Die Lehren, die aus Japan kommen, sind auch im Westen aktueller denn je. Aber was genau macht den japanischen Geist aus?
72 Begriffe gibt es im Japanischen, um die Jahreszeiten zu beschreiben und das Jahr in Abschnitte zu gliedern, die alle fünf Tage die Gelegenheit zur Erneuerung und inneren Reflexion bieten.
So heißt etwa Harmonie auf Japanisch wa, aber wie alle japanischen Wörter beinhaltet es viel mehr: In Harmonie mit den Dingen zu sein, das bedeutet in Japan Schönheit, Freude und Gemeinsinn in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, durch kontinuierliche Arbeit an sich selbst, durch das Erlernen von Geduld, durch überlegtes Handeln und gelebtes Miteinander.
Laura Imai Messina wurde in Rom geboren. Mit dreiundzwanzig Jahren zog sie nach Japan. Ihr Studium an der University of Foreign Studies schloss sie mit dem Doktortitel ab, mittlerweile arbeitet sie als Dozentin an verschiedenen Universitäten. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Tokio. Ihr Roman »Die Telefonzelle am Ende der Welt« stand in Italien und Großbritannien wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde in 25 Länder verkauft. Laura Imai Messinas Romane zählen zu den meistübersetzten italienischen Büchern weltweit.
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個人主義 kojinshugi
oder: Vom »Ich«, das inmitten des »Wir« wächst
Züge sind das zweite Zuhause der Bewohner Tokios.
Bevor man sie am Morgen besteigt, muss man in zwei Reihen vor dem Eingang in der Schlange stehen, die sich zu Stoßzeiten oft genug um ein x-Faches verlängert. Da stehen die Menschen und harren der Dinge, scheinbar unbeteiligt und doch angespannt; in Reih und Glied, jeder für sich, warten sie darauf, dass sich die Türen öffnen und den Weg für die zusteigenden Fahrgäste freigeben. Einzig und allein in diesem Moment, beim Einsteigen, findet die Verwandlung statt, und sie dauert genau die zwei oder drei Sekunden an, die nötig sind, um sich einen Weg durch den Dschungel der Absichten anderer Fahrgäste zu bahnen oder ihnen auszuweichen und dann Platz zu nehmen.
Einen Augenblick zuvor noch wirken sie alle regungslos und ruhig, aufrecht inmitten der Menge, die dort am Bahnsteig steht und auf den Moment wartet, in dem die Türen sich öffnen und man einsteigen kann. Nur ein kurzes Scharmützel um die Plätze, dann schließt sich der Kreis, es herrscht wieder Ruhe, und in die Gesichter der Fahrgäste tritt ein Ausdruck ergebener Gleichgültigkeit, Augen fallen zu, als wollte man schlafen. Aber in ihren Mienen blitzt kurz auch Verlegenheit auf, das unleugbare Wissen, dass man gerade jemandem den Platz weggenommen hat, einem anderen, der auf denselben Sitz zugestrebt war wie man selbst und der nun besiegt, aber ohne Groll direkt vor einem steht, weil ihm im Grunde bewusst ist, dass die Eroberung des begehrten Platzes nur eine Frage des Zufalls war. Andere hingegen, bei denen das Gefühl der Peinlichkeit überwiegt, geben in dem Moment, in dem sie einen Platz fast ergattert haben, diesen doch ab, wenn sie merken, dass ein anderer ebenfalls darauf zusteuert. Ein kurzer Spurt würde genügen, doch am Ende gewinnt das Unbehagen die Oberhand.
Und hier liegt genau das, was der restlichen Welt weitgehend unbekannt, den Japaner*innen jedoch absolut geläufig ist: dass sich nämlich Individualismus hervorragend mit Gemeinschaftssinn vereinen lässt. Um an sich selbst zu denken, an das eigene, persönliche Wohlergehen, muss man auch vorausschauend sein, und statt sich in einem Haus nur um ein einziges Zimmer zu kümmern, ist es besser, das gesamte Gebäude im Blick zu haben.
Man muss also nur zu Stoßzeiten in Tokio mit Tausenden von Pendlern U-Bahn fahren, um einige der wichtigsten und tiefgründigsten Mechanismen der japanischen Gesellschaft zu begreifen, wie zum Beispiel das Gleichgewicht zwischen Individualismus und Gemeinschaftssinn, oder die Strategien, mit denen Japaner*innen auf eine präventive, fast institutionelle Gleichgültigkeit umschalten, ein unverzichtbares Element des Selbstschutzes in einer Gesellschaft, die aus dem »Denken an den anderen« (omoiyari) ein Allgemeingut gemacht hat.
Im Westen wächst man in der Überzeugung auf, dass Freiheit das Grundprinzip des Menschen sei und man durch das Streben nach persönlichem Glück sich selbst verwirklichen würde. Hingegen kann man in Japan die Erfahrung machen, dass dauerhafte Lebensfreude vor allem in der Umgebung zu finden ist, in der ein Mensch lebt, innerhalb einer Gemeinschaft, deren Mitglieder uns zwar unbekannt, aber wohlgesinnt sind.
Es ist die Sauberkeit auf den Straßen, das Lächeln, das einem überall begegnet, es sind die höflichen Umgangsformen, es ist die Schönheit einer Stadt, die bis ins kleinste Detail gepflegt wird, es ist die Reinlichkeit und Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel, vor allem aber ist es die Tatsache, dass niemand – von Ausnahmefällen abgesehen – bei dem Gedanken nervös wird, das Haus zu verlassen und dabei all den Unbekannten zu begegnen, die unseren Lebensweg kreuzen und uns ihrerseits mit ihrer Individualität bedrängen könnten. Wir sind zu viele Menschen auf dieser Welt, und das Zusammenleben auf so engem Raum bringt uns notgedrungen dazu, den Begriff des »Individualismus um jeden Preis« (der oft genug in eine zügellose und egoistische Freiheit umgemünzt wird) neu zu überdenken.
Besser, man gibt nicht jeder momentanen Befriedigung nach, lässt anderen den Vortritt, vermeidet es, ruppig zu reagieren, wenn man unbeabsichtigt angerempelt wird; besser, man bemüht sich, rechtzeitig bei der Arbeit zu erscheinen, um Kollegen oder Kunden nicht in Unruhe zu versetzen; besser, man feilscht nicht sinnlos um einen Preisnachlass, sondern glaubt einfach daran, dass ein Preis gerechtfertigt ist; besser, man hebt Abfall von der Straße auf, auch wenn man ihn nicht selbst verursacht hat.
Nur so – indem jeder seinen Teil zur Erreichung des Gemeinwohls beiträgt – kann man sich berechtigte Hoffnungen auf ein gutes Leben machen.
Es wird noch dauern, bis der Westen damit aufhört, die Art und Weise, wie Japaner*innen das »Alle« vor das »Ich« setzen, als »schön, aber wenig nachvollziehbar« zu betrachten, und endlich davon Abstand nimmt, ihre Höflichkeit übertrieben, ja fast naiv zu finden. Das westliche Ego ist gewaltig, und wer nicht zuallererst an sich selbst denkt, wird für arglos, gar für dumm gehalten, für jemand, der selbst schuld daran ist, wenn er am Ende unterliegt. Doch wird er das wirklich? Ist man denn tatsächlich glücklicher, wenn man das »Ich« vor die »anderen« stellt?
Das Verhalten der Japaner lehrt uns vielmehr, dass nicht wir, ja nicht einmal die Personen, die wir lieben, die wichtigsten Menschen der Welt sind und dass vor allem niemand das Recht hat, einem anderen Schaden zuzufügen. Wenn man dies tut, so mag man vielleicht eine momentane Befriedigung erfahren, verdammt sich allerdings selbst dazu, in einer Welt zu leben, in der es einzig um das Fressen und Gefressenwerden geht.
Es gibt zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit dem Gruppengeist der Japaner*innen beschäftigt haben, und Takeo Doi (1920 – 2009), der gefeierte Psychoanalytiker, der den Begriff amae, »Abhängigkeit«, in den Mittelpunkt seiner Studien gestellt hat, forderte dazu auf, ebendiesen Begriff zu revidieren und ihn nicht mehr in dem absolutistischen Sinn zu betrachten, wie es – allerdings in einer extremen und einschränkenden Vereinfachung – der Rest der Welt nach wie vor tut.
Zwar gibt man in Japan einem von Konventionen geprägten Verhalten, das Ausnahmen vermeidet, den Vorzug. Andererseits wurden immer auch der Mut und der herausragende Geist des Einzelnen hoch geachtet, etwa die heroische Geste eines einzigen Samurai, der gegen die Regierung aufbegehrt. In Dois Augen beharren zwar etliche Vertreter des amerikanischen Wertesystems (mit dem er sich im Lauf seiner Karriere immer wieder auseinandergesetzt hat) entschieden auf ihrem starken individuellen Bewusstsein, dieses weist jedoch seines Erachtens zahlreiche Mängel auf, vor allem einen extremen Konformismus und eine befremdliche Toleranz gegenüber der Ausübung von Gewalt. Während für die Amerikaner tatemae (also die Form, das Erscheinungsbild) in der Widerspruchslosigkeit zwischen dem System und dem Individuum bestehe – oder besser gesagt in der vermeintlichen Übereinstimmung von tatemae und honne (dem wahren Ich, dem inneren Fühlen) –, überlebe in der dortigen Wirklichkeit nur eine Art unterschwelliges honne, das unsichtbar und in vieler Hinsicht unbewusst bleibe (taemae/honne). Das heißt aber für Doi, dass der Individualismus einer bestimmten westlichen Prägung, der die eigene Transparenz propagiert und diese als einen Wert vor sich herträgt wie eine Monstranz, nichts anderes vorzuweisen hat als ein bestenfalls schwaches Bewusstsein seiner selbst, sodass es in jenen Gesellschaften, die auf Schritt und Tritt den Individualismus predigen, »echte Individuen« in Wirklichkeit nur wenige gibt.
Takeo Doi wäre einer Meinung mit Alexis de Tocqueville, der erklärte, um sich herum eine »unübersehbare Masse ähnlicher und gleicher Menschen« wahrzunehmen, »die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt: Seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit; was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht.«
Wie auch immer, Japan ist zweifellos ein Land, das den Gruppengeist zu einem Wert erhebt und in dem seine Mitglieder weniger die ständige Notwendigkeit empfinden, ihren eigenen Standpunkt zu vertreten und ihn anderen aufzustülpen. Aus der Menge hervorzustechen, bleibt damit etwas, das offenbar ganz von selbst kommen muss, ein Wert, der dem Individuum einfach innewohnt. Und obwohl die Besten die allgemeinen Regeln befolgen und den gemeinsamen Pfad mit den anderen beschreiten, wird es ihnen dennoch gelingen, sich abzuheben.
In Japan herrscht bei zwischenmenschlichen Beziehungen große Behutsamkeit vor. Das zeigt sich in dem als ringisei 稟議制 bezeichneten System, das eng mit dem Begriff nemawashi 根回し verknüpft ist (en). Nach diesem System wird bei jeder Diskussion, ob öffentlich, innerhalb einer Gemeinschaft, einer Institution oder sonst einer Versammlung von Menschen, schrittweise vorgegangen, um mittels informeller Gespräche und Sondierungen, die alle Ränge, von den weniger einflussreichen Mitgliedern bis zu den höchsten, einbeziehen, so lange Meinungen einzuholen, bis klar und deutlich ein Konsens erreicht und formulierbar wird (dessen Festschreibung wiederum reinstes tatemae oder auch »Form,...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2024 |
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Übersetzer | Judith Schwaab, Stefanie Römer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | WA. La via giapponese all'armonia |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Bestsellerautorin • eBooks • Etymologie • Geschenkbuch • Geschichte • Japan • Neuerscheinung • persönlicher blog • Philosophie • Tagebuch |
ISBN-10 | 3-641-26472-3 / 3641264723 |
ISBN-13 | 978-3-641-26472-7 / 9783641264727 |
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