Visionen der Ungleichheit (eBook)
443 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78059-6 (ISBN)
Wie hat sich das Nachdenken über Ungleichheit im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und welche ökonomischen Lehren haben dabei jeweils den Ton angegeben? In seinem neuen Buch widmet sich Branko Milanovi? in funkelnden Porträts einigen der einflussreichsten Ökonomen der Geschichte. Im Kontext von Leben und Werk zeichnet er die Entwicklung ihres Denkens über Ungleichheit nach und zeigt, wie sehr sich ihre Ansichten unterschieden haben. Tatsächlich, so Milanovi?, kann man nicht von »Ungleichheit« als einem überzeitlichen Konzept sprechen: Jede Analyse ist untrennbar mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden.
Milanovi? führt uns von François Quesnay und den Physiokraten, für die soziale Klassen gesetzlich vorgegeben waren, zu Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx, die Klasse als eine rein ökonomische Kategorie betrachteten. Er schildert, wie Vilfredo Pareto Klasse als Unterscheidung zwischen einer Elite und dem Rest der Bevölkerung rekonstruierte, während Simon Kuznets das Stadt-Land-Gefälle als Ursache der Ungleichheit ausmachte. Und er erklärt, weshalb die Ungleichheitsforschung während des Kalten Krieges ins Hintertreffen geriet und warum sie heute wieder ein zentrales Thema der Wirtschaftswissenschaften ist. Eine brillante neue Geschichte des Nachdenkens über Ungleichheit.
<p>Branko Milanovi?, geboren 1953, ist Wirtschaftswissenschaftler und zählt zu den weltweit angesehensten Experten auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Er war unter anderem leitender Ökonom der Forschungsabteilung der Weltbank. Milanovi? hatte Gastprofessuren an der University of Maryland, College Park, an der Johns Hopkins University und arbeitet seit 2014 als Visiting Presidential Professor am City University of New York Graduate Center.</p>
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Vorwort
In diesem Buch zeichne ich nach, wie sich das Denken über die wirtschaftliche Ungleichheit in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt hat. Dazu untersuche ich die Arbeit einiger einflussreicher Ökonomen, die sich in ihren Schriften direkt oder indirekt mit Verteilung und Ungleichheit der Einkommen beschäftigt haben. Dies sind die Klassiker François Quesnay, Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, Vilfredo Pareto und Simon Kuznets sowie eine Gruppe von Ökonomen, die sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit diesem Thema befassten und kollektiv Einfluss ausgeübt haben, obwohl sie individuell nicht den ikonischen Status der genannten sechs Klassiker genießen. In diesem Buch beschäftige ich mich mit der Geistesgeschichte eines wichtigen Forschungsbereichs, der ehemals große Aufmerksamkeit fand, dann in den Hintergrund gedrängt wurde und in jüngster Zeit wieder einen wichtigen Platz in den Wirtschaftswissenschaften eingenommen hat.
Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich einen unüblichen Zugang gewählt. Um meine Vorgehensweise verstehen zu können, müssen meine Leserinnen und Leser wissen, wie ich meinen Untersuchungsgegenstand in Angriff genommen habe. Daher werde ich kurz erläutern, wie sich meine Methode von denen anderer Forscher unterscheidet. Erstens konzentriere ich mich vollkommen auf die Einkommensverteilung. Zweitens versuche ich, die Vorstellungen der untersuchten Denker aus ihrer Perspektive zu erklären. Drittens ordne ich die untersuchten Konzepte chronologisch. Viertens verhalte ich mich indifferent gegenüber den normativen Vorstellungen der untersuchten Denker in Bezug auf die Ungleichheit. Fünftens lege ich einen von mir selbst definierten Maßstab an, um festzustellen, welche von den ungezählten Ungleichheitsstudien wirklich wichtig sind. Sehen wir uns die Bestandteile meiner Methode im Einzelnen an.
Strikte Beschränkung auf die Einkommensverteilung. In jedem Kapitel beschäftige ich mich mit einem Denker, wobei ich mich, obwohl 8die untersuchten Autoren in ihren (oft umfangreichen) Schriften eine Vielzahl von Themen behandelten, ausschließlich auf seine Vorstellungen von der Einkommensverteilung konzentriere. Ich untersuche, welche konkreten Antworten er auf die wesentlichen Fragen zur Ungleichheit gegeben hat. Diese Fragen sind: Wie werden die Löhne festgelegt? Gibt es einen Konflikt zwischen Profit und Rente? Wie wird sich die Einkommensverteilung im Verlauf der gesellschaftlichen Evolution entwickeln? Werden Profite oder Löhne steigen oder sinken?
Das bedeutet natürlich, dass ich andere von diesen Denkern untersuchte Fragen vollkommen ignoriere. Jeder dieser Autoren hinterließ ein beängstigend umfangreiches Werk; man könnte leicht hineingezogen werden und seine ganze Laufbahn damit verbringen, dieses Werk und seine Rezeption zu erkunden. Die Produktion dieser Autoren war gewaltig (nur Ricardos Schriften haben einen relativ geringen Umfang, wenn man seine Briefwechsel außer Acht lässt, und es ist zu berücksichtigen, dass er jung starb). Das viele tausend Seiten umfassende Werk von Marx füllt in der MEW-Ausgabe (Marx-Engels-Werke) nicht weniger als 44 Bände, und die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ist noch nicht abgeschlossen.1 Paretos gesammelte Arbeiten in ihren vielen Varianten haben einen ähnlich gewaltigen Umfang, und sogar Adam Smith' Untersuchungen füllen zahlreiche Bände, obwohl seine unveröffentlichten Arbeiten und seine Korrespondenz nach seinem Tod auf seine Anweisung verbrannt wurden; ein Grund für die Fülle ist, dass auch Mitschriften seiner Studenten (als Lectures on Jurisprudence) veröffentlicht wurden. Quesnays Fall ist ebenfalls interessant, denn seine Korrespondenz mit Mirabeau hat Ähnlichkeit mit der Beziehung zwischen Marx und Engels: Es ist nicht leicht zu bestimmen, wo der Beitrag des einen Autors endet und der des anderen beginnt. Quesnays eigene und gemeinsam mit anderen Autoren geschriebene Werke umfassen wahrscheinlich mehr als 2000 Seiten (vor allem wenn wir die von Angehörigen seiner »Schule« anonym veröffentlichten Texte berücksichtigen). Kuznets schrieb mehr als 50 Jahre lang und veröffentlichte extrem vielgestaltige Beiträge, deren Themen von der Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen über Wachstum, 9Einkommensverteilung und Demografie bis zur wirtschaftlichen Entwicklung reichten.
Würde sich ein Experte für Geistesgeschichte mit den Schriften eines Adam Smith, Karl Marx oder Vilfredo Pareto beschäftigen – die sich über die Felder von Politikwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Epistemologie, Ökonomie, Anthropologie und sogar Psychologie erstrecken –, so würde er versuchen, sie als Generalist in ihrer Gesamtheit zu betrachten und alle oder die meisten dieser Themenbereiche zu berücksichtigen. Ein Wirtschaftshistoriker würde sich vermutlich auf die ökonomischen Themen konzentrieren (wie es zum Beispiel Schumpeter tat) oder sich auf eine neoklassische Analyse beschränken wie Mark Blaug, der Paretos soziologische Abhandlungen oder Marx' Philosophie nicht berücksichtigte.2 Ich hingegen ignoriere alle anderen Teile des Werks eines Autors, so wichtig sie auch sein mögen, wenn sie nicht in einem logischen Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Einkommensverteilung stehen.
Beispielsweise ist es für Marx' Schriften zu Einkommensverteilung, Lohnentwicklung und sinkender Profitrate irrelevant, dass er auch eine Arbeitswerttheorie entwickelte. Zur selben Einschätzung dieser Fragen hätten auch Autoren gelangen können, die andere Werttheorien verfochten (und genauso war es). Die Arbeitswerttheorie ist zweifellos wichtig, um Marx' Vorstellungen von Mehrwert, Ausbeutung und Entfremdung zu verstehen. Sie wirkte sich darauf aus, wie seine zahlreichen Anhänger die Fairness der Einkommensverteilung im Kapitalismus beurteilten. Aber wie ich erklären werde, sind normative Urteile über die Einkommensungleichheit nicht Thema dieses Buches. Marx' Werttheorie kann vollkommen unabhängig von der Auseinandersetzung mit den Kräften behandelt werden, die in seinen Augen die Verteilung der Einkommen zwischen den Klassen beeinflussen (das heißt, die Werttheorie kann beiseitegelassen werden).
Es gibt also zahlreiche interessante wirtschaftswissenschaftliche Themen, die außerhalb des Untersuchungsbereichs meines Buches liegen. Beispielsweise steht Paretos Erweiterung und Modifizierung von Walras' Arbeit zur allgemeinen Gleichgewichtstheorie in keinem erkenn10baren Zusammenhang mit seiner Theorie der Einkommensverteilung. (Allerdings verknüpfe ich diese Theorie mit den Überlegungen Paretos, die sie berühren, nämlich mit seiner soziologischen Betrachtung der Elitenzirkulation.) Auch das berühmte Pareto-Optimum kann von seiner Theorie der Einkommensverteilung getrennt werden. Obwohl das Pareto-Optimum durchaus etwas über die Umverteilung aussagt und in Diskussionen über die Umverteilung durch Steuern und Subventionen oft ins Feld geführt wird, ist es im Grunde eine normative Aussage (unter dem Deckmantel des Positivismus).
Wir können also annehmen, dass die Autoren, deren Vorstellungen dieses Buch füllen, das Studium der Einkommensverteilung zwischen den Klassen oder Individuen möglicherweise nicht für den zentralen Bestandteil ihres Werks hielten (wir haben sogar die Gewissheit, dass sie es nicht taten). Auch betrachteten sie die Einkommensverteilung nicht so, wie wir sie heute sehen. Dennoch werden alle diese Autoren aus demselben Grund berücksichtigt: Sie hatten nicht nur großen Einfluss auf die Volkswirtschaftslehre, sondern trugen auch zum Verständnis der Einkommensverteilung bei.
Darstellung aus Sicht des Autors. Zur Beschreibung der Konzepte nehme ich in diesen Kapiteln die Standpunkte der Autoren ein (ich mache nur eine einzige Ausnahme, was ich erklären werde). Eine kritische Analyse nehme ich allein insoweit vor, wie das zur Klärung ihrer Theorien beiträgt. Ich versuche, mich mit Kritik an Mängeln und Lücken zurückzuhalten, die erst im Nachhinein sichtbar geworden sind. Ich konzentriere mich auf die Frage, ob der jeweilige Ansatz mit den übrigen Vorstellungen des Autors übereinstimmt, anstatt beispielsweise zu fragen, ob Quesnay voraussagte, wie sich die Revolution auf die Einkommensverteilung in Frankreich auswirken würde, oder ob seine Arbeit die heutige Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten erklärt. Diese...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2024 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Visions of Inequality. From the French Revolution to the End of the Cold War [AT] |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bruno-Kreisky-Preis 2016 • Bücher Neuererscheinung • David Ricardo • Die ungleiche Welt • Einführung • François Quesnay • Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik 2018 • kapitalismus global • Karl Marx • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Ökonomie • Simon Kuznets • Ungleichheit • Vilfredo Pareto • Visions of Inequality. From the French Revolution to the End of the Cold War deutsch • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-518-78059-X / 351878059X |
ISBN-13 | 978-3-518-78059-6 / 9783518780596 |
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