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Defekte Debatten (eBook)

Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen | Eine kluge und brandaktuelle Analyse zur Debattenfähigkeit in unserem Land
eBook Download: EPUB
2024 | 1., Originalausgabe
318 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78086-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Defekte Debatten - Julia Reuschenbach, Korbinian Frenzel
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Ein wissenschaftlich fundierter, praxiserfahrener Debattenbeitrag über den Zustand der Debatte, ein Buch das Alarm schlägt, das die Feinde und Gefahren für Demokratie, Meinungsbildung und Zusammenleben benennt und konkrete Verbesserungsvorschläge unterbreitet, damit wir endlich wieder besser streiten.

Zu laut, zu viel, zu dumm, niemand hört mehr zu, niemand ist mehr beweglich oder offen oder im Geringsten wohlwollend. Gebäudeenergiegesetz, deutsche Staatsräson, Agrardiesel, Einwanderung - bei vielen Themen finden sich Beispiele für den dysfunktionalen Status Quo politischer Kommunikation, für die Unmöglichkeit, ergebnisoffener öffentlicher Meinungsbildung. Das ist gemeinhin der Befund: Die Debattenkultur in Deutschland ist in einem desolaten Zustand.

Aus beteiligter Expertensicht analysieren die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und der Radiojournalist Korbinian Frenzel unsere Debattenfähigkeit. Sie ordnen das breite Tableau beteiligter Akteure, sie untersuchen, wer welchen Illusionen zum Opfer fällt. An welchen Defekten das Diskurssystem krankt, welche neuartigen Herausforderungen sich stellen. Um schließlich einen Ausweg aus der Misere zu skizzieren, um Ideen, Lösungen, konkrete Handlungsvorschläge einzubringen.



Julia Reuschenbach, geboren 1988, forscht als Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin zu Parteien und politischer Kommunikation. Sie wird regelmäßig als klarsichtige Expertin zum Aufstieg der AfD befragt, u. a. in der Lage der Nation, den <em>Tagesthemen</em>, dem <em>Zeit Politikteil</em> oder <em>Spiegel Online</em>. Ihre Einordnungen basieren auf dem aktuellen Stand der Forschung. Sie analysiert längerfristige Entwicklungen und macht übergreifende Zusammenhänge sichtbar.

Ernsthaftigkeit


Komplexe Zeiten erfordern eigentlich ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und Verantwortungsgefühl. Ein umsichtiges, vorsichtiges Prüfen, wie und wo man selbst konstruktiv eine Rolle einnehmen müsste. Eine Phase, in der gerade auch den politisch Verantwortlichen die Aufgabe zukommt, Gräben nicht noch zu vertiefen, Konflikte nicht hochzupeitschen, sondern ihrer Verantwortung als Führungselite gerecht zu werden. Wir bräuchten angesichts der sich häufig schnell ändernden Problemlagen eine Kultur, die offen ist für die Korrektur eingeschlagener Pfade.

Leider sind wir davon weit entfernt. Zu unserer Erschöpfung tritt die Verweigerung von Ernsthaftigkeit. Das manifestiert sich im Fehlen einer Fehlerkultur, mit massiven Auswirkungen auf die Debattenfähigkeit.

Der innere Stammtisch: Elite by day, Volk by night


Vielleicht gibt es in unserem Land bei all den Verwerfungen und Grabenkämpfen eine Gemeinsamkeit über viele politische und lebensweltliche Grenzen hinweg. Etwas, das mehr ein Raunen ist, ein kollektives Kopfschütteln, ein Gefühl: dass »die« es irgendwie nicht hinkriegen. Wer über den Gartenzaun ein Gespräch führen will und ahnt, es könnte politisch schwierig werden, würde sich im Zweifel auf diesen gemeinsamen Nenner zurückziehen: die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse, das Naserümpfen über sinnlose Rituale und das Klein-Klein im Streit bei gleichzeitiger offensichtlicher Erfolglosigkeit.

Es gibt dieses Schimpfen in jeder politischen Couleur und auch intellektuell durchaus abgestuft. Das plumpe »Die da oben«, die man möglicherweise sogar für korrupt, in jedem Falle für unfähig hält, befindet sich am extremen Ende der Skala. Befeuert von Populisten, publizistisch sekundiert durch Teile der Presse, vor allem in den Echokammern sozialer Medien. Am wohlmeinenden, anderen Ende der Skala stehen die Leitartikler und Feuilletonistinnen, die manchmal nicht sehr gut verbergen können, dass sie es im Zweifel besser machten als die Politiker, in jedem Fall aber genau wissen, warum es so, wie es ist, nicht gut ist. Linksliberale bashen die FDP. Die Grünen stehen dem besitzstandsbesorgten Bürgertum fürs Schimpfen zur Verfügung. Die Christdemokraten müssen erleben, wenig trennscharf unter dem Wort »rechts« subsummiert zu werden. Im Zweifel einigt man sich darauf, dass Scholz viel sagt, zu wenig sagt, das Falsche sagt – im Zweifel ohne etwas zu sagen. Genau: Diese Politik.

Dieser Geist erfasst uns alle irgendwann einmal: diese eingespielte Praxis in modernen freien Gesellschaften, umso kritischer zu sein, je mächtiger (und dabei gleichzeitig vermeintlich unfähig) das Gegenüber erscheint. Es ist unser demokratisches Grundrecht, zu meckern. Und darin liegt eine sehr begrüßenswerte Emanzipation: Diejenigen, die politisch steuern und entscheiden, sind »Gewählte, keine Erwählten35«. Ehrfurcht und Ergebenheit gegenüber der Obrigkeit sind lange passé.

Nur, ist dabei möglicherweise auch der Respekt verloren gegangen? Oder in einem Maße verrutscht, dass viele von uns den Ton nicht mehr richtig treffen, wenn wir über Politik – und vor allem über Politiker – reden? Es scheint ein schleichender Respektverlust aus der Mitte heraus zu sein, aus dem Kreise derjenigen, die selbst sehr häufig aus eigenen Verantwortungsbereichen wissen, wie komplex die Dinge sind, die sich aber offenbar mit dem Schimpfen und Kopfschütteln über Politik ein handlungsentlastendes Ausgleichsventil geschaffen haben. Eigentlich sind wir doch viel klüger. Eigentlich ist unsere Gesellschaft zu viel besseren öffentlichen Debatten in der Lage, als wir sie de facto weitgehend erleben.

Woher nehmen wir diese Zuversicht? Weil so viele es täglich im beruflichen, familiären und sozialen Umfeld zeigen. Unser tägliches Leben ist für die Allermeisten hochkomplex. Was früher möglicherweise »einfache Berufe« waren, Tätigkeiten mit schnell erlernten Abläufen und Routinen, ist heute einer Facharbeiter-Logik gewichen. Wer heute Autos repariert, ist nicht mehr nur Mechaniker, sondern fast schon Informatiker. Wer heute eine Schule leitet, ist mindestens so sehr Manager wie Pädagoge. Was fürs Arbeitsleben gilt, gilt auch im Sozialen. Feste soziale Regeln sind einer großen Flexibilität gewichen, wie wir leben (können).

Was macht das mit uns? Manche mag diese Freiheit und Verantwortung stressen. Viele bewegen sich aber mit Bravour durch diese Welt. Mit Interesse. Mit Neugierde. Und mit einem hohen Verantwortungsgefühl in ihrem direkten Umfeld: Die Lehrerin tut ihr Bestes für die Schüler entgegen allen Widrigkeiten. Der Bahnmitarbeiter repariert die Weiche, bis die Züge wieder fahren können, auch wenn er vielleicht weiß, dass ganz andere Stellschrauben gedreht werden müssten.

Heute finden sich so viel mehr Menschen in solchen Verantwortungspositionen. Sie treffen Entscheidungen und wissen daher auch um die Notwendigkeiten (fauler) Kompromisse und Widrigkeiten. Jeder, der in seinem Arbeitsbereich Veränderungen voranbringen wollte, weiß um die Behäbigkeit von Systemen und deren selten allzu große Veränderungsbereitschaft. Jede, die Personalverantwortung hat, weiß, dass ein Team immer auch schwächere Kollegen kennt. Wer sich um die Finanzen kümmert, sei es im Betrieb oder auch ehrenamtlich im Verein, kennt das Phänomen unerwarteter Ausgaben oder ausbleibender Einnahmen. Nicht wenige Menschen dürften bei Elternabenden die Erfahrung gemacht haben, dass Mitbestimmung langwierig und ermüdend sein kann – und nahmen dennoch die Wahl zum Elternsprecher an.

Aber leider verharren viele in Bezug auf die Politik in einer Haltung, die man als »Elite by day, Volk by night« bezeichnen könnte. In den Worten des Literaturkritikers Ijoma Mangold: Es ist der »innere Stammtisch36«, der allzu oft hochkommt. Es scheint ein existenzielles Bedürfnis zu sein, mit einfachen Maßstäben auf die Welt zu schauen und sich selbst von »denen da oben« abzugrenzen. Selbst wenn man eigentlich irgendwie zu »denen da oben« gehört. Für die Debattenkultur ist das eine große Bürde. Denn in der Konsequenz führen wir Debatten unterkomplex und unter Niveau.

Vielleicht steckt in alldem ebenfalls der Ausdruck einer latenten Überforderung: Haben wir noch genug Kraft, neben den Verantwortlichkeiten des eigenen Lebens Energie aufzubringen für die Diskurse und Debatten der Gesellschaft? Gibt es den Moment, in dem man einfach mal nicht engagiert sein und sich der Komplexität entledigen möchte? Für unsere Debattenfähigkeit wäre es wichtig, dass gerade Eliten diese Fragen reflektieren. Und zugeben, wie entlastend es sein kann, auf diese Weise Komplexität zu reduzieren.

Gleichwohl geht es uns nicht darum, ein »Zuviel« an Kritik anzuprangern. Es ist immer notwendig und legitim, politische Fehlentwicklungen, Missmanagement oder das Nichterreichen von Zielen zu thematisieren. Dass eine Stimmung gegen »die da oben« in dieser Massivität aufkommen kann, liegt natürlich auch an ganz konkreten Unzulänglichkeiten.

Problematisch wird es dann, wenn die Grundhaltung verrutscht. Wenn ein grundsätzliches Unvermögen konstatiert, eine Unfähigkeit unterstellt wird. Und daraus im schlimmsten Falle eine sehr tiefgehende Skepsis gegenüber den handelnden Personen und dem politischen System insgesamt erwächst. Darauf zu zielen, ist zentraler Bestandteil der Definition von Populismus37. Die Sprache ist bei alledem das erste Einfallstor. Wir bewerten Politik oftmals in einer Tonlage, die uns in ihrer Schärfe im sozialen Leben, in der Familie oder bei der Arbeit selten in den Sinn kommen würde. Man stelle sich eine Konferenz vor, bei der ein Unternehmensvertreter einer konkurrierenden Firma unterstellen würde, ihre Produkte seien schädlich oder gar eine Bedrohung für das Land. Was, wenn Teilnehmer eines...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Agrardiesel • aktuelles Buch • Brandenburg • Bücher Neuererscheinung • Bücher Neuerscheinung • Debattenkultur • Demokratie • Denkanstoß • Deutsche Staatsräson • Deutschland • deutschlandfunk kultur • Diskussion • Einwanderung • Experten-Duo • Freie Universität • Gebäudeenergiegesetz • Gesellschaft • Handlungsvorschläge • Horse-Race-Berichterstattung • horse-race-journalism • Journalismus • konstruktiver Diskurs • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lage der Nation • Landtagswahlen • Lösungsansätze • Medienkompetenz • Meinungen • Meinungs-Bildung • Mitteleuropa • Neuererscheinung • neuer Krimi • neuerscheinung 2024 • neues Buch • Öffentlichkeit • Polarisierung • Politik • Politikwissenschaftlerin • Politische Kommunikation • Populismus • Provokation • Radio-Journalist • Rechtspopulismus • Sachsen • Soziale Medien • Spiegel Online • ST 5438 • ST5438 • Status Quo • Streitkultur • Studio 9 der Tag mit • suhrkamp taschenbuch 5438 • Tagesthemen • Thüringen • Verbesserungsvorschläge • Zeit Politik
ISBN-10 3-518-78086-7 / 3518780867
ISBN-13 978-3-518-78086-2 / 9783518780862
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