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Weise Frauen (eBook)

Warum unsere Gesellschaft mehr weibliches Wissen braucht - eine Spurensuche

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31564-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weise Frauen -  Miriam Stein
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Die Welt braucht mehr Weisheit, vor allem von Frauen
Die Kulturjournalistin und SPIEGEL-Bestsellerautorin Miriam Stein macht sich in ihrem neuen Buch auf die Suche nach einer angewandten, weiblich konnotierten Weisheit fürs 21. Jahrhundert. Sie forscht nach den vergessenen Heldinnen unserer Vergangenheit, deren Wirken bis in die heutige Zeit unser aller Leben und Denken bestimmt. Heilerinnen, Schamaninnen, Priesterinnen, Hebammen und Frauengemeinschaften tauschen bereits seit prähistorischen Zeiten wertvolles Wissen über Pflege und Heilkunde, Spiritualität und Sexualität aus. In unseren patriarchal geprägten Gesellschaften und im Schatten eines männlich dominierten Wissenschaftsdiskurses wurde weibliches Wissen oft als irrelevant abgetan oder in die als nicht ernst zu nehmende Esoterik-Ecke verbannt.

Miriam Stein möchte dieses weibliche Wissen rehabilitieren und unternimmt eine sehr persönliche, journalistische Reise zu den zeitgenössischen Nachkommen unserer weisen Vormütter. Sie interviewt Frauen, die sie als weise empfindet, besucht Schamaninnen in Südkorea und Heilerinnen der Mapuche in Chile, und spricht mit Weisheits- und Altersforscherinnen von San Francisco bis Klagenfurt. Sie resümiert: In einem generationenübergreifenden Feminismus liegt immenses Potenzial, mehr Weisheit ins Leben zu integrieren. Kaum vorzustellen, wie unsere Gesellschaft aussehen könnten, wenn Frauen sich dessen bewusst werden.

Miriam Yung Min Stein ist Journalistin und Buchautorin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie wurde 1977 in Südkorea geboren und wuchs in einer deutschen Familie als Adoptivkind auf. Sie hat mit Christoph Schlingensief und Rimini Protokoll Theater gemacht und ist eine profilierte deutsche Kulturjournalistin.

KAPITEL 1
Gemeinschaft


Vom Wert des Kooperierens: Arbeiterinnen in England und Deutschland im Mittelalter

»Viele junge Frauen glauben, dass die Arbeit (zur Gleichberechtigung) bereits geschafft sei. Sie ist noch nicht geschafft. Und wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Vergesst nicht: Es gibt einen besonderen Ort in der Hölle, an dem Frauen landen, die andere Frauen nicht unterstützen.«

Diesen Satz sagte die mittlerweile verstorbene ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright 2016, als sie die damalige Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Hillary Clinton, bei einer Wahlkampfveranstaltung im US-Bundesstaat New Hampshire euphorisch ankündigte. Sie sagte den Satz nicht zum ersten Mal, bereits ein Vierteljahrhundert vorher hatte sie ihn als US-Botschafterin bei der UNO an Kolleginnen weitergegeben. Sie erwähnte ihn immer wieder, in unterschiedlichen Kontexten ihrer bemerkenswerten Laufbahn – nur hatte sie bei ihrer jüngsten Äußerung Social Media nicht auf dem Schirm. Nachdem Albright Clinton in New Hampshire vollmundig ankündigte, wurde Madame Secretary zum Meme und ging mit ihrer Aussage viral.

Albright schuf ein geflügeltes Wort, ein Versprechen, aber vor allem einen Fluch. Der Satz geistert weiterhin, wie ein Zombie, durch Instagram-Kommentare und andere Orte des Internets, wann immer Frauen andere Frauen für vermeintlich unsolidarisches feministisches Fehlverhalten abstrafen wollen. Ausdrücken wollte Albright etwas ganz anderes: Wenn wir einander helfen, können wir alles erreichen. Ihr Statement stellte sich als verhängnisvoll heraus, auch für sie selbst. Ein paar Tage später entschuldigte sie sich mit einem ausgiebigen Kommentar in der New York Times: »Ich habe einen großen Teil meiner Karriere als Diplomatin gearbeitet. In diesem Beruf spielen Worte und Kontext eine entscheidende Rolle. Man könnte also annehmen, dass ich es hätte besser wissen müssen, als einer großen Gruppe von Frauen zu sagen, sie sollen zur Hölle fahren.«1 Die Kontrolle über den Satz war zu diesem Zeitpunkt bereits verloren, der Fluch blieb. Die Erklärung sowie, bedauerlicherweise, auch ihre kluge Urheberin geraten immer mehr in Vergessenheit.

Dabei ist die Sehnsucht vieler Frauen nach Unterstützung untereinander riesig – vor allem am Arbeitsplatz. Gleichzeitig erleben viele von uns in der Berufswelt eine andere Realität. Weibliche Chefinnen haben oft gerade bei ihren Mitarbeiterinnen einen schlechten Ruf – diese fühlen sich mitunter nicht unterstützt, sondern noch stärker von Chefinnen, als von Chefs, benachteiligt.

Studien belegen diese Beobachtung. Man verortet die Ursachen der Unzufriedenheit in der Anspruchshaltung der Mitarbeiterinnen: Sie fordern von »weiblichen Vorgesetzten, solidarisch zu handeln und sich mit anderen weiblichen Arbeitnehmern zusammenzuschließen, um Frauen in Führungspositionen zu bringen«.2 Ob Albrights Höllenfluch diese Erwartungshaltung – und den aufkommenden Frust, wenn dem nicht nachgekommen wird – mitverursacht hat, kann logischerweise nicht nachgewiesen werden. Fakt ist, dass ihr kühnes Zitat immer wieder auftaucht, wenn Frauen andere Frauen – auch zu Recht – kritisieren.

In solchen Debatten klingt schnell Resignation durch: »Frauen können eben doch nicht miteinander«, seien »von Natur aus bitchy«, weil »eifersüchtig«, wenn eine vermeintlich attraktivere Frau mehr Aufmerksamkeit von einem Mann bekäme3 – eine nachvollziehbare, aber traurige und voreilige Schlussfolgerung. Die Wahrheit wird selbstverständlich wesentlich komplexer und diverser gewesen sein. Menschen, somit Frauen, existieren seit über 300.000 Jahren.4 In diesem langen Zeitraum waren Frauen mehr als Gattinnen und Männer nicht nur Anführer. Auch gibt es genug Indizien, dass Frauen schon immer starke und belastbare Netze flochten – auch hier, mitten in Europa. Es reicht, etwa 400 Jahre zurückzublicken – klingt viel, ist es aber im Gesamtbild von Hunderttausenden Jahren wirklich nicht.

Im Mittelalter fanden in Großbritannien unglaubliche Female-Empowering-Ereignisse statt: »Ankunftspartys«, quasi. Sie müssen spektakulär gewesen sein, zogen sich manchmal über Tage hin, Ausnahmezustand, Belagerung und Grenzerfahrung inklusive – es ging sprichwörtlich ans Eingemachte, mitunter sogar um Leben und Tod. Entsprechend wichtig waren diese Veranstaltungen für Freundinnenkreise, vermutlich wurden tagelang Speisen vorbereitet und Terminpläne danach ausgerichtet. Wer nicht dabei war, verpasste Gespräche, Neuigkeiten und eine einzigartige gemeinsame Erfahrung. Die Teilnehmerinnen dieser Runden nannte man Godsibbs im Altenglischen, sibblings of God, Geschwister Gottes – »Patinnen«, würde man heute sagen. Sie begleiteten den Eintritt der Kinder ihrer Freundinnen ins Leben. Die sozialen Ereignisse waren Geburten.5

Unvorstellbar, dass eine Frau allein oder gar mit ihrem Mann ihr Kind willkommen heißt. Die Godsibbs begingen Niederkünfte mitsamt ihren Widrigkeiten und körperlichen sowie emotionalen Extremen als Gruppe. Sie standen einander bei, spendeten Trost und gingen sich zwischendurch vermutlich gehörig auf die Nerven. Streit und Langeweile gehörten genauso dazu wie Schmerzen, Furcht und medizinische Notsituationen, dafür waren Hebammen anwesend. Am Ende jeder Willkommensfeier stand ein neues Leben und die erste Geburtstagsparty.

Ich versuche, so ein Geburtsfest im Kopf durchzuspielen: Ich läge in den Wehen, während meine »Patinnen« mir Suppe einflößen, den Hintern ab- und Fruchtwasser aufwischen, Orangen pellen und mir Tipps geben, in welcher Position ich das Kind am besten rauspresse: stehend? Hockend? Im Vorbeigehen am Rande des Schlachtfelds, wie einst mongolische Kriegerinnen? Ich habe meine Geburt mit einer Hebamme, zwei Schichtärztinnen und meinem Mann im Kreißsaal 6 der Berliner Charité bestanden. Das reichte, mehr Menschen hätte ich überhaupt nicht ausgehalten.

Dass westliche Geburten in Abgeschiedenheit stattfinden, ist ein Phänomen der Neuzeit. Die Godsibbs des 16. Jahrhunderts tauschten sich in den langen Stunden, in denen die werdenden Mütter in den Wehen lagen, vielleicht über Gesundheit, Kindsväter, Babypflege, Stilltechniken, aber sicherlich vor allem banale Dinge aus: Wie viel Seifenlauge es zu welchem Preis gab, welcher Kammerdiener für welchen verfeindeten Fürsten spioniert, welcher Bäcker zu viel Geld für schlechtes Brot nimmt oder wie viel Kilo das neue Samtkleid der armen Herzogin wohl wiegen möge – Alltägliches, Nützliches und auch Geheimes, Politisches und Professionelles wurde besprochen. Historikerinnen glauben mittlerweile übereinstimmend, dass lediglich Frauen aus dem Adel und dem Großbürgertum nicht arbeiteten, für den Großteil der normalsterblichen Frauen war »der Verdienst aus einer Berufstätigkeit oder einer gelegentlichen Arbeit eine Notwendigkeit«. Richtige Ausbildungen bekamen Mädchen allerdings nicht, man brachte ihnen nur das Nötigste bei. Frauen arbeiteten eher mit den Händen, im Gesinde als Köchinnen, Küchenmädchen, Kinder- und Krankenwärterinnen, Viehmägde, im Kleinhandel auf den Straßen und an Haustüren, oder sie brauten Bier6, um ihre Familien zu ernähren. Viele Berufe führten sie in die Häuser bessergestellter Männer. Ich nehme an, dass die Hausherren ihre Angestellten kaum zur Kenntnis genommen haben, die somit uneingeschränkte Einblicke in deren Privatleben bekamen, indem sie Abfälle wegbrachten, Mahlzeiten kochten – scheinbar wertlose, sogar schmutzige Tätigkeiten und wertloses Wissen, aber: Offenbart sich das Wesen eines Menschen nicht häufig genau dort? Im Alltag? In Vorlieben und Abneigungen?

Wie viele Frauen genau als Godsibbs unterwegs waren, habe ich nicht herausfinden können. Geburtspartys fanden wahrscheinlich ständig statt, denn Frauen bekamen im Mittelalter mitunter zehn Kinder. Sicher ist, dass Neuigkeiten aus den Häusern der Wohlhabenden mutmaßlich schneller als Pockenviren durch die Stuben reisten: Eine Küchenhilfe, die bei Herrn X arbeitet, erzählt den Godsibbs während einer Geburt, dass neuerdings Wertgegenstände bei ihrem Hausherrn verschwinden und seine Klamotten obendrein nach Rauch und Bier stinken.

»Ahh, der Herr X von den Tuchmachern?«, fragt eine Freundin, die als Kellnerin in der Schänke arbeitet. »Den habe ich neulich mit den Hütchenspielern gesehen.«

Nachdem das Baby gesund zur Welt kam, erzählt die Bäckerin zu Hause ihrem Gemahl, dem Bäcker, von den Beobachtungen ihrer Freundinnen über Herrn X. Am nächsten Tag kommt der Bänker zum Bäcker. Der plaudert brühwarm aus:

»Haben Sie schon gehört? Herr X von den Tuchmachern ist dem Glücksspiel verfallen.«

»Interessant«, antwortet der Bänker und kehrt zurück in die Bank, wo er das Kreditgesuch von Herrn X kritisch beäugt und ablehnt.

Herr X ist außer sich. »Warum bekomme ich keinen Kredit?«, brüllt er.

»Weil die Frau vom Bäcker auf der Geburt der Köchin gehört hat …«

Man kann sich den Rest denken. Und die Moral von der Geschicht?

Diese Godsibbs! Zerreißen sich das Maul!

Nicht etwa: Herr X hätte sich seiner Spielsucht stellen sollen.

Oder: Dieser Bäcker! Kann aber auch nichts für sich behalten!

Kein...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Altes Wissen • Bestseller-Autorin • carolin criado-perez • die gereizte frau • eBooks • Esoterik • female empowerment • Feminismus • Frauenwissen • Gender Studies • Geschichte • Hebammen • Heilerinnen • Köchinnen • Kulturjournalistin • Neuerscheinung • Patriarchat • Priesterinnen • Schamaninnen • Sexarbeiterinnen • Sisterhood • Soziale Intelligenz • spiegel bestseller • Unlearn Patriarchy • Unsichtbare Frauen • Unterdrückung • wahrsagerinnen • Weisheit • Weiße Frauen
ISBN-10 3-641-31564-6 / 3641315646
ISBN-13 978-3-641-31564-1 / 9783641315641
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