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Wählen und Verdienen (eBook)

Über amerikanische Staatsbürgerschaft und das Streben nach Inklusion
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
170 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3023-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wählen und Verdienen -  Judith N. Shklar
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Judith N. Shklars Wählen und Verdienen beschreibt Staatsbürgerschaft als dynamischen Prozess, in dem marginalisierte Gruppen sich das Recht, vollgültige Bürger zu sein, immer wieder erkämpfen müssen. In den USA geschah dieser Kampf stets vor dem Hintergrund der Sklaverei, die, anders als in Europa, gerade keine bloße Metapher war, sondern als Symbol drohender Entrechtung über allen politischen Auseinandersetzungen schwebte. Dabei ist für Shklar das Wahlrecht nur ein Aspekt von Staatsbürgerschaft. In einer Arbeitsgesellschaft hat allein derjenige eine soziale Stellung, der auch für ein Einkommen sorgen kann. Das Recht auf Arbeit bildet somit eine Voraussetzung zu politischer Teilhabe.  Prägnant und äußerst aufschlussreich führt uns Judith N. Shklar vor Augen, dass Wählen und Verdienen Merkmale von moderner Staatsbürgerschaft sind. Das eine setzt das andere voraus: Nur wer verdient, gilt als vollwertiger Bürger.

Judith N. Shklar, 1928 in Riga geboren, lehrte Politikwissenschaften an der Harvard University und starb 1992 in Cambridge, Massachusetts. Die Relevanz ihres Werks findet erst in den letzten Jahren Anerkennung. Ihr Essay Der Liberalismus der Furcht gilt inzwischen als Klassiker der jüngeren politischen Philosophie und als Schlüsseltext der Liberalismustheorie.

Judith N. Shklar, 1928 in Riga geboren, lehrte Politikwissenschaften an der Harvard University und starb 1992 in Cambridge, Massachusetts. Die Relevanz ihres Werks findet erst in den letzten Jahren Anerkennung. Ihr Essay Der Liberalismus der Furcht gilt inzwischen als Klassiker der jüngeren politischen Philosophie und als Schlüsseltext der Liberalismustheorie. Hannes Bajohr ist Philosoph und Literaturwissenschaftler und derzeit Postdoc am Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Ideengeschichte, politischer Philosophie und Theorien des Digitalen. Zuletzt erschien im August Verlag: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen (2022).

Einleitung


Es gibt keinen für die Politik zentraleren Gedanken als den der Staatsbürgerschaft und keinen, der in der Geschichte unbeständiger oder in der Theorie umstrittener gewesen wäre. In Amerika ist Staatsbürgerschaft im Prinzip immer demokratisch gewesen – aber eben nur im Prinzip. Von Beginn an wurden die radikalsten Forderungen nach Freiheit und politischer Gleichheit als Kontrapunkt gegen die Besitzsklaverei artikuliert, jene extremste Form von Knechtschaft, deren Nachwirkungen uns bis heute verfolgen. Die Gleichheit politischer Rechte, dieses erste Merkmal amerikanischer Staatsbürgerschaft, wurde in der gebilligten Gegenwart ihrer absoluten Verweigerung verkündet. Ihr zweites Kennzeichen, die offene Ablehnung von Erbprivilegien, war in der Praxis aus demselben Grund nicht weniger schwer zu erlangen: Sklaverei ist ein ererbter Zustand. In den vorliegenden Essays will ich versuchen, und sei es in aller Kürze, die weitreichenden Auswirkungen darzulegen, die nicht nur die Institution der schwarzen Besitzsklaverei, sondern Knechtschaft als integraler Bestandteil einer modernen, repräsentativen, dem »Glück der Freiheit«1 geweihten Volksdemokratie auf die Art gehabt hat, wie Amerikaner Staatsbürgerschaft betrachten.

Die Würde der Arbeit und der persönlichen Leistung sowie die Verachtung alles aristokratischen Müßiggangs haben seit Kolonialzeiten in wesentlichen Teilen das Selbstverständnis amerikanischer Staatsbürgerschaft ausgemacht. Die Möglichkeit, eine Arbeit auszuüben und für seine Tätigkeit einen verdienten Lohn zu erhalten, war ein gesellschaftliches Recht, weil Arbeit eine der wichtigsten Quellen öffentlichen Respekts darstellte. Diese Möglichkeit wurde allerdings nicht nur deshalb als Recht betrachtet, weil sie kulturell und moralisch von der korrumpierten europäischen Vergangenheit abwich, sondern auch, weil die bezahlte Arbeit den Freien vom Sklaven unterschied. Der gesteigerte Wert politischer Rechte ermaß sich aus demselben Grund. Schon immer war der Stimmzettel Ausweis vollgültiger Mitgliedschaft in der Gesellschaft und seinen Wert bezieht er zuallererst aus seiner Fähigkeit, ein Minimum an gesellschaftlicher Würde zu gewährleisten.

Unter diesen Maßgaben betrachtet war Staatsbürgerschaft in Amerika zu keinem Zeitpunkt nur eine Frage von Handlungsfähigkeit und Ermächtigung, sondern auch von gesellschaftlicher Stellung.2 Ich vermeide das Wort ›Status‹, weil es eine abwertende Bedeutung angenommen hat; stattdessen werde ich von der Stellung von Bürgern sprechen. Zwar ist ›Stellung‹ ein diffuser Begriff, in dem die Bedeutung mitschwingt, eine Stelle in einer hierarchischen Gesellschaft einzunehmen, aber den meisten Amerikanern scheint es hinreichend klar zu sein, was damit gemeint ist. Ihre relative gesellschaftliche Position, bestimmt durch Einkommen, Beruf und Bildung, ist für sie von einiger Wichtigkeit. Sie wissen auch, dass die Sorge um ihre gesellschaftliche Stellung nicht völlig mit ihrem ausdrücklichen Bekenntnis zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen ist. Oft neigen sie dazu, diesem Konflikt zwischen Verhalten und Ideologie damit beizukommen, dass sie sich versichern, es gebe heute in der Tat weniger Exklusion und Statusbewusstsein als in der Vergangenheit.3 Es stimmt aber: Stellung, verstanden als der Platz in einer der oberen oder unteren sozialen Schichten, und die egalitäre Forderung nach ›Respekt‹ sind nicht leicht miteinander zu vereinbaren. Die Behauptung, Bürger einer Demokratie hätten ein Recht auf Respekt, solange sie es nicht durch eigenes inakzeptables Verhalten verwirken, ist keine Trivialität. Im Gegenteil, sie ist eine tiefgehegte Überzeugung, und um zu verstehen, wie wichtig sie seit jeher gewesen ist, muss man jene Amerikaner anhören, die ohne eigenes Verschulden dieses Rechts beraubt worden sind.

Die Wichtigkeit der beiden großen Wahrzeichen öffentlicher Stellung – das Wahlrecht und die Möglichkeit, sich einen Lebensunterhalt zu erwerben – ist besonders den Ausgeschlossenen bewusst. Sie sehen Wählen und Verdienen nicht nur als Möglichkeiten an, ihre Interessen zu vertreten und zu Geld zu kommen, sondern als die Kennzeichen des amerikanischen Staatsbürgers schlechthin. Und Menschen, denen dieser Ausweis staatsbürgerlicher Würde nicht zugestanden wird, fühlen sich nicht allein machtlos und arm, sondern vielmehr entehrt. Von ihren Mitbürgern werden sie zudem verachtet. Der Kampf um Staatsbürgerschaft war in Amerika daher überwiegend eine Forderung nach Inklusion in das politische Gemeinwesen – kein Streben nach staatsbürgerlicher Partizipation als zutiefst erfüllender Tätigkeit, sondern der Versuch, jene Schranken einzureißen, die Anerkennung verhindern und für Exklusion sorgen.

Ich habe nicht vor zu behaupten, Stellung sei die einzige Bedeutung, die der Idee der Staatsbürgerschaft in der amerikanischen Geschichte zugekommen ist. Ganz im Gegenteil. Das Wort Staatsbürgerschaft‹ hat mindestens vier klar getrennte, aber verwandte Bedeutungen, und was ich Stellung genannt habe, ist nur eine davon. Drei gleich wichtige Bedeutungen sind Staatsbürgerschaft als Nationalität, als aktive Partizipation (auch ›gute‹ Staatsbürgerschaft genannt) und schließlich die Idee idealer republikanischer Staatsbürgerschaft. Diese anderen Arten, Staatsbürgerschaft zu betrachten, sind so wichtig, dass ich sichergehen möchte, nicht den Eindruck zu erwecken, sie ignoriert oder vernachlässigt zu haben.

In jedem modernen Staat und besonders in einer Einwanderungsgesellschaft muss Staatsbürgerschaft immer etwas mit Nationalität zu tun haben. Staatsbürgerschaft als Nationalität ist die sowohl innerstaatliche als auch internationale rechtliche Anerkennung, dass eine Person Mitglied eines Staates ist, ganz gleich, ob sie dort geboren oder ob sie eingebürgert wurde. Eine solche Staatsbürgerschaft ist keineswegs trivial. Staatenlos zu sein ist eines der fürchterlichsten politischen Schicksale, das einen in der modernen Welt ereilen kann. Und besonders der Besitz eines amerikanischen Passes wird zutiefst geschätzt, zumal von naturalisierten Bürgern. Es gibt in der Tat nur wenige amerikanische Neubürger, die ihre Einbürgerungsunterlagen nicht aufgehoben hätten.

Amerikanische Staatsbürgerschaft als Nationalität hat ihre eigene Geschichte der Exklusionen und Inklusionen, und in ihr haben Fremdenhass, Rassismus, religiöse Borniertheit und die Furcht vor ausländischen Verschwörungen eine Rolle gespielt. In den Jahren vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg hing die staatsbürgerliche Position von in den USA lebenden Ausländern darüber hinaus von den widerstreitenden Interessen der einzelnen Staaten und der Bundesregierung ab. Ihre Geschichte ist daher äußerst verwickelt gewesen. So benötigten etwa die Staaten des Mittleren Westens zu einem gewissen Zeitpunkt derart dringend Arbeitskräfte, dass sie ausländischen weißen Männern sofort das Wahlrecht anboten, sobald sie die Absicht äußerten, später einmal Bürger dieses Staates zu werden. Zur selben Zeit dachten die Bürger von New England über Mittel und Wege nach, ihre irischen Nachbarn von der Erlangung der vollgültigen Staatsbürgerschaft auszuschließen.4 Die Geschichte der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik soll allerdings nicht mein Thema sein. Sie hat ihre eigenen Höhen und Tiefen, aber wovon sie erzählt, ist etwas anderes als hier geborenen Amerikanern die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Die Geschichte dieser beiden Phänomene weist Parallelen auf, weil es in beiden um Inklusion und Exklusion geht – es besteht jedoch ein gewaltiger Unterschied zwischen diskriminierenden Einwanderungsgesetzen und der Versklavung ganzer Volksschichten.

Staatsbürgerschaft als Nationalität ist ein rechtlicher Zustand und bezieht sich nicht auf eine bestimmte politische Tätigkeit. Gute Staatsbürgerschaft dagegen, verstanden als politische Partizipation, hebt auf politische Praktiken ab und betrifft die Menschen einer Gemeinschaft, die sich konsequent und dauerhaft mit öffentlichen Belangen beschäftigen. Der gute demokratische Bürger ist ein politischer Akteur, der regelmäßig an Politik auf lokaler und nationaler Ebene teilhat – nicht nur bei den Vorwahlen und am Wahltag selbst. Aktive Staatsbürger halten sich auf dem Laufenden und erheben ihre Stimme gegen öffentliche Maßnahmen, die sie für ungerecht, unklug oder schlicht zu teuer halten. Ebenso unterstützen sie offen politische Maßnahmen, die ihnen gerecht und klug erscheinen. Auch wenn sie nicht aufhören, ihren eigenen und den Interessen ihrer Bezugsgruppe nachzugehen, versuchen sie die Ansprüche anderer unparteilich abzuwägen und hören ihre Argumente gewissenhaft an. Sie gehen zu öffentlichen Versammlungen und sind Teil freiwilliger Vereinigungen. Sie diskutieren und beraten mit Anderen...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2024
Übersetzer Hannes Bajohr
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Amerika • Autokratie • Demokratie • Freiheit • Kapitalismus • Liberalismus • Politik • Rassismus • Sklaverei • Staatsbürgerschaft • Trump • USA
ISBN-10 3-7518-3023-5 / 3751830235
ISBN-13 978-3-7518-3023-2 / 9783751830232
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