Glossar der Gegenwart 2.0 (eBook)
418 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77952-1 (ISBN)
Fortsetzung eines Grundlagenwerks zur Semantik der Gegenwart
2004 erschien das Glossar der Gegenwart. Insgesamt 44 Einträge untersuchten, so die Herausgeber:innen damals, »Konzepte von ?mittlerer Reichweite?, aber hoher strategischer Funktion, die in den aktuellen Debatten eine Schlüsselstellung einnehmen«.
Zwanzig Jahre später, nach der Weltfinanzkrise und im Zeichen des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien sowie der inzwischen deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, ist es Zeit für ein Update. Die Zeitgenoss:innen von heute erkennen sich in neuen Leitbegriffen wieder: »Disruption« an die Stelle von »Normalität«, »das Planetare« löst »Globalisierung« ab, »Resilienz« ersetzt »Prävention«. Andere Begriffe wie »Dekolonisierung« oder »postfaktisch« haben keine Entsprechung im Vorläuferband. Die für die 2.0-Version des Glossars verfassten Beiträge sind Sonden zur Ermittlung des Selbstverständnisses unserer Gegenwart.
<p>Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.</p> Susanne Krasmann ist Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg. <p>Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.</p>
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Einleitung
Dieses Buch ist ein Update – die Versionsnummer 2.0 im Titel zeigt es an. Es erscheint genau zwanzig Jahre nach dem Glossar der Gegenwart, dessen erste Auflage 2004 in der edition suhrkamp veröffentlicht wurde. Updates verbinden Diskontinuität mit Kontinuität und versprechen Aktualität durch Aktualisierungen. Sie nehmen Ergänzungen und Ersetzungen vor, lassen grundlegende Funktionen und Strukturen aber in der Regel unangetastet. Entwickelt werden sie, wenn Fehler korrigiert, Sicherheitslücken geschlossen und Nutzungsmöglichkeiten optimiert werden sollen, wenn neue Herausforderungen auftauchen oder die Vorgängerversion aus anderen Gründen ihre Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllt – manchmal auch wenn Marketingabteilungen dies erfolgreich suggerieren. Wer ein Update installiert, darf Neuerungen erwarten und wird doch davon ausgehen, dass ihr oder ihm kein Systemwechsel abverlangt wird. Gemessen an den in der Upgradekultur (Spreen 2015) üblichen Rhythmen und erst recht an der Haltbarkeitsdauer soziologischer Gegenwartsbeobachtungen sind zwanzig Jahre eine enorme Spanne und allemal Anlass für eine kritische Revision der Befunde.
Das Glossar von 2004 analysierte in 44 Einträgen – von »Aktivierung« bis »Zivilgesellschaft« – Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Menschenregierungskünste. Grundlegend war dabei die Orientierung an Michel 10Foucaults Begriff des Regierens, der »die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten« (Foucault 1996, 118f.), umfasst. Die Beiträge des Glossars nahmen Technologien der Selbst- und Fremdführung und die ihnen eingeschriebenen Rationalitätsannahmen, Zielvorstellungen und Handlungsvorgaben in den Blick. Sie suchten nach Antworten auf die Fragen, welche Selbstbeschreibungen zeitgenössischer Gesellschaften die jeweiligen Schlüsselbegriffe implizieren, welche Freiheitsspielräume sie eröffnen und welche Zwänge und Zumutungen sie enthalten. Die Auswahl der Lemmata konzentrierte sich, wie es in der damaligen Einleitung hieß, auf »Begriffe von ›mittlerer Reichweite‹, aber hoher strategischer Funktion: Deutungsschemata, mit denen die Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, interpretieren; normative Fluchtpunkte, auf die ihr Selbstverständnis und Handeln geeicht sind; schließlich konkrete Verfahren, mit denen sie ihr eigenes Verhalten oder das anderer entsprechend steuern« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004, 10f.).
Sichtbar gemacht wurden so die Konturen einer Gegenwart, die zum einen geprägt war durch Dynamiken radikaler Vermarktlichung, den Aufstieg kontraktueller beziehungsweise managerialer Führungsmodelle auch jenseits ökonomischer Organisationen sowie die Anrufung von Individuen als aktive und freie Bürger:innen, die ihre Lebensumstände eigenverantwortlich gestalten und sich als Unternehmer:innen ihrer selbst im generalisierten Wettbewerb behaupten sollten. Zum anderen stand die Gegenwartsdeutung – drei Jahre nach 9/11 – 11unter dem Eindruck von Terrordrohungen und anderen mit herkömmlichen Risikokalkülen nicht zu bewältigenden Gefährdungen, gegen die präventive und präemptive Sicherheitspolitiken mobilisiert wurden. Der zeitdiagnostische Blick richtete sich außerdem auf die expandierenden Monitoring-, Test- und Evaluationsverfahren, die scheinbar objektive, wissenschaftlich präzise Indikatoren zur Beurteilung und Bewertung bereitstellen und so die Grundlage für eine kybernetische Selbststeuerung gesellschaftlicher Prozesse liefern sollten.
Vieles davon hat zweifellos auch 2024 nicht an Aktualität verloren, doch unübersehbar ist die Gegenwart von heute eine andere. Von 2004 trennen uns – unter anderem – die inzwischen dramatisch spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, ein Finanzcrash, die Zunahme globaler Migrationsbewegungen, die Schwächung demokratischer Institutionen und das Erstarken des autoritären Nationalismus und Rechtspopulismus, die Erfahrungen sozialer Protestbewegungen, die sich während des Arabischen Frühlings oder unter Namen wie Occupy, #MeToo, Black Lives Matter, Gilets jaunes, Fridays for Future und Letzte Generation formiert haben, außerdem die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, das antisemitische Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der folgende Krieg im Gazastreifen. In die Jahre seit 2004 fallen aber auch die Erfindung des Smartphones, die Kommunikationsrevolution der Social Media und die geradezu explosionsartigen Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz. Die Polarisierung der Gesellschaft entlang affektiver Triggerpunkte hat zugenommen, wenn auch 12in Deutschland vorerst noch in geringerem Maße als beispielsweise in den USA (Mau/Lux/Westhäuser 2023). Die Hegemonie neoliberaler Glaubenssätze und Programme mag Risse bekommen haben, gebrochen ist sie keineswegs. Geändert hat sich unter den Bedingungen der Polykrise allerdings die Tonlage: Statt aufgedrehter Freiheitsversprechen und penetranter Aktivierungsrhetorik dominieren Bedrohungsszenarien, Abstiegsängste und autoritäres Racketdenken. Dystopische, nicht selten apokalyptisch grundierte Zukunftserwartungen machen sich breit.
Ihren Niederschlag gefunden haben die Transformationen der vergangenen beiden Dekaden in den Leitbegriffen, in denen die Zeitgenoss:innen heute ihre Gegenwart erkennen und mit deren Hilfe sie diese formen. Die vorliegende 2.0-Version des Glossars der Gegenwart kartografiert diese Umstellungen des begrifflichen Koordinatensystems, welche die Veränderungen der Menschenführungskünste seit 2004 vorbereitet haben, flankieren und/oder nachträglich reflektieren. Wir haben uns dagegen entschieden, lediglich einzelne Lemmata auszusortieren, andere zu überarbeiten und wieder andere neu aufzunehmen. Im Unterschied zu herkömmlichen Updates präsentiert dieses Buch vielmehr ein – mit einer Ausnahme – komplett verändertes Inventar aktueller Leitbegriffe. Auch für das Lemma »Nachhaltigkeit«, das sich bereits im Glossar von 2004 findet, wurde der Eintrag neu geschrieben. Das Glossar der Gegenwart 2.0 ist keine überarbeitete und erweiterte Neuauflage, es enthält ausschließlich erstmals veröffentlichte Beiträge – »Update« ist einer davon.
13Wir sind uns bewusst, dass wir mit dieser Entscheidung den Eindruck erwecken könnten, wir gäben der problematischen Tendenz vieler Gegenwartsdiagnosen nach, den Momenten der Diskontinuität Vorrang gegenüber jenen der Kontinuität einzuräumen. So wenig uns allerdings eine soziologische Zeitdiagnostik überzeugt, die versucht, die Gegenwart auf einen Begriff zu bringen, und fortlaufend mit neuen Bindestrichgesellschaften aufwartet, so wenig beanspruchen wir, mit dem vorgelegten Begriffsregister das Vokabular zeitgenössischer Regierungskünste systematisch abzubilden, oder bestreiten die anhaltende Relevanz vieler Lemmata des alten Glossars. Inwieweit wir nicht mehr dieselben Worte verwenden, nicht mehr auf dieselbe Weise denken, fühlen und handeln, uns nicht in dieselben institutionellen Gefüge, politischen Strukturen und technologischen Netzwerke eingespannt finden, das sind offene Fragen, denen die Beiträge in diesem Band nachgehen.
Die beiden Versionen lösen einander also nicht ab, sondern stehen in einem Verhältnis des Supplements, des Palimpsests und der Neuakzentuierung zueinander. Einige der neuen Stichworte überschreiben Lemmata des Glossars von 2004: »Achtsamkeit« statt »Wellness«, »Ansteckung« statt »Virus«, »Digitalisierung« statt »Virtualität«, »Disruption« statt »Normalität«, »Diversität« statt »Gender«, »Epigenetik« statt »Gen«, »Finanzialisierung« statt »Zirkulation«, »Krieg« statt »humanitäre Intervention«, »Nudging« statt »Aktivierung«, »Planetar« statt »Globalisierung«, »Plastizität« statt »Flexibilität«, »Resilienz« statt »Prävention«, »Tracking & Trac14ing« statt »Monitoring«, »Unsicherheit« statt »Sicherheit«. Solche Begriffsshifts besitzen selbst zeitdiagnostische Aufschließungskraft und fordern geradezu auf, die alten und die neuen Glossareinträge nebeneinander zu lesen: So signalisiert Resilienz einen Umgang mit bedrohlichen Zukünften, der nicht mehr von der Erwartung geleitet wird, Katastrophen durch präventive Anstrengungen zu verhindern, und sich stattdessen damit bescheidet, ihre unvermeidlichen Auswirkungen möglichst gut abzufedern. Andere Lemmata ...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Bücher Neuerscheinung • Digitalisierung • edition suhrkamp 2843 • ES 2843 • ES2843 • Grundbegriffe • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuererscheinung • neuer Krimi • neuerscheinung 2024 • neues Buch • Politische Kultur • Politische Sprache • Populismus • Transformation • Zeitenwende |
ISBN-10 | 3-518-77952-4 / 3518779524 |
ISBN-13 | 978-3-518-77952-1 / 9783518779521 |
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