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Alles nur Einzelfälle? (eBook)

Spiegel-Bestseller
Das System hinter der Polizeigewalt
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60846-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles nur Einzelfälle? -  Mohamed Amjahid
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Rassistische und antisemitische Polizei-Chats, Machtmissbrauch im Amt, Racial Profiling, weit verzweigte rechtsextreme Netzwerke, tödliche Polizeigewalt - laut Innenministerien und Sicherheitsbehörden alles nur Einzelfälle. Doch basierend auf repräsentativen Studien, langjährigen investigativen Recherchen und persönlichen Erlebnissen deckt Mohamed Amjahid auf, wie tief das Polizeiproblem in Deutschlands Sicherheitsarchitektur verwurzelt ist. Von der systematischen Vertuschung von Machtmissbrauch bis hin zum NSU 2.0: Dieses Buch erschüttert das Grundvertrauen in die Institution Polizei und fordert eine ehrliche Debatte über das Polizeiproblem.

Mohamed Amjahid, 1988 in Frankfurt a. M. geboren, ist politischer Journalist, Buchautor und Moderator. Er schreibt für mehrere Medien wie ZEIT, Spiegel, taz und Süddeutsche Zeitung und wurde unter anderem mit dem Alexander-Rhomberg-Preis und dem Nannen-Preis ausgezeichnet. Amjahid ist Fellow im Thomas-Mann-House in Los Angeles. Für seine Bücher »Unter Weißen« und »Der weiße Fleck« hat Amjahid viel Aufmerksamkeit bekommen. Er lebt in Berlin.

Mohamed Amjahid, 1988 in Frankfurt a. M. geboren, ist politischer Journalist, Buchautor und Moderator. Er schreibt für mehrere Medien wie ZEIT, Spiegel, taz und Süddeutsche Zeitung und wurde unter anderem mit dem Alexander-Rhomberg-Preis und dem Nannen-Preis ausgezeichnet. Amjahid ist Fellow im Thomas-Mann-House in Los Angeles. Für seine Bücher »Unter Weißen« und »Der weiße Fleck« hat Amjahid viel Aufmerksamkeit bekommen. Er lebt in Berlin.

Nach der Kritik:

Es blieb allerdings nicht nur bei Hinweisen im Netz. Fast zeitgleich fanden in Berlin Razzien gegen die Klimaaktivist*innen statt. Daraufhin warf Carla Hinrichs, die Sprecherin der Gruppe, der Berliner Polizei vor, sie bei einer Durchsuchung mit vorgehaltener Waffe geweckt zu haben.[165] So als wäre sie eine Terroristin, kurz davor, ein Attentat zu verüben. In Regensburg wurden Klimaaktivist*innen präventiv in Polizeigewahrsam genommen.[166] Also noch bevor sie mutmaßlich überhaupt eine Straftat begehen konnten. Das sind polizeiliche und juristische Hebel, die Diktaturen ausmachen. In mehreren weiteren Fällen wurden seitdem unverhältnismäßige Maßnahmen gegen die Aktivist*innen dokumentiert oder der Polizei vorgeworfen: Auf einem Video vom September 2023 war zum Beispiel zu sehen, wie eine Polizistin in Mannheim Öl über den Kopf einer Aktivistin geschüttet hat. Später wird die »Letzte Generation« derselben Beamt*in vorwerfen, sie habe mehrere Aktivist*innen gezwungen, sich nackt auszuziehen, und sie daraufhin gedemütigt.[167] Die Ermittlungen gegen die Polizistin wurden trotz Videobeweis wenige Wochen später von der Staatsanwaltschaft Mannheim eingestellt.[168] Ein ähnlicher Fall aus Niedersachsen endete im März 2024 mit einer Klage – gegen eine betroffene Aktivistin, die sich wegen einer unverhältnismäßigen Gewaltanwendung beschwert hatte und der daraufhin von der Polizei »falsche Verdächtigung« vorgeworfen wurde.[169] Ebenfalls im März 2024 schockierten Videos[170] von Beamt*innen in Berlin, die minderjährigen Klimaaktivist*innen mit Gewalt begegneten. Ein Beamter drückte sein Knie gegen den Kopf einer Jugendlichen auf dem Boden, die schrie und weinte vor Schmerz.[171] Schon im Oktober 2023 wurde bekannt, dass deutsche Sicherheitsbehörden massenweise Daten von (teils minderjährigen) Klimaaktivist*innen abgeschöpft haben – teilweise weil sie im Netz Sticker zum Thema Klimaschutz bestellt hatten.[172] Zu dieser Eskalation gegenüber Demonstrant*innen haben Staatsanwält*innen und Richter*innen, aber auch Politiker*innen und natürlich Polizeibehörden in Deutschland beigetragen.

Wie deutsche Gerichte bei der Aufklärung von (tödlicher) Polizeigewalt komplett versagen, zeigt der Fall von Oury Jalloh. Um zu verstehen, wie hier die deutsche Justiz mehr verschleiert, als dass sie für Gerechtigkeit sorgt, habe ich in den vergangenen Jahren mit den Aktivist*innen der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« gesprochen und sie in ihrem Kampf gegen die juristische Willkür und Polizeifreundlichkeit der Justiz begleitet. Vor allem Freund*innen von Oury Jalloh haben seit Jahren penibel Beweise gesammelt, mit kritischen Jurist*innen kooperiert und die Ergebnisse kräftezehrend in die Öffentlichkeit getragen.

Mouctar Bah lässt sich in ein flauschiges rotes Sofa in der Ecke eines Kreuzberger Cafés fallen. Auf seinem schwarzen Kapuzenpulli ist auf Höhe der Brust ein großzügiger, weißer Schriftzug zu lesen: »Oury Jalloh. Wir sind da!!!« Seit nun fast zwanzig Jahren arbeitet Bah mit mehreren Mitstreiter*innen unermüdlich daran, den Tod seines besten Freundes aufzuklären. Denn für Bah ist mittlerweile sehr klar, was am 7. Januar 2005 passiert sein muss, kurz bevor die verkohlte Leiche von Oury Jalloh im Keller einer Dessauer Polizeiwache entdeckt wurde: »Wir haben diesen Fall mit unserer Initiative längst aufgeklärt. Wir wissen genau, was passiert ist. Das war Mord! Wir müssen aber darauf warten, dass die Verbrecher alles für sich selbst aufklären. Das wird aber nie passieren.« Ich bin an dieser Stelle rechtlich verpflichtet zu erwähnen, dass die Polizei in Dessau und die beschuldigten Polizist*innen, die damals im Revier anwesend waren, den Vorwurf des Mordes von sich weisen und die Darstellung der Initiative Oury Jalloh ablehnen.

Mouctar Bah lehnt sich vor. Sein Handy-Akku ist bald leer, er will aber unbedingt noch ein Video vorspielen, dass die Faktenlage zum Tod von Oury Jalloh gut illustriere. Das Video stammt vom LKA Sachsen-Anhalt. Es zeigt die erste Begehung der Sicherheitsbehörden im Januar 2005 am Tatort in der Wache Wolfgangstraße in Dessau. Für den Ermittler, der die Kamera hält, ist von Anfang an klar, dass sich der damals 37-jährige Jalloh selbst angezündet habe. Es ist eine der ersten Behauptungen, die im Video zu hören sind. Monate und Jahre später werden mehrere Gutachten und Hinweise die Theorie des Selbstmords widerlegen. Über Jahre hat die »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« akribisch Beweise gesammelt, Demonstrationen organisiert, investigative Journalist*innen mit Informationen versorgt: Passiert ist nichts. Die Schuldigen am Tod von Jalloh wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen. Und diese bittere Realität ist für Bah mehr als nur frustrierend. Er macht eine kurze Pause. Atmet tief durch. Trinkt einen Schluck Wasser. Schüttelt den Kopf.

»Ich vertraue dem System nicht mehr«, sagt Mouctar Bah, als er sich wieder gefangen hat. Er kann sich noch gut an Diskussionen mit Oury Jalloh erinnern. Sein Freund, der aus Sierra Leone stammte, habe sich in seiner Freizeit ellenlange Bundestagsdebatten angeschaut. »Oury hat dann über die Politiker bei uns in Afrika gelästert und gesagt, dass es hier in Deutschland Demokratie und Aufklärung gibt«, erinnert sich Bah. Jetzt sei sein Tod der beste Beweis, dass es in Deutschland nicht gut stehe mit der Demokratie, der Gerechtigkeit und vor allem der Sicherheit von Schwarzen Menschen und People of Color. »Es gab eine Zeit, da habe ich selbst an den deutschen Rechtsstaat geglaubt. Ich musste in den vergangenen Jahren aber mit anschauen, wie sich befreundete Polizisten, Juristen, Politiker in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus gegenseitig deckten, wie sie versuchten, den Mord an Oury zu vertuschen.« Bah lässt sich wieder in den Sessel fallen. Man sieht ihm die Erschöpfung an, wenn er die vergangenen Jahre Revue passieren lässt. Er habe dabei aber eine wichtige Sache gelernt: Nur die Solidarität untereinander kann Minderheiten in Deutschland schützen, sonst nichts. Gerichte schon gar nicht.

Es hat etwas gedauert, bis ich die Strategie der Initiative für die Aufklärung des Todes von Oury Jalloh verstanden habe: Die Aktivist*innen haben sich durch alle deutschen Instanzen geklagt, sie hatten schon eine Ahnung, dass alle deutschen Gerichte im Sinne der Polizei urteilen werden. Doch ihr Ziel lag darin, den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg frei zu machen. Das klappte endlich im Juli 2023.[173] Auch wenn dort nicht garantiert ist, dass die Richter*innen unvoreingenommen auf den Fall Jalloh schauen, bleibt bei den Angehörigen und Freund*innen die Hoffnung, dass es gerechter zugehen werde als vor jedem deutschen Gericht.

Die Angehörigen von Hans-Jürgen Rose standen im Jahr 2024 dagegen noch am Anfang: Sie haben zu diesem Zeitpunkt vier Beamte mit Verweis auf eigens aufgedeckte, neue Erkenntnisse zum Tod von Rose erneut angezeigt, wie die taz zusammen mit dem »Recherche Zentrum« berichtete.[174] Am 7. Dezember 1997 war der dreifache Familienvater Hans-Jürgen Rose in ein städtisches Krankenhaus gebracht worden, wo er am Tag darauf mit nur 36 Jahren um 9:25 Uhr verstarb. Seine schweren inneren Verletzungen wurden vom medizinischen Personal dokumentiert: eine kurz vor dem Tod verursachte Querschnittslähmung, tiefe Hautunterblutungen, zerquetschte Hoden, ein Lungenabriss, durchgestoßene Zähne, ein zertrümmerter Lendenwirbel, ein offener Wirbelkanal. Dies alles, darauf deuten viele Indizien hin, soll Hans-Jürgen Rose im Dessauer Polizeirevier angetan worden sein – an dem Ort, wo Oury Jalloh sieben Jahre später sterben wird. So einige Gewalttaten ereigneten sich dort, nie wurde jemand zur Verantwortung gezogen. Die Schicksale von Rose und Jalloh eint die Anwesenheit des Polizeibeamten Hans-Ulrich M., er wurde im Fall Jalloh im Jahr 2008 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Auch nach dieser minutiösen Verdachtsberichterstattung und den Rekonstruktionen der Todesumstände von Hans-Jürgen Rose und Oury Jalloh bleiben viele offene, quälende Fragen, die vor allem die Angehörigen seit Jahrzehnten nicht loslassen. In akribischen...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Cop Culture • Machtmissbrauch • Menschenfeindlichkeit • NUS 2.0 • Pfefferspray • Polizei-Chats • Polizeieinsatz • Polizeigewalt • Polizeiproblem • racial profiling • Rassismus • Rechtsextremismus • Reizgas • Schlagstock • Taser • tödliche Polizeigewalt
ISBN-10 3-492-60846-9 / 3492608469
ISBN-13 978-3-492-60846-6 / 9783492608466
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