Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol. (eBook)
199 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31990-8 (ISBN)
Am Abend seines 44. Geburtstags entschließt sich der Autor Felix Hutt, seinen Alkoholkonsum radikal zu ändern. Ein Jahr lang will er keinen Alkohol trinken: nicht beim Fußballschauen, nicht beim Feiern, auf keiner Hochzeit und auch nicht auf dem Oktoberfest. Was wird das mit ihm und seinem Umfeld machen, wenn er auf einmal mit einem Glas Wasser bei seinen Freunden in der Kneipe sitzt?
Hutt erzählt aus der Perspektive der bürgerlichen Mitte, die den Alltagsalkoholismus lebt, ihn aber nicht als ihr Problem anerkennen will. Alkis sind immer die anderen, nämlich die mit dem Tetrapak auf der Parkbank, nicht man selbst mit dem teuren Rotwein. Oder? Ein Bierchen in Ehren kann schließlich niemand verwehren. Aber ab wann werden es zu viele Biere, ab wann wird der eigene Alkoholkonsum gefährlich?
In Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol stellt Hutt vor allem das männliche Trinkverhalten infrage, den Gruppenzwang, die von den Vätern vererbten Verhaltensmuster. Während seines langen Jahres des Nüchternwerdens widerfahren ihm traurige, erschütternde, aber auch Mut machende Dinge, stolpert er und rappelt sich wieder auf. Er lernt seine Freunde neu kennen, vor allem aber sich selbst.
Authentisch, scharf beobachtet und mit schonungsloser Ehrlichkeit reflektiert Hutt sein Trinkverhalten, was es mit der Gesellschaft, in der wir leben, zu tun hat - und warum sich ein Umdenken für uns alle lohnen könnte.
Felix Hutt, geboren 1979, ist Autor und Investigativ-Reporter. Das Stilmittel des Selbstversuchs nutzt er seit Jahren für seine Reportagen, Bücher und Filme, um seine Recherchen auch für andere unmittelbar erfahrbar zu machen. In seinem neuen Buch Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol widmet er sich dem Alkohol, der Abstinenz und der Freiheit, die im Rausch der Nüchternheit liegt.
Kapitel 1
Charlie Sheen und der Anfang vom Ende
Ein paar Monate nachdem ich auf der Geburtstagsfeier für meine dreijährige Tochter an der Isar betrunken auf ein Weinglas gefallen war und den Rest der Party mit einer tiefen Schnittwunde in meiner linken Hand in der Notaufnahme im Krankenhaus verbracht hatte, traf ich noch einmal Charlie Sheen. Ich konnte nicht einfach in die Abstinenz verschwinden, ohne mich von ihm zu verabschieden. Charlie war mir über die Jahre ans Herz gewachsen, ein verlässlicher Freund geworden, der die richtigen Knöpfe drückte, so etwas wie mein perfekter Drink: Bourbon-Whiskey, Grapefruit- und Honigsirup, Blutorangensaft, geschüttelt und über zwei große, scharfkantige Eiswürfel gegossen. Ich trank den Sheen am liebsten hier, im Hey Luigi, einem meiner Stammlokale im Münchner Glockenbachviertel, wo er in einem eleganten Old-Fashioned-Glas serviert wurde. Eine leuchtend rote Schönheit, mein Charlie, da gab es keine zwei Meinungen.
Im Hintergrund schepperten die Smashing Pumpkins und Neil Young aus den Boxen. Auf dem Aufkleber über der Bar stand »Fuck AfD«. Eine Kneipe wie eine zweite Heimat – auf dein Wohl, Charlie! O Gott, wie würde ich diese sanften Anfänge eines Rausches vermissen. Das Herantrinken an die Aus-Taste, mit der ich meine Sorgen für ein paar Stunden abschaltete. Schluck für Schluck die Gedanken an meinen stressigen Alltag als Ehemann, Vater und Reporter, an den Druck, alles immer irgendwie unter einen Hut bringen zu müssen, hinter einem alkoholisierten Nebel versteckte. Charlie wirkte auf mich wie ein flüssiges Mental-Anästhetikum. Ihm gelang es, den Schleudergang in meinem Kopf zu besänftigen.
Es war der Abend des 31. Januar 2023, am nächsten Tag würde ich vierundvierzig Jahre alt werden. Ein Mann in der Mitte seines Lebens, bei sich angekommen, so mag ich auf meinem Barhocker auf die anderen Gäste gewirkt haben, aber in mir sah es anders aus. Ich ertrug mich nicht mehr. Diesen Typen, der soff, um zu verdrängen. Sorry, Charlie, aber was hätten wir uns denn ohne deinen Promillegehalt zu sagen? Warum saß ich mit dir herum, am Abend vor meinem Geburtstag, und war nicht zu Hause, bei meiner Frau, meiner Tochter, unserem Hund? Sehnte ich mich nach dir, nach unserer Freundschaft, oder war ich längst abhängig von deinem Stoff, dem Alkohol?
Ich brauchte dringend eine Veränderung. Wollte aufhören mit dem Betäuben, einen neuen Takt in mein Leben einziehen lassen. Meine Tochter sollte ihren Vater nie wieder in einem so desolaten Zustand wie auf ihrer Geburtstagsfeier erleben müssen. Draußen blies ein eisiger Wind durch die Straßen.
Die ersten Schlucke gingen dermaßen schnell runter, dass ich wünschte, ich hätte mir gleich zwei Charlie Sheens bestellt. Einen gegen den Durst und einen zweiten, um den einsetzenden Rausch zu beschleunigen. Begann der Alkohol erst mal das Chaos zu beruhigen, löste bald betrunkene Euphorie meine problembehafteten Grübeleien ab; ein scheinbar sorgloser Zustand, nach dem ich, ja, wahrscheinlich süchtig geworden war. Ohne Charlie kam ich manchmal mit meinem Leben nicht klar. Doch mit ihm verschwanden meine Probleme auch nicht, im Gegenteil, verkatert bedrückten sie mich noch mehr.
Ich fühlte mich hilflos. In einer Sackgasse. Gefangen in meinem Alltagsalkoholismus. Machte weiter, streckte meine Saufabende mit Charlie Sheen und anderen Drinks bis tief in die Nacht. Am Tresen genügte ich mir selbst, auch wenn es mit gleichgesinnten Freunden natürlich noch mehr Spaß machte. Gleichgesinnt im Sinne von parallelem Promilleaufbau.
Von den vielen Wegen zum Rausch gefiel mir der mit meinem Freund Charlie am besten. Der Bourbon wärmte mir den Magen, und der Blutorangensaft sorgte für ein erfrischendes Gefühl im Mund, leicht und fruchtig, ganz anders als die Sturzbetankungen mit Bier, bei denen sich nach einer Weile ein ranziger Geschmack im Gaumen ausbreitete, oder die bitteren Abgänge der Negronis oder Mezcals.
Wenn ich ehrlich war, und das traute ich mir bislang noch nicht einmal selbst so richtig einzugestehen, bekamen mir die meisten alkoholischen Getränke eigentlich gar nicht. Auf Champagner folgte Sodbrennen, egal, wie exquisit der Jahrgang und das Anbaugebiet. Beim Rotwein besuchte mich schon während des Trinkens eine alte Freundin, die Migräne, was mich aber selten gestoppt hatte. Wofür gab es schließlich Aspirin? Ich benötigte Orangensaft oder Red Bull, um Wodka hinunterzubekommen, Cola für Rum, Limettensaft und Zucker für Tequila (Margarita), die Gesellschaft und die Anlässe für Bier und Schnaps.
Wäre es nach meinem ureigensten Verständnis von Genuss gegangen die letzten dreißig Jahre, dann hätte ich mir gelegentlich ein Augustiner-Bier vom Fass gegönnt, nach einem geselligen Abendessen mal einen Gin Tonic, und ich hätte im Urlaub an der ein oder anderen Weinverkostung teilgenommen, auch wenn ich dem wichtigtuerischen Rumgeschwenke der vermeintlichen Weinkenner nichts abhaben konnte. Mehr nicht. Am liebsten trank ich cremigen italienischen Espresso und kaltes stilles Wasser.
In unserer Wohnung konsumierte ich selten Alkohol. Bei der Auswahl von Gesellschaft und Anlässen war ich dafür mit der Zeit immer flexibler geworden. Und wenn der Kellner am Ende des Abends den ultimativen Männlichkeitsbeweis auf einem Tablett an den Tisch brachte, die Kurzen – Korn im Norden Deutschlands, Obstler im Süden, Ouzo beim Griechen, Grappa beim Stammitaliener, Sliwowitz im Dalmatiner Grill, Jägermeister beim Après-Ski – dann schluckte ich mit, obwohl mich der Geschmack ekelte und ich mich nach den Schnäpsen häufig noch in der Nacht oder spätestens am nächsten Morgen erbrach. Aber hey, Männer, wen interessiert schon der nächste Morgen? Schließlich leben wir nur einmal, und so jung kommen wir nicht mehr zusammen, und der Klügere kippt nach, und darauf ein: »Zickezacke zickezacke, hey hey hey, zickezacke zickezacke, hey hey hey! Prost, ihr Säcke! Prost, du Sack!«
Meine Freunde und ich gehörten zur Gruppe der normalen Trinker, die alles im Griff hatten. Das glaubte ich zumindest. Wir waren fröhliche Mitglieder der alkoholisierten Mittelschicht mit den gleichen Saufritualen wie Millionen anderer Männer auch: zweimal die Woche ins Restaurant oder in die Kneipe, ein bisschen absacken. Nach der Arbeit Druck ablassen mit ein, zwei Pils oder Hefeweizen, unterwegs gerne mal im ICE-Bordrestaurant oder an der Flughafenbar. Nach dem Kicken ein Kasten Augustiner mit den Kumpeln. Am Samstagabend ein gepflegter Absturz, warum auch nicht, schließlich war am Sonntag frei. Und dann natürlich Vollgas bei Junggesellenabschieden, Klassentreffen, Geburtstagen, Taufen, Verlobungsfeiern, Hochzeiten, Vatertagsausflügen, Wochenendtrips, Beerdigungen, Weihnachtsfeiern, Skireisen, Volks-, Wald- und Sommerfesten, Konzerten, Frühschoppen, anlässlich von Beförderungen, Ein- und Ausständen, an den Champions-League-Abenden im Stadion oder vor dem Beamer, an Silvester und im Karneval, auf dem Oktoberfest, beim Maibaumaufstellen, im Biergarten, am See, und im Urlaub selbstverständlich auch, weil, zur Entspannung nach einem harten Jahr durfte man sich schon ein paar Cervezas, Cocktails und das ein oder andere Fläschchen Wein gönnen, oder etwa nicht?
Ich tat mich schwer, in unseren Trinkgewohnheiten so etwas wie Sucht zu erkennen. Sie kamen mir gewöhnlich vor. Vielleicht lag darin mein Problem. Keiner von uns war je mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet, niemand hatte seine Ehe oder sein Konto in den Ruin gesoffen. Wir funktionierten in unserem Alltag. Dass man mal stolperte und eine Wunde genäht werden musste – geschenkt. Passierte schließlich auch den Nüchternen.
Ich war ein ambitionierter Tennisspieler und lief den Halbmarathon in unter zwei Stunden. Konnte mich gut konzentrieren, hatte keine gesundheitlichen Probleme, eine kleine Familie und einen Job. Ich hatte kein Alkoholproblem, wenn man es so definierte, wie es die bürgerliche Mittelschicht tat. Alkis stanken, lallten, lagen vor dem Hauptbahnhof oder in der Fußgängerzone und pinkelten sich an. Alkis hatten die Kontrolle verloren, das würde uns doch nie passieren. Wir lebten nach dem Motto »Work hard, play hard«, auf Anspannung folgte Entspannung, und für die sorgten eben Charlie Sheen und Co., klar, wieso auch nicht?
Ich trank in dem mir vorgegebenen Rahmen meiner männlichen Sozialisation. Dieser Rahmen war groß und breit angelegt, da bedurfte es keiner Ausnahmegenehmigungen, weil die Ausnahmen die Regel waren. Den Frühschoppen an Heiligabend verließ keiner nüchtern, egal, wie betrunken wir danach beim Weihnachtsessen saßen (und meistens einfach weiterprosteten, weil das in den Familien zum Heiligabendritual gehörte wie die Gans oder der Karpfen). Spielte Bayern München, tranken wir. Vatertag bedeutete, Papa meldete sich um zehn Uhr vormittags ab und kam sternhagelvoll nach Hause, wenn er denn den Heimweg fand und nicht auswärts nächtigte. Viele unserer Beziehungen hatten im Rausch begonnen, weil wir zu feige gewesen waren, Frauen nüchtern anzusprechen. Musste man dem Alkohol für die ermöglichte Zweisamkeit sogar noch dankbar sein? Oder war das aus heutiger Sicht einfach nur traurig?
Warum wir tranken, mag unterschiedliche persönliche Motivationen und Ursachen gehabt haben, aber dass wir tranken, wenn wir uns trafen, stand für uns nicht zur Disposition. Dabei waren wir uns über eine unausgesprochene Etikette einig: Die Abgrenzung zum Asozialen musste gegeben sein. Wir schlugen uns nicht. Niemand von uns schlief besoffen auf Parkbänken ein. Wir rissen uns zusammen, wenn die Kinder in der Nähe waren. Wachten mal mit einem zerfledderten Döner...
Erscheint lt. Verlag | 18.12.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Abstinenz • Alkohol • Alkoholabhängigkeit • Allen Carr • Bas Kast • challenge • Daniel Schreiber • Drogen • dry January • eBooks • Endlich ohne Alkohol • eva biriniger • gelegenheitstrinker • gernot rücker • Gesundheit • holly whitaker • Jenke von Wilmsdorff • Jenny Elvers • Junggesellenabschied • mia gatow • Mimi Fiedler • Nathalie Stüben • Neuerscheinung • Nüchtern • ohne Alkohol • Oktoberfest • prof. dr. falk kiefer • Quit Like a Woman • Rausch • rausch und klarheit • sober • sober october • sternhagelnüchtern • Sucht • Trinken • Trinkerbelle • Unabhängig • warum ich keinen alkohol mehr trinke |
ISBN-10 | 3-641-31990-0 / 3641319900 |
ISBN-13 | 978-3-641-31990-8 / 9783641319908 |
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