politische Analyse • Politisches Engagement • Politisches Sachbuch • Populismus • Präsidentschaftswahl • Rechtsextremismus • Rechtsruck in Deutschland • Rechtsstaat • Ronya Othmann • Sachbuch Deutschland • sachbuch politik • Sasha Marianna Salzmann • Stefanie de Velasco • Tanja Maljartschuk • Thea Dorn • Tomer Dotan-Dreyfus • Ulrike Sterblich • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-02309-3 / 3644023093 |
ISBN-13 | 978-3-644-02309-3 / 9783644023093 |
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