Generation Ego (eBook)
304 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31812-3 (ISBN)
In seltsamem Kontrast dazu scheinen die Hinterlassenschaften dieser Generation zu stehen: Neben einer alternden Gesellschaft, dem Rentenproblem und dem Klimawandel hinterlässt sie den nachfolgenden Generationen viele weitere Krisen.
Ist die Cold-War-Generation die Generation Ego? Hat sie nur an sich gedacht? Was hat die Generation geprägt und kann man ihr die aktuellen Krisen wirklich anlasten? Und: Was gilt es jetzt zu tun?
Georg Vielmetter ist Doktor der Philosophie und Diplom-Soziologe. Er arbeitet als Berater, Coach und Autor. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher 'Die Post-Corona-Welt' und 'Leadership 2030' (mit Yvonne Sell). Er lebt in Berlin.
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Die »langen sechziger Jahre« – Die Lebenswelt der Cold-War-Generation
Von grau nach bunt
Grau. Das ist die Farbe, die ich assoziiere, wenn ich an mein erstes Lebensjahrzehnt in den 60er Jahren im Bochumer Norden denke. Danach zogen wir nach Aachen und lebten dort für drei Jahre, bevor es wieder zurück ins südliche Ruhrgebiet ging, immer der Aufstiegsbewegung der Familie folgend. Das waren dann die 70er Jahre, und wenn ich an diese Zeit denke, fällt mir keine einzelne Farbe mehr ein, sondern ein anderes Wort: bunt.
Von grau nach bunt. Vielleicht kann man so in vier Worten die Dynamik beschreiben, die Radikalität der Veränderung in dieser Zeit – der prägenden Jahre für die Cold-War-Generation. Der Zeithistoriker Detlef Siegfried, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen, nennt diesen Zeitabschnitt »die langen sechziger Jahre« und datiert ihn von 1958 bis 1973.21 An anderer Stelle spricht Detlef Siegfried von der »zweiten Gründung« der Bundesrepublik »ungefähr von der Mitte der 1950er bis zur Mitte der 1970er Jahre«.22 Es sind die langen sechziger Jahre, in denen die Cold-War-Generation geboren, erzogen und geprägt wurde.
Was passierte in dieser Zeit? Welche Grunderfahrungen machte die Cold-War-Generation? Schauen wir uns zuerst die Entwicklung von grau nach bunt an. Das ist die schöne Geschichte. Sie ist wahr, aber sie ist nicht vollständig. Das Graue löste sich nämlich nicht einfach in Luft auf, teilweise wurde es nur schlecht übermalt und schimmerte immer noch deutlich durch. Dann lag ein Grauschleier über der Stadt, den Peter Hein, ebenfalls ein Kind der Cold-War-Generation und der Sänger der – ist das wirklich Zufall? – Fehlfarben aggressiv besang. Das ist die weniger gern erzählte Geschichte vom Grauen hinter dem Bunten. Und die schauen wir uns im Anschluss an.
Das Bunte vor dem Grauen – die schöne Geschichte
Die Rede vom Grauen war zunächst gar nicht metaphorisch, sondern wörtlich gemeint. Mein erstes Lebensjahrzehnt ist das der gedeckten, meist sogar unbunten Farben. Die Häuser in unserem Stadtteil waren fast alle grau, einige sogar schwarz. An unser Nachbarhaus hatten Maler vier Farbproben gepinselt, etwa einen Meter lang und 40 Zentimeter hoch: braun, dunkelgrau, hellgrau und weiß. Es blieb bei diesen Proben, bis wir aus der Stadt wegzogen. Und selbst ein Anstrich in diesen Farben hätte nicht wirklich mehr Buntheit in die Stadt gebracht. Farben sah man kaum, dafür überall Baulücken und Löcher, wo vor dem Krieg noch Häuser gestanden hatten. Die Neubauten: einfach und funktional. Und meistens graue Mäuse; cremeweiß oder schmutzig braun war schon ein mutiges Farbkonzept. Die Betonplattenbauweise und der Waschbeton wurden erfunden. Und welche Farbe hat Waschbeton? Genau. Der Architekt Matthias Gröhne, ehemaliger Professor im Studiengang Farbe an der Hochschule Esslingen, schreibt dazu: »Die Farbwelt der 60er ist vielleicht mit Begriffen wie Monotonie und Farblosigkeit zu umschreiben. Vorherrschende unbunte Farbtöne und Farben aus den Materialien heraus bestimmen neben Weiß das Bild unserer Städte.«23
Der Opel Rekord C meines Vaters war mattweiß, mein rindslederner Schultornister rehbraun. Der Golf 1 meiner Mutter – fünf, sechs Jahre später – war schon kräftig rot (»Phönixrot« nannte Volkswagen das), und der Tornister meines nur drei Jahre jüngeren Bruders schreiend orange. War 1968 noch Weiß die mit Abstand beliebteste Autofarbe, war es in den 1970ern bis in die 1980er Rot. Die Explosion der Autofarben hatte Ferruccio Lamborghini 1966 in Gang gesetzt, wenige Jahre nachdem er seine bald legendäre Automarke gegründet hatte. Die 763 Exemplare seines neuen Luxussportwagens Miura (übrigens benannt nach – und das gäbe es heute wohl auch nicht mehr – einem spanischen Kampfstierzüchter) »spiegeln den Regenbogen wider: Insgesamt 86 verschiedene Farbtöne wurden verwendet.«24 Twiggy, Supermodel der 60er Jahre, bestellte einen in Verde Giallo (Gelbgrün). Allerdings war es 1968 noch gefährlich, zumindest anstößig, in einem gelben Auto durch die Gegend zu fahren. Diese Erfahrung machte der Chefredakteur der Zeitschrift auto, motor und sport, Heinz-Ulrich Wieselmann, als er in einem knallgelben Mercedes-Benz SL durch die Straßen fuhr. Danach berichtete er: »Passanten blieben kopfschüttelnd stehen, ältere Herren fassten sich ans Hirn, Frauen zuckten bei seinem Anblick zusammen und machten ein Gesicht, als hätten sie in eine Zitrone gebissen.«25
Im gleichen Jahr zeigte die 4. documenta in Kassel die bis dahin größte Ausstellung der leuchtend bunten amerikanischen Pop Art in Europa, und nur wenige Jahre später trugen Autofarben dann so fröhliche Namen wie Mexikoblau, Indischrot, Signalorange oder Cliffgrün.26 Und »ans Hirn« fasste sich bald kaum noch jemand; grelle Farben konnten die Leute nicht mehr schockieren. Selbst Autos in krassen Farben mit seltsamen amerikanischen Namen wie Viper Green, Hugger Orange und Grabber Blue27 führten nur noch sehr gelegentlich zu nervösen Zuckungen.
Die Welt war bunt geworden.
Was war geschehen? Deutschland hatte endgültig die Nachkriegszeit und ihre Nachwehen hinter sich gelassen. Wann genau, das lässt sich natürlich nicht auf den Tag datieren. Wenn man aber doch ein Datum herausgreifen möchte, bietet sich der 5. Mai 1955 an. An diesem Tag traten die Pariser Verträge in Kraft, mit denen die Besatzungszeit in Westdeutschland endete, die Bundesrepublik in die NATO aufgenommen wurde und Teilsouveränität erlangte. Das alles war eine Folge politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderungen, die alle eng untereinander verbunden sind. Schauen wir uns zunächst die wirtschaftlichen Veränderungen an.
»Goldene Jahre«. Das deutsche Wirtschaftswunder28
Recht schnell nach dem Zweiten Weltkrieg und für viele überraschend begann das »Deutsche Wirtschaftswunder«. Wobei dieser Nachkriegsboom gar nichts Singuläres in Deutschland war: Frankreich hatte sein Trente glorieuses, Spanien sein Milagro español, Italien sein Miracolo economico italiano und Österreich sein, klar, Wirtschaftswunder. Die ersten zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren dem Wiederaufbau und der Rekonstruktion der Wirtschaft gewidmet. Und dabei waren die Ausgangsbedingungen in Deutschland West in mehrerlei Hinsicht gar nicht so schlecht, wie man angesichts der zerstörten Städte hätte annehmen können. Denn etwa 80 Prozent der Produktionskapazitäten waren im Krieg eben nicht zerstört worden, und insgesamt war die Gesamtkapazität nach dem Krieg sogar höher als 1938, im letzten Vorkriegsjahr. Im Jahr 1948 betrug sie in den Westzonen ganze 111 Prozent der Vorkriegsleistung (in der Ostzone hingegen nur 74 Prozent).29 Nach langen internen Streitigkeiten entschieden sich die westlichen Alliierten schließlich für den Wiederaufbau ihrer Besatzungszonen. Mit der Währungsreform 1948 wurde die D-Mark eingeführt und der Tauschhandel quasi über Nacht beendet. Die Regale füllten sich. Die Produktionskosten in Deutschland waren im Vergleich zu anderen westlichen Ländern gering; der feste Wechselkurs der D-Mark zum US-Dollar wirkte wie eine Exportsubvention. Der Marshall-Plan unterstützte, war aber nicht wirklich wesentlich. Es entwickelte sich eine unglaubliche Dynamik: Die westdeutschen Exportleistungen waren 1960 viereinhalb Mal höher als 1950, das Bruttosozialprodukt drei Mal so hoch. Kaum zu glauben, dass das Realeinkommen einer durchschnittlichen Arbeiterfamilie bereits 1950 das Vorkriegsniveau überschritten hatte. Gab es 1950 noch zwei Millionen Arbeitslose, wurden 1955 schon die ersten »Gastarbeiter« angeworben. Viele Unternehmen wanderten aus der sowjetischen Besatzungszone gen Westen ab; dies war auch der Beginn der Industrialisierung des vormals agrarischen und armen Bayern. Insgesamt stiegen die Investitionen in der Bundesrepublik von 1952 bis 1960 um 120 Prozent.
Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass das Wirtschaftswachstum bis zum Ende der 1950er Jahre das Ergebnis eines Rekonstruktionseffekts war. Das Produktionspotential in Deutschland war wegen des Krieges nicht ausgeschöpft worden, der Kapitalstock jedoch im Wesentlichen erhalten geblieben. Es gab genügend qualifizierte Arbeitskräfte, auch durch den ständigen Zustrom aus der DDR bis zum Mauerbau 1961. (Allein zwischen 1949 und 1961 waren das zwei Millionen Menschen, mehr als 13 Prozent der Erwerbstätigen der DDR.)30 Wissen um den Aufbau, die Entwicklung und das Managen von Organisationen waren hinreichend vorhanden – kein Wunder, die Wirtschaftselite hatte die Nazi-Zeit weit gehend schadlos überstanden und im neuen System einfach weitergemacht. Die Wirtschaft musste auf zivile Produktion umgestellt, Investitionsrückstände mussten aufgeholt werden. In dieser Phase gelang es der westdeutschen Wirtschaft, moderne Technologien einzuführen und wieder eine international wettbewerbsfähige Forschung und Entwicklung aufzubauen. Im Laufe der 1950er Jahre näherte sich die westdeutsche Industrie damit immer mehr dem führenden US-Standard an; ab 1953 standen bereits...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 1960er Jahre • 2024 • ältere Generation • Babyboomer • Boomer • eBooks • Generationenkonflikt • Generationenwechsel • gespaltene Gesellschaft • Kalter Krieg • Nachkriegseltern • Neuerscheinung • Politik • Rente • Wohlstand |
ISBN-10 | 3-641-31812-2 / 3641318122 |
ISBN-13 | 978-3-641-31812-3 / 9783641318123 |
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