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„Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen“ (eBook)

Missbrauch in der Evangelischen Kirche – eine Einzelfallstudie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
288 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-32205-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

„Gott habe ihm gesagt, er solle mich zur Frau machen“ - Ute Gause
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Missbrauch in der Evangelischen Kirche - eine Fallstudie
Es ist nicht nur ein Problem der Katholiken. Auch in der Evangelischen Kirche vergingen sich - fast nur - Amtsträger an Menschen, die ihnen vertrauten und anvertraut waren. Wie konnte es dazu kommen? Warum blieben die Täter oft unbehelligt? Was erlebten die Opfer und was fühlen sie heute?

Diesen Fragen geht Ute Gause anhand des konkreten Falls eines Pfarrers, der über Jahrzehnte hinweg missbräuchliche Beziehungen zu meist jüngeren Frauen aus seinem jeweiligen gemeindlichen Umfeld unterhielt, nach. Der Bericht basiert auf der Analyse von umfangreichem Archivmaterial. Er bekommt besondere Anschaulichkeit und Tiefe durch Interviews, die die Autorin mit betroffenen Frauen und Personen aus deren Umfeld geführt hat.

Auf eindrucksvolle Weise macht dieses Buch in kirchengeschichtlicher Perspektive die Strukturen und Faktoren transparent, die Missbrauch in der Evangelischen Kirche ermöglichen. Zugleich gibt es Betroffenen eine Stimme.

Dr. theol. Ute Gause, geb. 1962, ist Professorin für Reformation und Neuere Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Sie hat zur Geschichte der Diakonie gearbeitet, forscht zur Reformation und insbesondere zur Rolle und Bedeutung von Frauen innerhalb der Kirchengeschichte.

2. Der Pfarrer


2.1 Von der Kindheit bis zum Theologiestudium

Kindheit und Jugend


Rolf R. wird kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Oberrat geboren. Er ist das dritte Kind des Lehrers Walter R., geb. 1912, und seiner Frau Gerda. Walter R. ist zu diesem Zeitpunkt Soldat im Rang eines Gefreiten. Er hat seinen Sohn nie kennenlernen können; es ist sogar ungewiss, ob er überhaupt von der Schwangerschaft seiner Frau erfahren hat: Walter R., den das Weltkriegsdenkmal seiner Heimatstadt unter den Gefallenen auflistet, ist seit 1944 vermisst. Sein Todesdatum und der Ort seines Sterbens konnten nie festgestellt werden.

Rolf R. hat zwei ältere Geschwister. Seine Mutter hat den Beruf der Sekretärin erlernt und kann so die Familie nach dem Krieg über Wasser halten. Zur Mutter unterhält der Sohn ein so enges Verhältnis, dass er sie, als sie 86 Jahre alt und pflegebedürftig ist, zu sich holen wird.

Der Junge wächst – wie so viele seiner Generation – vaterlos auf. Die Kleinstadt, in der er lebt, ist bis in die 1940er-Jahre von einer überwiegend evangelischen Bevölkerung geprägt. Nach dem Krieg erhöht sich die Zahl der katholischen Bürger durch die Zuwanderung Geflüchteter auf über 500, so dass in den 1960er-Jahren auch eine katholische Kirche im Ort gebaut wird. Der Junge ist offenbar begabt, jedenfalls darf er nach dem Besuch der Grundschule in Oberrat das Gymnasium im nahegelegenen Mühling besuchen. Mitte der 1960er-Jahre schließt er die Schule mit dem Abitur ab.

Konfirmiert wird Rolf R. ebenfalls in Oberrat. Nach seiner Konfirmation engagiert er sich in der Jugendarbeit seiner Gemeinde.1 Während der Gymnasialzeit absolviert er ein Austauschjahr in den USA.

Nachdem er am Sprachenkolleg seiner Landeskirche die Ergänzungsprüfungen für Latein und Griechisch abgelegt hat, beginnt Rolf R. in einem Sommersemester das Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen.

Studium während der Studentenunruhen


In Tübingen absolviert Rolf R. die Prüfung im biblischen Hebräisch und die in der Studienordnung vorgesehenen Proseminare. Kurz danach wechselt R. nach Heidelberg. Er kommt an eine Universität, die durch die Studentenbewegung und das Auftreten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Unruhe ist. R. studiert weiter Evangelische Theologie, engagiert sich nach eigener Aussage aber auch innerhalb der Studentenbewegung. Welcher Strömung oder Gruppe er sich anschloss, ist jedoch nicht mehr feststellbar.

In Heidelberg tritt der SDS als »geschlossene Organisation« auf, die eine klare politische Agenda vertritt. Er organisiert neben Demonstrationen vor allem sog. Teach-ins, Protestveranstaltungen auf dem Campus-Gelände, die das Ziel verfolgen, Teilnehmende über gesellschaftliche oder politische Missstände zu informieren und für den Widerstand zu mobilisieren. Themen sind z. B. die damals umstrittene Austragung der Olympischen Spiele in Mexiko, die dortige Diskriminierung schwarzer Sportler, die sich zur Black-Panther-Bewegung bekannten, oder der Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR zur Niederschlagung des »Prager Frühlings«. Informationsveranstaltungen zum Thema Sexualität finden ebenfalls große Resonanz.2

Der »Heidelberger Winter« 1968/69 geht in die Universitätsgeschichte ein. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) tritt zunächst eher moderat auf. So fragt im Juni 1967 der Sprecher des RCDS anlässlich einer Demonstration zum Gedenken an Benno Ohnesorg die auf dem Universitätsplatz versammelten Studierenden, ob sie tatsächlich der Meinung seien, mit Tomaten- und Steinwürfen sowie Rauchbomben ihre abweichende Meinung angemessen kundzutun. Er selbst und der RCDS lehnen gewalttätige Proteste ab.3

Im Wintersemester 1968/69 schließt sich der RCDS aber der Forderung des SDS nach einer Demokratisierung der Universität und mehr Mitbestimmungsrechten für Studierende an. Es folgt ein Boykott der Grundordnungsversammlung, einer Art verfassungsgebende Versammlung der Universität durch die Studierenden.4 Auf einer Veranstaltung mit dem Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) im November 1968 lehnt der Rektor eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte von Studierenden in der Grundordnungsversammlung explizit ab. 1969 wird daraufhin das Jahr der Revolte an der Universität: Studierende besetzen Institute, der Rektor droht mit einer Schließung der Gesamtuniversität. An vielen Instituten finden Vollversammlungen der Studierenden statt, Basisgruppen formieren sich. Lehrveranstaltungen werden zu Orten, an denen über die Lage diskutiert wird. Es kommt immer wieder zu Demonstrationen. Im Februar schließt der Rektor das Hörsaalgebäude der Universität.5 Die Studenten – und nicht nur die sozialistischen Studenten des SDS – fordern Demokratie, Reformen und mehr Mitbestimmung an der Universität; eine wirkliche Radikalisierung hat aber noch nicht stattgefunden. Auch der RCDS spricht sich für die »Drittelparität« aus, d. h. Professoren, Dozenten und Studierende sollen in den Gremien der Universität in gleicher Zahl, mit gleichem Stimmrecht vertreten sein.6 Noch vor Beginn des Sommersemesters 1969 verabschiedet die Grundordnungsversammlung trotz des Boykotts durch die Studierenden eine neue Grundordnung. Diese löst die Satzung der Universität von 1945 ab, gliedert die Universität neu und nimmt die in Aussicht gestellte Mitwirkung der Studierenden nicht auf. Dies führt zu einer ungeheuren Mobilisierung der Studierenden. Es kommt zu einem Streik, der zum Ausfall von 80 % der Lehrveranstaltungen führt.

Auch am Evangelisch-Theologischen Institut kommt es in dieser Zeit zu Protesten. Veranstaltungen werden zum Teil boykottiert bzw. »gesprengt« – so das homiletische Hauptseminar von Professor Manfred Seitz im WS 1968/69, der darüber eigens einen Bericht verfasst hat. 7 Während eines Seminargottesdienstes mit Predigtübung in der Peterskirche im Januar 1969 kommen zusätzlich zu den Seminarteilnehmenden weitere Personen dazu, so dass außer den 30 das Seminar besuchenden Studierenden weitere 70 Personen am Gottesdienst teilnehmen. Nachdem eine Studentin aus dem Seminar eine erste Probepredigt gehalten hat, versuchen die Hinzugekommenen, mit einer Gegenrede zu starten, die wiederum die am Seminar teilnehmenden Studierenden mit Gesang stören.

Schon im November 1968 hat es im gleichen Seminar die »Predigt« eines Seminarteilnehmers ebenfalls in der Peterskirche gegeben, in der dieser eine »Begründung, warum über Apokalypse 7,9–17 nicht zu predigen sei« verlesen hatte. Der Student schloss seinen Vortrag mit der zweiten Strophe der Internationale: »Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun; uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.«8 Der Seminarleiter löschte daraufhin die brennenden Kerzen am Altar. Seitz begründete diese Aktion später so: »Wo Gott geleugnet wird, ist der Gottesdienst zu Ende.«9

Auch Seitz’ Vorlesung »Praktische Theologie und Sakramente« wird gestört, ebenso wie die Vorlesung des Systematischen Theologen Edmund Schlink. Seitz selbst beschließt seinen Bericht mit einem optimistischen Resümee:

»Es mag deutlich geworden sein, unter welchen Umständen gegenwärtig Theologie gelehrt und studiert werden muß. Aber es lohnt sich mehr denn je. Darum sei an dieser Stelle allen gedankt, denen, die mit mir zusammengearbeitet, denen, die mit mir gestritten haben, und denen, die teils dies, teils das getan haben. Dadurch ist eine Situation entstanden, in der der Glaube und das Bemühen, ihn theologisch zu verantworten, wieder teuer zu werden beginnt. Das allein entspricht seinem Wesen.«10

Dass die Weise, wie der Glaube theologisch zu verantworten sei, auch bei den Studierenden selbst umstritten ist, zeigt eine andere öffentlich geführte Auseinandersetzung. Eine selbst ernannte »basisgruppe theologie« kommentierte einen Gottesdienst und ein Gespräch mit dem damaligen Landesbischof Heidland folgendermaßen: »Episkopaler Versöhnungsschleim und subalterne Liberalscheiße sind die Exkremente der herrschenden Theologie.« Die Mitglieder der Gruppe betrachten sowohl den Landesbischof wie die anwesende bürgerliche Gemeinde als die »Repräsentanten der herrschenden Instanzen«, deren »Versöhnungsschleim […] nicht zum Abbau bestehender Widersprüche« diene.11 Dagegen wendet sich eine andere alternative theologische Gruppe. Sie positioniert sich dezidiert gegen diese Diffamierungskampagnen der Basisgruppe und fordert stattdessen eine Öffnung der Universität, um im Dialog mit den Professoren die »Dialektik rationalen Denkens im Studium selbst […] gegen ihre Professoren« anzuwenden.12

Unter dem evangelischen Theologen Rolf Rendtorff als Reformrektor beruhigt sich ab 1970 die Lage an der Universität Heidelberg.

Rolf R. sucht zunächst Anschluss an die politische Führung der Studentenbewegung in Heidelberg, wobei er sich aber eher konservativ zu orientieren scheint: Zwei Semester lang ist er Mitglied im Heidelberger Studentenparlament und hat sich – nach eigener Aussage – mehr für die Hochschulpolitik als für sein Studium engagiert.13 Ob Rolf R. sich beim RCDS engagierte, ist nicht...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • eBooks • EKHN • forum studie • Missbrauch in der katholischen Kirche • missbrauch schutzbefohlener • Neuerscheinung • Odenwaldschule • Sexuelle Ausbeutung • Sexuelle Gewalt • Sexueller Missbrauch in der Kirche • Vertuschung
ISBN-10 3-641-32205-7 / 3641322057
ISBN-13 978-3-641-32205-2 / 9783641322052
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