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Putsch (eBook)

Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Aufl. 2024
287 Seiten
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-6452-0 (ISBN)

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Putsch - Issio Ehrich
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Europa hat den Kolonialismus in den 1960er-Jahren in vielen afrikanischen Staaten für beendet erklärt. Zu Unrecht. In Wirklichkeit haben Europäer, die sich gern als Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Szene setzen, korrupte politische Systeme auf dem Kontinent gefördert. Systeme, die ihnen dabei helfen, Afrikanerinnen und Afrikaner weiterhin zu bevormunden und auszubeuten. Doch vor allem in der Sahelzone sind viele Menschen an einem Punkt angekommen, an dem sie sich das nicht mehr bieten lassen. Sie sind sogar bereit, Militärregime zu unterstützen, die ihre Fassaden-Demokratien zertrümmern.

Issio Ehrich zeigt die komplexen Netzwerke auf, die Europa mit Staaten in Afrika verbinden. Und er provoziert einen Perspektivwechsel. Er gibt Menschen eine Stimme, deren Sicht viel zu oft ignoriert wird, wenn es um Afrika geht. Menschen in Afrika.



<p>Issio Ehrich ist ein freier Journalist und Fotograf aus Berlin. Er berichtet vor allem über die Sahelzone und die Türkei. Seine Reportagen erscheinen in Qualitätsmedien in Deutschland und dem europäischen Ausland. In Podcasts, in Radio und TV spricht er regelmäßig über die Lage in seinem Berichterstattungsgebiet. Mit Afrika verbindet Ehrich mehr als ein journalistisches Interesse. Er kam 1982 in Schleswig-Holstein zur Welt, doch bevor er dort zur Schule ging, verbrachte er zwei Jahre in Nigeria, der Heimat seines Vaters.</p>

EINLEITUNG


Soldaten, die Präsidenten stürzen. Nirgends geschah das so oft wie in Afrika. Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kam es zu mehr als 100 Putschen auf dem Kontinent1. In den ersten Jahrzehnten, nach denen die Staaten ihre Unabhängigkeit von ihren früheren Kolonialmächten erklärt hatten, in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren, gehörte der gewaltvolle Griff nach der Macht durch das Militär fast schon zum politischen Alltag.

Menschen auf dem Kontinent fragten sich, ob ihre jungen Demokratien auf dem richtigen Weg seien, ob sie bald Stabilität und Rechtsstaatlichkeit genießen könnten und in größerem Wohlstand leben würden. Vielleicht eines Tages gar wie ihre Nachbarn in Europa. Es gab Zweifel und Hoffnung. In den 1990er-Jahren schien sich die Hoffnung durchzusetzen2.

In vielen afrikanischen Staaten ging es von der Mitte der 1990er-Jahre an wirtschaftlich voran3. Mehrere Staaten zählten bald gar zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Weniger Hunger, weniger Kriege. Mehr Einschulungen, erfolgreiche Impfkampagnen und eine bessere medizinische Versorgung. Und: immer häufiger Wahlen in Mehrparteiensystemen. Es gab einen zarten Aufwärtstrend.

In diesem etwas sanfteren sozialen Klima nahm mit der Jahrtausendwende auch die Zahl der Staatsstreiche ab. Die Epoche der Coups d’État, der Putsche, sie schien überwunden. Doch das war sie nicht.

In der Sahelzone, dem Übergang der Sahara-Wüste im Norden in die Savannen weiter im Süden des Kontinents, entlud sich in den 2010er-Jahren Gewalt in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Islamistische Terroristen verübten nicht nur vereinzelte Anschläge oder entführten Zivilisten, sie eroberten ganze Landstriche. Sie zwangen den Menschen die Scharia auf, das islamische Recht. Sie verboten Musik, sie pressten den Menschen die Zakat ab, eine religiöse Steuer. Wer sich den Dschihadisten widersetzte, musste sterben.

Die Sicherheitskräfte der Sahel-Staaten hatten der Gewalt wenig entgegenzusetzen. Auch die Hilfe ihrer Partner aus dem Ausland konnte sie nicht eindämmen. Mehr als 5.000 französische Soldaten waren im Sahel im Einsatz, mehr als 10.000 Blauhelme der Vereinten Nationen, darunter zeitweise bis zu 1.400 Angehörige der Bundeswehr allein in Mali. Hinzu kamen US-Kräfte samt einem Arsenal an modernen Drohnen. Doch sie alle verhinderten nicht, dass sich die Bedrohung der Dschihadisten von Mali nach Burkina Faso und Niger, zuletzt gar vom Zentrum der Sahelzone bis an den Golf von Guinea ausbreitete.

Die Zahl der Todesopfer der Gewalt stieg Jahr für Jahr. Ein blutiger Rekord nach dem anderen. Allein 2023 starben in der Region mehr als 13.000 Menschen in diesem Konflikt. Darunter fast 5.000 einfache Bürgerinnen und Bürger4. Die Sahelzone hat den Nahen Osten als Epizentrum des islamistischen Terrors abgelöst5.

Die Gewalt der Dschihadisten ging einher mit organisierter Kriminalität. Phänomene, die einander oft ermöglichen und durchdringen. Der Drogen- und Waffenhandel florierte. Banden zogen durch den Sahel, sie nahmen sich, was sie wollten. Alte, teils ethnisch aufgeladene Konflikte um Ressourcen, die sich einst noch lokal eindämmen ließen, eskalierten.

Die Gewalt hatte viele Gründe. Sie nahm auch zu, weil die Menschen im Sahel mehrere Härten gleichzeitig trafen. Die Klimakrise erfasste die ohnehin von Dürren geplagte Sahelzone mit besonderer Wucht. Eine zu schnell wachsende Bevölkerung vergrößerte die Konkurrenz um immer weniger fruchtbaren und sicheren Boden. Eine vielschichtige Krise in einer der ärmsten Regionen der Welt.

Millionen von Menschen wurden zu Binnenvertriebenen. Regionen, die zuvor noch Touristen aus aller Welt angezogen hatten, waren plötzlich rote Zonen. Die Wirtschaft in den Sahel-Staaten kollabierte. Menschen hungerten. Einige verhungerten.

Die Staaten entwickelten sich rückwärts. Und niemand war da, um die Entwicklung aufzuhalten. Geschweige denn, ihre Wurzeln zu bekämpfen. Die Institutionen der Länder waren schwach, in weiten Teilen des Sahel kaum präsent. Dort, wo sie sich zeigten, verwalteten sie meist schlecht, waren korrupt, unfähig, unmotiviert. Auf die Probe gestellt, implodierten sie. Viele Menschen mussten fast ohne staatliche Strukturen allein zurechtkommen. Und sie fragten sich: Wie konnte es sein, dass ihre Sicherheitskräfte selbst mit der Hilfe der mächtigsten Armeen der Welt nicht in der Lage waren, die Gewalt zu stoppen? Wie konnte es sein, dass ihre Institutionen mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Staaten derart schwach geblieben waren? Ihre Wirtschaften so fragil, dass sie keine Krise überstanden, ohne Menschen in den Hungertod zu treiben? Etwas stimmte nicht, etwas Grundsätzliches. Da waren sie sich sicher.

Wut und Enttäuschung wuchsen. Vielen Menschen ahnten längst, dass ihnen in all den Jahren seit den Unabhängigkeitserklärungen 1960 etwas vorgemacht worden war. Waren sie das wirklich: unabhängig? Lebten sie wirklich in souveränen Staaten, in liberalen Demokratien, in denen das Wort der Bürgerinnen und Bürger etwas zählt? Wollten die Partner im Ausland ihnen wirklich helfen?

Etliche Menschen fühlten sich betrogen. Um ihre Chancen auf ein besseres Leben. Sie fühlten sich missbraucht von ihren Präsidenten, die, so sahen sie es, nur ihre eigenen Interessen im Sinn hatten. Von ihren früheren Kolonialherren fühlten sie sich ausgebeutet. Weil die gern über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sprachen, aber mit genau diesen zweifelhaften Präsidenten zusammenarbeiteten. Nicht um zu helfen, sondern um mit ihnen zusammen zu plündern.

Nicht wenige im Sahel glaubten, dass ihre Staaten Fassaden-Demokratien sind, die nur noch eines retten kann: ein radikaler Neuanfang. Oft gab es in der kurzen Geschichte nach den Unabhängigkeitserklärungen der Nationen schon Initiativen dafür. Am Willen und an den Ideen fehlte es nicht. Nur konnten sie sich nicht durchsetzen.

Plötzlich waren sie dann wieder da: die Soldaten, die Präsidenten stürzen. 2020 putschen Militärs in Mali. 2022 in Burkina Faso. 2023 in Niger. Weitere Putsche kamen hinzu.

Vom Atlantik im Westen bis zum Roten Meer im Osten des Kontinents ist ein Streifen Land entstanden, in dem Soldaten das Sagen haben. Rund 3.500 Kilometer ist dieser Streifen breit. Das weltweit längste zusammenhängende Territorium unter Militärherrschaft.

Die Soldaten, die im Zentrum der Sahelzone die Macht ergriffen, rechtfertigten ihre Staatsstreiche alle mit demselben Argument. Sie warfen ihren Präsidenten und deren Partnern aus dem Ausland vor, bei der vielleicht wichtigsten Aufgabe der Staatsführung zu versagen: der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Sie erklärten den Krieg gegen den Terror, den ihre Regierungen mit internationaler Hilfe führten, für gescheitert.

Doch mit den Putschen keimte in den Gesellschaften des Sahel etwas auf, das viel größer war als nur der Widerstand gegen eine gescheiterte Sicherheitspolitik. Es keimte etwas auf, das epochale Ausmaße annehmen könnte: der Mut der Menschen, ihre alten politischen Systeme zu zerstören, mit allen denkbaren Mitteln.

Nach den Putschen gingen in Mali, Burkina Faso und Niger Tausende auf die Straßen. Sie trauerten nicht um ihre gestürzten Staatschefs. Sie erklärten sie zum Feind. Und mit ihnen deren Partner in Europa, Männer wie Emmanuel Macron, den Präsidenten Frankreichs. Vor allem die Wut über die ehemalige Kolonialmacht war gewaltig. Doch vielen Menschen in der Region war bewusst, dass andere Staaten in Europa Frankreich im Sahel politisch hinterhertrotten. Auch Deutschland. Sie sahen, dass die vielen Milliarden Euro, die in den Bundeswehreinsatz in Mali flossen, letztlich verpufften. Dass weitere Milliarden, die mit der Entwicklungszusammenarbeit kamen, keinen entscheidenden Unterschied machten. Wie war das möglich?

Spätestens seit sich die Bundesregierung mit Verve dafür einsetzt, Migration nach Europa schon in Afrika zu stoppen, ist den Menschen auf dem Kontinent klar, dass auch Deutschland kein selbstloser Akteur in der Region ist, sondern Interessen hat und zu vielem bereit ist, um sie zu sichern. Wenn es sein muss, auch auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger in der Region.

Nicht alle, aber viele Menschen im Sahel stellten sich demonstrativ hinter die Putschisten. Und sie forderten von ihnen nicht nur eine neue Sicherheitspolitik, sie erwarteten jenen radikalen Neuanfang, der sie endlich befreien sollte aus ihrer Lage. Ihr Ziel: das Ende der Fassaden-Demokratien, das Ende der ausbeuterischen Allianzen mit den früheren Kolonialmächten. Von vorn beginnen.

Die Wucht der Massen war groß. Die Soldaten mussten, ob sie es wollten oder nicht, das Schlagwort der »Souveränität«, der echten Unabhängigkeit ihrer Staaten, zum Schlachtruf ihrer Herrschaft machen. Eine Eskalationsspirale entstand. Die Menschen auf den Straßen stachelten die Soldaten an und die Soldaten die Menschen. Der Ruf dieser Bewegung hallte bis über die Sahelzone hinaus nach. Eine Ikone der Postkolonialen Theorien, der Historiker Achille Mbembe aus Kamerun, beschrieb die Serie der Coups d’État im Sahel als den nächsten großen Schritt in der Dekolonisierung Afrikas, als die Vollendung des Unabhängigwerdens. »Afrika tritt in eine neue historische Epoche ein«, sagt er6.

Die neuen Militärherrscher im Sahel setzten die Forderungen vieler Afrikanerinnen und Afrikaner mit einer Radikalität um, die Beobachterinnen und Beobachter überraschte, nicht wenige erschreckte. Vor allem der Bruch der Junten mit dem sogenannten Westen verlief in einem bemerkenswerten Tempo. In Mali verschlechterten sich die...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afrika • Armut • Aufstand • Außenpolitik • Bedrohung • Burkina Faso • China • Debatte • Demokratie • Deutschland • Diktatur • Europa • Flüchtlinge • Folter • Frauenrechte • Frieden • Hunger • Kolonialismus • Kontinent • Korruption • Machthaber • Mali • Menschenrechte • Metalle • Migration • Militärdiktatur • Mittelmeer • Niger • Rechtsstaatlichkeit • Regierung • Ressourcen • Rohstoffe • Russland • Sahelzone • Sicherheit • Soldaten • Strategien • Uran • Wohlstand
ISBN-10 3-7517-6452-6 / 3751764526
ISBN-13 978-3-7517-6452-0 / 9783751764520
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