Universalismus von unten (eBook)
499 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518781043 (ISBN)
Je bedrohlicher die Weltlage wird, umso stärker spüren wir, wie sehr wir global aufeinander angewiesen sind. Doch obwohl wir alle verwundbar sind, ist Verwundbarkeit ungleich verteilt. Wie aber lässt sich Ungleichheit ausgehend von Körpern denken? Anhand von Schulden- und Austeritätspolitiken untersucht Jule Govrin in ihrem fesselnden Buch, wie Menschen durch Formen der differentiellen Ausbeutung ungleich gemacht werden. Und sie begibt sich auf die Suche nach gelebter Gleichheit in der Gegenwart. Gleichheit erscheint so nicht als fernes Ideal, sondern als prekäre Praxis, welche die Sorge umeinander in den Vordergrund stellt. In solidarischen Gefügen und egalitären Körperpolitiken blitzt ein Universalismus von unten auf.
Jule Govrin ist Philosophin und politische Autorin. Sie forscht an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Politischer Theorie, Feministischer Philosophie und Ästhetik. Zuletzt hatte sie eine Gastprofessur am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und ist derzeit Gastprofessorin am Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim.
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Einleitung
Die Krisen der globalen Gegenwart lassen uns spüren, wie abhängig wir voneinander sind. Ebenso legen sie offen, in welchem Ausmaß wir ungleich gemacht werden. In den verflochtenen Vielfachkrisen unserer Zeit treten die Tiefenstrukturen hervor, in denen Menschen körperlich ausgezehrt werden. Ausbeutung, Verarmung, Verelendung sind zweifellos fortwährende Phänomene der jahrhundertelangen Körpergeschichte des Kapitals. Jedoch verdichten sie sich im klimakatastrophischen Zeitalter, in dem wir uns inzwischen befinden. Der bedrohliche Wandel von Welt und Umwelt, die Wetterextreme und die sich anbahnenden epochalen Gefahren und Konflikte, folgen wiederum wirtschaftlichen Krisenlagen. Ökonomie und Ökologie, Kapital und Körper wirken aufeinander ein. Das ließ uns die Pandemie erleben, als sich der Virus entlang von globalen Wirtschaftswegen verbreitete und auf Gesundheitssysteme traf, die durch austeritäre Sparmaßnahmen geschwächt waren. In der Coronakrise wurde die Krise der sozialen Reproduktion offenbar, die in dem auf Produktivität und Wachstum gepolten Wirtschaftssystem angelegt ist und die sich durch Jahrzehnte neoliberaler Privatisierung massiv verschärft hat. Im Windschatten von Wirtschaftskrisen entstehen Krisen der öffentlichen Gesundheit. So war es während der Finanz- und Eurokrisen ab 2008, als zahlreiche Menschen neben ihrer Arbeit und ihrem Zuhause den Zugang zur Gesundheitsfürsorge verloren. Dieses Gesamtgefüge einander verstärkender Krisen manifestiert sich physisch und psychisch. Unsere Körper geraten in die Krise, sind gestresst, erschöpft, kränkeln – oder sind Gefahren ausgesetzt, durch drohende Gewalt, mangende Gesundheitsfürsorge, fehlendes Essen, ausufernde Stürme und Überschwemmungen.
In ihren materiellen Auswirkungen verweisen solche Krisenmomente auf unsere Körperlichkeit, eine Körperlichkeit, die verletzlich und versehrbar ist. Ebenjene Verwundbarkeit wirft uns darauf zurück, dass wir miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind. Nicht allein mit den uns nahestehenden, sondern ebenso mit uns entfernten Menschen, wenn auch in verschiedenen Weisen. Die Mehrheit der Menschheit weiß das seit langem. Doch 10viele der bislang wohlstandsgeschützten Menschen in westlichen Gesellschaften nehmen diese Abhängigkeit erst wahr, wenn transnationale Wirtschaftssysteme ins Stocken geraten, Lieferketten zusammenbrechen und der Warenfluss im Supermarktregal ausbleibt, wenn plötzlich auch vor ihrer Haustür Extremwetterphänomene zunehmen, wenn Kriege und Katastrophen bedrohlich nahe kommen und nicht mehr die weit weggerückten Probleme anderer sind. Es ist allerhöchste Zeit, sich mit dieser Abhängigkeit auseinanderzusetzen.
Diese globale Abhängigkeit ist allerdings von Ungleichheit geprägt. Die Vielfachkrisen unserer Gegenwart verdeutlichen, wie Abhängigkeitsverhältnisse asymmetrisch ausgebeutet werden. Fatale Folgen der Gewinnsucht des Kapitals werden einseitig angelastet, und zwar vornehmlich denen, die weder in der Verantwortung stehen noch den Profit einstreichen – auch das führt die Klimakrise vor Augen. Trotz dieser geschichtlich gewachsenen Gegenwartslage der Ungleichheit zeugt Abhängigkeit genauso von Gleichheit. Als erfahrbare Abhängigkeit legt sie offen, dass wir, um bestehende und kommende Krisen zu bewältigen, der Solidarität und der kooperativen Beziehungen bedürfen. Bei allem Schrecken und aller Bedrohlichkeit, die Abhängigkeit und Verwundbarkeit bergen, wohnt ihnen ein Versprechen inne – auf egalitäre, solidarische, sorgende Praktiken.
Unsere Verbundenheit und unsere Verwundbarkeit sind unserer Körperlichkeit geschuldet. Da wir zuallererst körperliche Wesen sind, die von Geburt an Zuwendung brauchen, teilen wir ein Grundbedürfnis nach Sorge. Sosehr wir einander gefährden, so sehr sind wir durch unser Sorgebedürfnis aneinander gebunden (Butler 2005, 37). Da Menschen aufeinander angewiesen sind und sich gemeinsam organisieren müssen, sind ihre Körper politisch. Der Umstand, durch einander verwundbar und aufeinander bezogen zu sein, erfordert ein radikales Umdenken: von Einzelkörpern hin zu Körpern im Plural. Darin zeichnet sich der philosophische Horizont einer relationalen Ontologie ab. Die uns umtreibenden Krisen – Coronakrise, Klimakrise, Sorgekrise, Gesundheitskrise – leuchten die politischen Dimensionen von Körperlichkeit grell aus. Zum einen machen sie sichtbar, wie sehr wir einander beschützen müssen, zum anderen, wie ungleich Schutz und Sorge verteilt sind.
Die krisengeschüttelte Gegenwart wirft folglich Fragen und 11Forderungen nach Gleichheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl auf. Wie lassen sie sich mit unserer verkörperten Verbundenheit zusammenführen? Um Gleichheit und Ungleichheit ausgehend von Körpern zu denken, beginnt mein Vorgehen gewissermaßen »von unten« und setzt bei Verkörperung, Verbundenheit und Verwundbarkeit ein.[1] Für eine solche Erkundung der Gleichheit soll hier das Konzept eines Universalismus von unten eingeführt werden. Es wird in der Auseinandersetzung mit solidarischen Sorgepraktiken, egalitären Körperpolitiken und widerständigen Wissensproduktionen Konturen gewinnen. Zugleich eröffnet es einen normativen Horizont, um bestehende Ungleichverhältnisse im Unterfangen einer Ökonomiekritik von unten zu untersuchen. Das Bestreben meines sozialphilosophischen Bottom-up-Ansatzes liegt darin, eine Theorie der radikalen Gleichheit zu umreißen, die auf Differenz aufbaut und sich in solidarischer Praxis verwirklicht. Dafür verfolge ich eine zweifache Fragestellung: In analytischer Hinsicht frage ich, wie sich Ökonomie als differentielle Körperökonomie betrachten lässt, die Menschen in ungleichem Maße verwundbar macht. In normativer Hinsicht frage ich, wie solidarische Praktiken als egalitäre Körperpolitiken wirksam werden, die Formen gelebter Gleichheit hervorbringen.
Obwohl Verwundbarkeit, als allgemeine Grundbedingung von Körpern verstanden, auf Gleichheit hindeutet, besteht sie ebenso im Besonderen: in der konkreten, körperlichen Erfahrung, verwundbar zu sein und verwundet zu werden, auf je verschiedene Weisen. Der uns einende Umstand, durch Verwundbarkeit verbunden zu sein zu sein, weist auf eine Gleichheit hin, die von unten, von Körpern herkommt. Dennoch scheint Verwundbarkeit ungleich ver12teilt zu sein. Um diese Doppelbödigkeit analytisch zu fassen, ist mir das heuristische Begriffspaar der universellen Verwundbarkeit und der strukturellen Verwundbarmachung behilflich. Universelle Verwundbarkeit bildet einen normativen Begriff, während strukturelle Verwundbarmachung einen analytischen Begriff bereitstellt. In diesem begrifflichen Verhältnis bildet die universelle Verwundbarkeit den normativen Rahmen für die kritische Untersuchung der ungleichen Verwundbarkeitsverteilung in der politischen Praxis. Aufgrund der sozialen Verfasstheit ihrer Körper teilen Menschen eine universelle Verwundbarkeit. Das legt den egalitären Anspruch nahe, allen gleichermaßen Schutz und Sorge zuteilwerden zu lassen. Dennoch werden sie durch Formen der strukturellen Verwundbarmachung, wie sie in den bestehenden Verhältnissen vorherrschen, ungleich gemacht. Während die universelle Verwundbarkeit als Grundbedingung des Lebens allen gemein ist, spielt sich strukturelle Verwundbarmachung inmitten des politischen Geschehens ab und materialisiert sich in prekären Lebensbedingungen.
Um die Feinstofflichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen zu fassen, bedarf es einer sozialphilosophischen Sichtweise, die sich zur Politischen Theorie öffnet und danach fragt, wie soziale Bindungen Solidarität stiften und egalitäre Praktiken hervorbringen können. Solch eine Blickrichtung von unten, die Gleichheit und Solidarität nicht auf der Ebene von Recht, Institutionen und Staatlichkeit veranschlagt und sie stattdessen als prekäre Praxis betrachtet, stellt Sorge in den Vordergrund. In praxeologischer Perspektive scheint Solidarität untrennbar mit Sorgebeziehungen verflochten. Wie lassen sich »solidarische Beziehungsweisen« (Adamczak 2017, 263) als sorgende Praktiken und egalitäre Körperpolitiken begreifen? Bleibt man bei der Betrachtungsweise von unten, werden solidarische Beziehungen in ihrer Körperlichkeit und Affektivität sichtbar, schließlich sind sämtliche sozialen Praktiken verkörpert. Diese verkörperte Verbundenheit scheint ein Versprechen auf Gleichheit zu bergen. Durch sie zeigt sich Solidarität als relationale,...
| Erscheint lt. Verlag | 13.1.2025 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
| Schlagworte | aktuelles Buch • Ausbeutung • Bücher Neuerscheinung • Körperpolitik • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • STW 2456 • STW2456 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2456 • Verwundbarkeit |
| ISBN-13 | 9783518781043 / 9783518781043 |
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