Von der Weltmacht zum Weltkrisenherd (eBook)
240 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31559-7 (ISBN)
Der Zerfall einer Weltmacht: Es war die Zeit der tiefen Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, als sich von März 1990 bis Dezember 1991 ehemalige Sowjetrepubliken, darunter auch deren Teilgebiete, für unabhängig erklärten: das Ende der Sowjetunion. Vielfach folgten willkürliche Grenzziehungen. Diese Konfliktherde schwelen seitdem und flackern immer wieder auf - weitestgehend unter dem Radar westlicher Berichterstattung. Ethnische Gruppen streben die Souveränität von den neu entstandenen Staaten an: Bergkarabach von Aserbaidschan, Südossetien und Abchasien von Georgien, Transnistrien von Moldau. Pro-russische Kräfte vor Ort unterstützen dies oftmals, gesteuert von Moskau. Auf der Krim und in der Ost-Ukraine war das so - und führte schließlich zum Krieg.
Der Journalist und Moskau-Korrespondent Jo Angerer erläutert die historischen Hintergründe der Konfliktregionen auf postsowjetischem Gebiet, ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart und geht der Frage nach, was der Westen diplomatisch besser machen muss. Dafür bereist er Grenzregionen, spricht mit Expert*innen, Zeitzeug*innen und Menschen, die vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine geflohen sind, darunter Ukrainer*innen und Russ*innen - die sich nun an anderen Konfliktzonen wiederfinden. Die ehemalige Sowjetunion ist von der Weltmacht zum Weltkrisenherd geworden. Was muss geschehen, damit zukünftige Kriege vermieden werden?
Jo Angerer, geboren 1956, begann seine journalistische Karriere beim Bayerischen Rundfunk in München. Später arbeitete er für das ARD-Magazin MONITOR, war Autor und Redakteur vieler Dokumentationen in der ARD und im WDR-Fernsehen. Investigative Recherche, Friedens- und Sicherheitspolitik sind sein Spezialgebiet. Seit 2019 lebt und arbeitet er als Korrespondent in Moskau. Zunächst für die ARD und heute für die Zeitung DER STANDARD. Dass Widerstand oftmals weiblich ist, konnte Jo Angerer in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion beobachten, wo gerade die Frauen um grundlegende Menschenrechte kämpfen.
Zeitenwende –
Sind wir noch die Guten?
Es war der 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz ans Rednerpult des Deutschen Bundestags trat. Mit offenem Mund verfolgten viele Abgeordnete und auch viele Zuschauer im Fernsehen das, was der Kanzler quasi im Alleingang verkündete: die »Zeitenwende«.
»Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage«, erklärte der Kanzler in einem für ihn ungewohnt harten Tonfall. »Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.«
Niemand, auch ich nicht, ahnte an jenem Tag, wie tief die Zeitenwende in das Leben jedes Einzelnen in Deutschland eingreifen würde. Dabei stand der Sinn den meisten Menschen nach ganz anderen Dingen. Gerade erst war die große Krise überwunden, die Corona-Pandemie. Ein »normales« Leben schien wieder in Sicht, mit einem Alltag ohne Beschränkungen oder große politische Sorgen. Es kam anders.
Olaf Scholz: »Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Wir erleben eine Zeitenwende.«
Die deutsche, die europäische Politik vollzog die Zeitenwende. Politikerinnen und Politiker der Grünen, früher dem Frieden, der Abrüstung, dem strikten Verbot von Rüstungsexporten in Spannungs- oder gar Kriegsgebiete verpflichtet, forderten nun fast schrankenlose Waffenlieferungen in die Ukraine. An vorderster Front stand Anton Hofreiter, eigentlich Agrarpolitiker. Als Scholz später zögerte, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu überlassen, nannte Hofreiter es »ein großes Problem«, ständig »monatelang über ein Waffensystem zu diskutieren, um es dann zu spät zu liefern«. Man solle »Entschlossenheit« zeigen.
Die Zeitenwende teilte die Welt in zwei Hälften: Wir sind die Guten, Putin ist der Böse. Die Folgen waren zeitweise enorm gestiegene Strom- und Gaspreise, die deutsche Wirtschaft wurde zur Leidtragenden. Ukrainische Flüchtlinge wurden in vielen Kommunen zur Belastung, fast überall in Europa erstarken rechte Parteien. Die erste Quittung in Deutschland kam zur Europawahl 2024. Die Konservativen erstarkten, die Grünen stürzten ab, und die AfD, die der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Verdachtsfall führt, legte allen Skandalen zum Trotz um fast fünf Prozentpunkte auf rund 16 Prozent zu.
Die Konfrontation der Blöcke ist wieder da. Zu Zeiten des Kalten Krieges standen sich Ost und West unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite die Sowjetunion und ihre Verbündeten, die Staaten des »Warschauer Vertrages«. Und auf der anderen die USA und die NATO. Russland schafft heute mit der Achse zu China und anderen Ländern eine »multipolare Welt« gegen die Vormachtstellung der USA. Europa wird dabei an den Rand gedrängt. Das ist für die Europäer nicht schön, vor allem aber ist es eine Situation, in der Arroganz mehr denn je fehl am Platz wäre. Wir sind nicht per se die Guten oder gar die Besseren. Wir sind Teil einer neuen Weltordnung, in der andere Staaten bedeutender werden, vor allem die Länder des Globalen Südens. Wir dominieren nicht wirtschaftlich und schon gar nicht militärisch. Diplomatisch zwingt das zur Suche nach Kompromissen und Konsens – in ferner Zukunft vielleicht auch mit Russland.
Aber wann begann die Zeitenwende? Mit der Invasion Russlands in der Ukraine, die ich, wie die meisten Menschen, verurteile?
Ich denke, sie begann viel früher, mit dem Zerfall der Sowjetunion. Deren Existenz endete am 26. Dezember 1991. Die Menschen in Ost und West feierten das Ende des Kalten Krieges, das Ende der Konfrontation der Blöcke; das Gespenst des Atomkrieges schien gebannt. So dachten wir. In Wirklichkeit existierten all die Probleme weiter, die zum Ruin der Weltmacht geführt hatten. Wir nahmen sie nur nicht mehr wahr.
Neue Nationalstaaten entstanden. Zum Teil waren die Grenzziehungen willkürlich, nicht immer verliefen sie entlang ethnischer Trennlinien. Länder, die zum Warschauer Pakt gehörten, dem sowjetischen Hinterhof, agierten nun selbstständig. Manche Regionen, wie etwa Transnistrien, das völkerrechtlich zu Moldau gehört, wollten selbstständig werden – wurden aber international nicht anerkannt. Solange diese Staaten und Regionen im Einflussbereich Russlands blieben, war das oft kein Problem. Doch mit der zunehmenden Westorientierung mancher der neuen Staaten änderte sich das.
Das galt spätestens, als nach einer Phase voll innenpolitischer Wirren, Oligarchenkämpfe und der Verarmung weiter Bevölkerungsteile in Russland ein Mann an die Macht kam, der sein Land zu erneuter weltpolitischer Größe führen wollte und will: Wladimir Wladimirowitsch Putin.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion versuchte der Westen einen »Reset« der Beziehungen mit dem postsowjetischen Raum, allerdings ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der russischen Politik. Eine Anekdote aus dem Frühjahr 2009 bleibt in Erinnerung. Die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton überreichte ihrem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow ein gelbes Kästchen mit einem roten »Reset«-Button. Beide drückten den symbolischen Knopf. Dann aber las Lawrow die russische Aufschrift. Nicht »Neustart« stand da auf Russisch, sondern »Überladung«. Schlicht ein Übersetzungsfehler, aber ein symbolischer.
Vor allem die NATO-Osterweiterung besorgte Russland. Bereits im März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis bei. Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien folgten 2004, Albanien und Kroatien 2009, Montenegro 2017, Nordmazedonien 2020. Glaubt man dem früheren NATO-Generalsekretär George Robertson, hat sogar Wladimir Putin kurz nach seinem Amtsantritt Interesse an einem NATO-Betritt geäußert. Der Brite Robertson habe abwehrend gesagt, üblicherweise würden Staaten einen Beitrittsantrag stellen. Und Putin habe geantwortet: »Nun, wir stehen nicht in einer Warteschlange mit vielen anderen Ländern, die keine Rolle spielen.« So zumindest zitiert der britische Guardian im November 2021 den Ex-Generalsekretär.
Russlands Bedeutung? Der frühere US-Präsident Barack Obama verspottete das Land als »Regionalmacht«. Putin dürfte er damit tief getroffen haben.
Der postsowjetische Raum ist ein Pulverfass. »Wandel durch Handel« hieß das Konzept, das etwa die deutsche Politik dagegensetzte. Gute Wirtschaftsbeziehungen in beidseitigem Interesse waren jahrzehntelang das Grundprinzip. Nach wie vor halte ich das für richtig, auch wenn es heute scharf kritisiert wird. Die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung, sagte im Interview mit der ARD Tagesschau im Juni 2022: »Man ging dabei davon aus, dass wirtschaftliche Verflechtung, auch kultureller und politischer Austausch, dazu beitragen, dass man friedlich koexistiert. Das Aggressionspotenzial und der Wille zu einer imperialistischen Machtausdehnung wurden dabei unterschätzt.«
Der Kreml handelt nach einem politischen Konzept, das »Russki Mir« heißt, »Russische Welt«. Darunter versteht Putin »Millionen Menschen, die auf Russisch sprechen, denken und fühlen«, die aber außerhalb der Russischen Föderation leben, wie er in einer Rede bereits 2001 erklärte. »Man kann Wirtschaft und Kultur nicht diskriminieren, nur weil sie russisch sind.« Putin meinte vor allem auch die Russinnen und Russen, die in früheren Sowjetrepubliken leben, die sich dem Westen zugewandt haben oder auf dem Weg dorthin sind.
»Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine markierten für die Idee der Russki Mir den endgültigen Übergang von einer diskursiven Imperiums- und Nationsbildung in den Bereich politischer Programmatik«, schreibt der Slavist Oleksandr Zabirko in einem Aufsatz, veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung. In einer Rede vom März 2014 beschrieb Putin die Russen als »geteiltes Volk« – und hoffte auf das Verständnis von Deutschland als ehemals geteiltem Land für das »Streben der russischen Welt und des historischen Russlands nach Wiederherstellung der Einheit«.
Putins Konzept der Russischen Welt hat unmittelbar Konsequenzen. Für den Donbass zum Beispiel. Völkerrechtlich ist das Gebiet in der Ostukraine unstrittig Teil der Ukraine, die 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Doch der Donbass ist überwiegend russisch besiedelt. Diese Besiedelung begann früh, und das hat mit einem Briten namens John Hughes zu tun. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Region industriell erschlossen, als große Steinkohlevorkommen und Eisenerzlagerstätten entdeckt wurden. Hughes, ein in der englischen Rüstungsindustrie tätiger Ingenieur, entwarf Stahlpanzerungen für Kriegsschiffe und Geschütze. Das interessierte auch den russischen Zaren Alexander II., zu dessen Zarenreich der Donbass damals gehörte. 1869 bekam John Hughes den Auftrag für eine neues Stahlwerk. Die Siedlung rund um das Werk erhielt seinen Namen: Jusowka. Sie wuchs rasch, sehr viele Russen wanderten zu und fanden dort Arbeit. 1924, nach der Oktoberrevolution, wurde die Stadt zu Ehren Stalins in Stalino umbenannt. Heute kennen wir sie unter dem Namen Donezk.
In der russischen Politik wird die Invasion in die Ukraine als Akt der Güte dargestellt: Wir...
Erscheint lt. Verlag | 16.10.2024 |
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Zusatzinfo | mit 8-seitigem vierfarbigem Bildteil |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Angriffskrieg • Armenien • Außenpolitik • Bergkarabach • der fluch des imperiums • Diplomatie • eBooks • fundiert • Geographie • Geschichte • Geschichtsschreibung • Journalist • Katrin Eigendorf • Krieg • Krim • Krisenherde • Martin Schulze Wessel • Moldau • Moskau • Neuerscheinung • Postsowjetisch • Putin • Putins Krieg • Rüdiger von Fritsch • Russland • Sachbuch • Sowjetunion • Soziologie • Südossetien • Transnistrien • Ukraine • Unabhängigkeit • weltkrisen • Weltmacht • Zeitenwende • Zusammenbruch Sowjetunion |
ISBN-10 | 3-641-31559-X / 364131559X |
ISBN-13 | 978-3-641-31559-7 / 9783641315597 |
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