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Der chinesische (Alb)Traum (eBook)

Wie aus Chinas Aufstieg die größte geopolitische Herausforderung für den Westen wurde
eBook Download: EPUB
2024
288 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-31563-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der chinesische (Alb)Traum - Philipp Mattheis
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Der Kampf der Supermächte
Spätestens 2030 soll China an den USA vorbeiziehen und die größte Volkswirtschaft der Welt sein. Entlang der Neuen Seidenstraße baut China überall dort seine Macht aus, wo der Westen sich zurückgezogen hat. Während die USA zwar in vielen Bereichen noch einen großen Technologie-Vorsprung haben, stehen die größten Produktionskapazitäten der Welt mittlerweile in China. Während Washington die Kontrolle über den Rohstoff des 20. Jahrhunderts, das Erdöl, hat, herrscht China über seltene Erden, die für die Energiegewinnung des 21. Jahrhunderts notwendig sind. Sogar dem Konzept des 'American Dream' hat Peking mit dem 'chinesischen Traum' etwas entgegensetzt: ein geordnetes Leben in materiellen Wohlstand - allerdings ohne Meinungsfreiheit und politische Teilhabe.

Der Journalist und langjährige China-Korrespondenten Philipp Mattheis führt uns zu den Konfliktlinien zwischen den beiden Supermächten: Nach Taiwan, Südkorea, Singapur bis in den Kongo, wo sich ein heißer Krieg entzünden könnte. Und in die Welt der Satelliten, Halbleiter und Datenströme, wo längst ein kalter Krieg im Gange ist. 'Der chinesische Albtraum' stellt die Frage, ob dieser Wettstreit des 21. Jahrhunderts auch friedlich gelöst werden kann, und was die Rivalität zwischen USA und China für kleinere Länder, nicht zuletzt für Deutschland bedeutet. Denn nur wenige Staaten profitieren so enorm vom Aufstieg Chinas wie Deutschland und seine Autoindustrie. Wie sollte Deutschland sich in diesem Konflikt zwischen Ost und West positionieren?

Philipp Mattheis, geboren 1979, hat Philosophie studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht. Seit 2011 arbeitet er als Auslandskorrespondent für verschiedene deutsche Medien, darunter den Stern, Capital, die WirtschaftsWoche und den STANDARD. Von 2011 bis 2016 und 2019 bis 2021 lebte er in Shanghai, von 2016 bis 2019 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und den Nahen Osten. Er ist Autor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien »Die dreckige Seidenstraße« im Mai 2023 im Goldmann Verlag. Online findet man ihn unter: philipp-mattheis.com

Vorwort: Boheme und Überwachungskameras


Als ich 2011 nach Shanghai zog, verbrachte ich die ersten Monate fast jeden Tag in einer Bar namens »YY«. Ich war auf der Suche nach Kontakten, Bekanntschaften und Freunden. Das Holz dort war dunkel, die Luft dick. An den Wänden hingen Porträts von Mao Zedong und andere, halbwegs ironisch gebrochene Propaganda-Kunst aus der jüngeren Geschichte Chinas: meist Arbeiter und Soldaten, die eine rote Fahne hissten. Gleichzeitig verströmte der Ort etwas vom Flair des alten Shanghai der Zwanziger- und Dreißigerjahre, als die Stadt wegen ihrer Bordelle, Opiumhöhlen und Freizügigkeit berüchtigt war.

Während seiner besten Tage konnte man im YY die Zeit vergessen, denn der Laden schloss nie. So spülte die Stadt zu jeder möglichen und unmöglichen Tages- und Nachtzeit Menschen in die Bar und wieder hinaus. Manchmal platzte die Bar um Mitternacht aus allen Nähten, zwei Stunden später saßen nur noch zwei besoffene Franzosen darin, und um fünf Uhr tanzten auf einmal Russinnen auf den Tischen. Das YY war wie Shanghai selbst: die Versicherung, an einem Ort zu sein, an dem die Welt sich schneller drehte als irgendwo anders. Nur, wo alles in Bewegung ist, ist auch alles möglich: Großes, Unvorstellbares, Magisches.

Ich kam als freier Journalist nach Shanghai, ich hatte vage Hoffnungen und die Mischung aus Optimismus und Naivität, ohne die ein solcher Schritt niemals möglich gewesen wäre. Im YY traf ich Lazar, einen Bulgaren aus Wien, der einen bulgarischen Kung-Fu-Film als Kunstprojekt in China vermarkten wollte. Da war Jean-Baptiste, kurz JB, der sein Geld als Zauberer verdiente und im YY ganze Tische unterhielt. Jeden Abend um 19 Uhr kam Bradley, ein hagerer Amerikaner, und trank immer genau drei Jameson-Whiskeys. Oft war da Kathryn, eine Künstlerin aus Texas, die Gehirne berühmter Personen malte, manchmal Paul, der immer betrunken war, und Eddy und Linda, das vielleicht schönste Ehepaar Shanghais.

Von den großen Glasfenstern blickte man auf die Platanen der Nanchang Lu hinab, einer kleinen, vergessenen Straße in der ehemaligen Französischen Konzession. Am schönsten war es in den schwülen Sommermonaten, als die Dächer der Bäume dicht waren und die Luft zum Schneiden dick. Das Leben draußen auf der Nanchang Lu hörte nie auf. Irgendwo schlürfte immer jemand eine Nudelsuppe oder kaufte eine Packung »Double Happiness«-Zigaretten.

Drinnen schildkrötete der Besitzer Kenny zwischen den Tischen hindurch, ließ sich von seinen Gästen auf die Schulter klopfen und Joints anbieten. Er stammte aus Hongkong und hatte das YY Mitte der Neunzigerjahre eröffnet – in Shanghai war das damals schon eine Ewigkeit her. Unterhaltungen mit Kenny glichen oft dem Anhören eines Orakels. Im Winter trug Kenny schwarze Rollkragenpullover, im Sommer weiße Hüte. Seine Sätze klangen wirr zu Beginn, doch mit der Zeit erschloss sich ein komplexes, manchmal bizarres Gedankengebäude. In lichten Momenten erzählte er von der Flucht seiner Familie 1949 nach Hongkong und von der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste 1989. Das war es, was wir, die Künstler aus Texas, die Glücksritter aus Bulgarien und Bonvivants aus Frankreich, gern hörten. Kennys Geschichten gaben uns das Gefühl, Teil eines historischen Prozesses zu sein, vielleicht sogar des größten, den es je gegeben hatte: der Öffnung Chinas.

Was wir damals nicht wussten: Wir waren 2011 bereits die letzten Ausläufer der Boheme Shanghais. Es war etwa in diesen Jahren, in denen es in China begann zu kippen. Die Bohemiens, oder diejenigen, die sich dafür hielten, waren in den vielleicht freiesten Jahren, die dieses Land je kannte, nach Shanghai gekommen. Alles schien neu, alles schien möglich, alles schien auf charmante Weise wahnsinnig. Als die große Finanzkrise 2009 Tausende von Jobs vernichtete und die Chancen einer ganzen Generation im Westen trübte, war Shanghai für viele junge Amerikaner und Europäer eine der besten Optionen. Auf der anderen Flussseite, in Pudong, wurde gerade der dritte und höchste Turm der Stadt gebaut. Jede Woche eröffnete eine neue Bar, ein neues Restaurant, ein neuer Club. Das Lebensgefühl schwankte jeden Tag aufs Neue: Mal fühlte man sich am Puls der Zeit, mal am Ende der Welt.

Damals lebten in Shanghai 23 Millionen Chinesen und 150 000 Ausländer, von denen wiederum die meisten Koreaner und Japaner waren. Viele der rund 50 000 Europäer waren von großen internationalen Firmen hierhergeschickt worden, gelockt mit einem dicken Expat-Paket: eine Villa am Stadtrand, Auslandszuschlag, Fahrer, Hausangestellte. Die chinesische Wirtschaft wuchs damals um zehn Prozent im Jahr – während der Westen vor einem selbst verursachten Scherbenhaufen stand. Die Auswüchse des amerikanischen Finanzkapitalismus hatten eine ganze Generation desillusioniert.

Wer in der Statistik nicht auftauchte, sind Tausende moderner Glücksritter, jung, abenteuerlustig und auf der Suche nach Erfolg, Freiheit und sich selbst: Designer, Schriftsteller, Künstler, Musiker, freie Journalisten. Die meisten von ihnen besaßen ein Touristenvisum, das sie alle drei Monate erneuerten. Dafür genügte damals ein Flug nach Hongkong. Man gab seinen Pass gleich noch am Flughafen einer darauf spezialisierten Agentur, soff sich zwei Tage durch die Bars von Soho und holte den Pass eine Stunde vor dem Rückflug wieder am Flughafen ab.

Das Leben in Shanghai war günstig. Jede Boheme braucht ein Fundament, auf dem sie gedeihen kann, sei es wohlgelitten oder parasitär. Alte, baufällige, aber charmante Wohnungen gab es in der ehemaligen Französischen Konzession für einige Hundert Euro im Monat. Im Winter pfiff der oft beißende Wind Shanghais durch die Ritzen der 100 Jahre alten Häuser, im Sommer plagten Schimmel und Kakerlaken die Bewohner. Dafür lebte man in den besten Tagen aber auch einen ostasiatischen Traum aus vielversprechenden Begegnungen, die einem suggerierten, Glück und Reichtum, Abenteuer und Liebe seien immer nur eine Straßenecke weit entfernt.

Über Politik wurde selten gesprochen, denn die wundersamen Sitten und Eigenheiten des chinesischen Alltags absorbierten die meisten Gedanken. Und selbst wenn man sich darüber einig war, dass eine kommunistische Kaderpartei nicht die ideale Regierungsform für das 21. Jahrhundert war, so war ein anderer Gedanke viel wichtiger: Die Welt war gerade dabei zusammenzuwachsen. Diese Erkenntnis war weniger geopolitischen und sozioökonomischen Analysen geschuldet als praktischer Erfahrung: Entfernungen schrumpften, weil Flugverbindungen entstanden. Und auch wenn man sich damals die Flugtickets vielleicht nur zweimal im Jahr leisten konnte, so war es doch kaum zehn Jahre her, dass das Internet globale Kommunikation ermöglicht hatte.

Nur wenige achteten damals, Anfang 2012, auf die Ereignisse in der Stadt Chongqing, wo Bo Xilai, heißester Anwärter auf das höchste Staatsamt, innerhalb weniger Wochen entmachtet und verhaftet wurde.

Einige Monate später schloss das YY, zumindest die Bar im Erdgeschoss. Kenny hatte sich mit den Vermietern gestritten. Auch gab es Gerüchte, wonach der Polizeichef, der von Kenny monatliche »Geschenke« erhielt, die Preise erhöht hatte, die Kenny nicht zu zahlen bereit war.

Das YY zog eine Etage tiefer in den Keller. Die Einrichtung dort war noch immer stilvoll, trotzdem war die Atmosphäre nicht die alte. Wenige Monate später kam es zu einer Drogenrazzia. Ein paar ausländische Gäste wurden festgenommen, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Das YY blieb zwar nur ein paar Tage geschlossen, doch der Imageschaden war groß. Viele der alten Gäste mieden die Bar nun. Nur noch selten landete ich selbst im YY, auch weil ich inzwischen gefunden hatte, wonach ich suchte: ein kleines, wenn auch flüchtiges Netzwerk, Kollegen und eine Aufgabe. Meist bot sich mir ein morbides Bild. Da saß Kenny, nicht nur von seiner alten Bar, sondern auch von seiner Frau getrennt, mit vier, fünf Freunden in einem sonst menschenleeren Keller, und orakelte vor sich hin.

Die Boheme trocknete nun langsam aus. Zu teuer wurde die Stadt, um für eine längere Zeit mal nichts oder alles zu probieren. Die charmant-kaputten Wohnungen wurden renoviert und möbliert. Bald kostete Shanghai zwar noch nicht so viel wie Paris, war aber schon teurer als München.

Kurze Zeit später musste die Stadt verlassen, wer keine Festanstellung bei einem Unternehmen hatte. China hatte die Visa-Regelungen verschärft. Bald hatten selbst Praktikanten Schwierigkeiten, eines zu bekommen. Der französische Zauberer kehrte in seine Heimat zurück, die amerikanische Künstlerin zog nach Leipzig, Paul starb am Alkohol, von bulgarischen Kung-Fu-Filmen weiß die Welt noch immer nichts. Die Hälfte der Gäste des YY waren weitergezogen in eine andere »In-Stadt«: New York, Berlin, Barcelona. China war noch immer angesagt, aber nicht mehr bei Künstlern und Bohemiens, sondern bei Autokonzernen, Unternehmensberatern und Digitalisierungsspezialisten. In dieser Zwischenphase von 2012 bis 2016 verbrachte ich die meiste Zeit in Shanghai. Ich war inzwischen als Korrespondent eines deutschen Wirtschaftsmagazins mit einem Journalistenvisum ausgestattet. Die Zeit der Öffnung war noch zu spüren, und sie nährte die Gegenwart. Es war doch immer besser geworden, erzählten die, die schon seit 20 oder 30 Jahren im Land lebten. Zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Die neue Zeit, die der Kontrolle und aggressiven Außenpolitik, hatte noch nicht begonnen. Shanghai lebte von seinem Ruf und hatte genug davon auf Lager.

Anfang 2012, als sich die...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • American dream • asien-experte • Außenpolitik • Bestseller-Autor • China • China-Korrespondent • Chinese dream • Clive Hamilton • Deutschland • die dreckige seidenstraße • Die lautlose Eroberung • Die neuen Seidenstraßen • eBooks • Elmar Theveßen • Energie • Erdöl • fundiert • Halbleiter • Handel • Kampf der Supermächte • Kongo • Krieg • Krisenregionen • Neuerscheinung • Peking • Peter Frankopan • Rivalität • Rohstoffe • Rüdiger von Fritsch • Sachbuch • Seidenstraße • Singapur • Südkorea • Supermächte • Taiwan • Technologie • USA • Volkswirtschaft • Washington • Welt im Umbruch • Wirtschaft • Wohlstand • Xi Jinping
ISBN-10 3-641-31563-8 / 3641315638
ISBN-13 978-3-641-31563-4 / 9783641315634
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