Missbrauch, Macht & Medien (eBook)
272 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-32368-4 (ISBN)
Die preisgekrönte Journalistin Juliane Löffler führt uns hinter die Kulissen ihrer investigativen Arbeit: Sie erklärt, wie Recherchen über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt ablaufen und was es bedeutet, sich mit Vorwürfen gegen oftmals mächtige Männer an die Öffentlichkeit zu wagen. Dabei wird klar, wie viel Mut Betroffene und Journalist:innen immer wieder aufbringen müssen und wie schwer es ist, gesellschaftliche Backlashs und hartnäckige Narrative von Schuld und Scham zu überwinden. Auf Basis zahlreicher Fälle und Interviews mit Betroffenen und Expert:innen offenbart Löffler die dahinterliegenden Strukturen. Sie zeigt, wie MeToo seit 2017 zu einer globalen Bewegung wurde, unseren gesellschaftlichen Diskurs verändert und ein neues Bewusstsein geschaffen hat. Doch ihre Analyse beleuchtet auch die Risiken von MeToo und verdeutlicht zugleich, wieso Systeme von Machtmissbrauch in Deutschland bis heute fortbestehen.
Juliane Löffler wurde 1986 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Kulturwissenschaften, Spanische Philologie und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Potsdam und Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut. Danach arbeitete sie bei der Zeitung der Freitag und war Senior Reporterin bei BuzzFeed News (später Ippen Investigativ). Seit März 2022 ist Löffler Redakteurin im Ressort Deutschland/Panorama beim SPIEGEL. Sie veröffentlicht seit Jahren zu Themen im Bereich sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch. Vor allem ihre Recherchen zu Ex-Bild-Chef Julian Reichelt erhielten große Aufmerksamkeit. 2021 wurde Juliane Löffler dafür zusammen mit dem Team von Ippen Investigativ vom Medium Magazin als »Journalistin des Jahres« ausgezeichnet. Löffler hat für ihre Arbeiten zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, u. a. das »Reporters in the Fields«-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, den Bert-Donnepp-Preis und den STERN-Preis 2022.
VORWORT
In einer der ersten Wochen des Jahres 2017 hing ich gebannt vor dem Rechner und klickte mich durch Bilder pinkfarbener Menschenmassen. Da liefen Hunderttausende für Frauenrechte durch die Straßen. Sicher, es ging um mehr, um Donald Trump, um Rechte für Minderheiten, um Demokratie, den Kampf gegen Desinformation. Aber dass eine Protestbewegung dieses Ausmaßes angeführt wurde von lauten Frauen, farblich gekennzeichnet durch ihre Symbole, das war neu für mich. Ich war fasziniert. Wo kamen sie auf einmal alle her?
9000 Kilometer entfernt sprachen die Aktivistinnen Krista Suh and Jayna Zweiman über einen Rückzugsort, der friedlich war und Wärme spendete, wo Ideen ohne Angst, verurteilt zu werden, geteilt werden konnten. Wo Zeit war, um durchzuatmen und ernsthafte Gespräche zu führen. Und wo sich Wollgarn stapelte, denn hier war das sogenannte Pussyhat-Projekt entstanden, die pinkfarbenen, handgestrickten Mützen, die für Solidarität und Frauenrechte standen. In dem Strickladen in Los Angeles hatten die Frauen mit zunehmender Sorge beobachtet, wie erfolgreich der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump war, trotz seiner frauenverachtenden Aussagen und Handlungen. Die Pussyhats spielten auf Trumps Worte an, Frauen einfach in den Schritt greifen zu können. Sie waren aber auch der Versuch, sich das Wort Pussy, ein Synonym für die Vulva, zurück anzueignen.
Die Frauen entwarfen ein einfaches Design für die Mützen mit den kleinen spitzen Ecken wie zwei Katzenohren, setzten eine Webseite und einen Instagram-Account auf, informierten andere Strick-Communitys, und das Projekt ging viral. Als am 21. Januar Menschen in Washington, D.C., und später in vielen anderen Städten weltweit demonstrierten, waren die Mützen das zentrale Erkennungsmerkmal der sogenannten Women’s Marches, Frauenmärsche also, von Neuseeland bis Deutschland. Einige der Mützen wurden von den Strickerinnen und Strickern mit kleinen Botschaften versehen, bevor sie per Post an ihre Adressaten gingen. Es ging darin um sexualisierte Gewalt,[1] Frauenrechte, Menschenrechte. Ein Netzwerk entstand, das sich Mut zuflüsterte, Monate bevor das Hashtag #MeToo[2] diese Funktion übernahm.
Ich arbeitete zu der Zeit bei der Wochenzeitung der Freitag und wurde gebeten, den Leitartikel zu schreiben, also den wichtigsten Kommentar der Ausgabe – ein Privileg, das eher Ressortleitern, Herausgebern oder Chefredakteuren und altgedienten Autorinnen und Autoren zustand. Aber unter den Protestierenden aller Geschlechter waren eine Menge jüngerer Frauen, also wollte man offensichtlich hören, was eine jüngere Frau dazu zu sagen hatte. Es war, als hätte man mir ein kleines Stückchen der Macht zugeteilt, die sich da gerade vor aller Augen entfaltete.
Erst später, als das Hashtag #MeToo Fahrt aufnahm und ich recherchierte, statt zu kommentieren, verstand ich wirklich, warum sich da eine so große Masse formierte. Woher die Wut kam, woher die Kraft. Was dahinterstand. Es ging nicht nur um einen sexistischen Spruch eines US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten. Es ging nicht nur um Sexismus[3] und Missbrauch. Es ging um Privilegien, Macht und den Kampf darum, wie diese künftig verteilt werden sollte. Menschen, die missbraucht worden waren, diskriminiert, die ein ganzes Leben lang immer wieder als Menschen zweiter Klasse behandelt worden waren, die gegen ihren Willen angesprochen und angefasst worden waren, gegen ihren Willen bewertet und sexualisiert, gegen ihren Willen beschämt und verletzt: Sie entschieden, gegen all das etwas zu unternehmen, und zwar indem sie überhaupt erst einmal begannen, darüber zu sprechen. Und je mehr Menschen unter dem Hashtag #MeToo von ihren Erfahrungen und Erinnerungen berichteten, umso deutlicher wurde das Ausmaß dessen, was so lange verschwiegen worden war.
Missbrauch existiert überall. Beruflich, privat und oftmals in den Graubereichen dazwischen. Missbrauch existiert im Untersuchungszimmer beim Arzt, in Chefetagen viele Stockwerke über der Stadt, im Niedriglohnsektor, in Universitäten, in der Medienbranche, im Musik-, Tanz-, Literatur- und Modebetrieb, im Film und am Theater, im Sport, in der Gastronomie, bei den Pfadfindern, in der Kirche, auf Campingplätzen, in der Pflege, in Kitas, bei der Polizei, in Anwaltsbüros, zu Hause. Er trifft Kinder, seltener Männer, mehrheitlich Frauen, weiblich gelesene Menschen, Mütter, Alleinstehende, Alte und Junge, Arme und Reiche, Starke und Schwache, Menschen mit viel oder wenig Geld, Menschen mit Villen oder in Notunterkünften, Menschen auf der Flucht, queere Menschen, People of Color, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderung, Mehrheiten, Minderheiten. Er findet in allen politischen und weltanschaulichen Spektren statt, links, rechts und in der Mitte.[4]
#MeToo. Was genau ist damit gemeint? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Schlagwort im beruflichen Kontext verwendet, wenn etwa ein Chef seine Macht gegenüber ihm unterstellten Frauen missbraucht hat oder mächtige Männer aus dem Kulturbetrieb ihren Einfluss. Es geht um Sicherheit am Arbeitsplatz. Und auch wenn die Grenzen des Sag- und Machbaren ausgelotet werden, spricht man von #MeToo; wenn bestimmt werden soll, wo der Flirt aufhört und der Übergriff beginnt, wann Sex einvernehmlich ist und ab wann es sich um eine Vergewaltigung handelt.
Diese Vorwürfe sind zugleich nur ein Bruchstück dessen, worum es geht. Denn #MeToo bedeutet: »Ich höre, was du erzählst. Ich erkenne mich darin wieder. Auch mir ist so etwas widerfahren.« Deshalb sollte man den Begriff MeToo sehr viel breiter denken. Auch wenn Männer ihre Partnerinnen krankenhausreif prügeln, ist das MeToo. Auch Stalking ist MeToo oder wenn ein Mob sich im Internet organisiert, um Frauen des öffentlichen Lebens mundtot zu machen. Und auch Missbrauch von Kindern fällt darunter. Der Begriff bezeichnet eine große Bandbreite kollektiver Erfahrungen von Übergriffen, Missbrauch und Gewalt, die durch systematische Fehler entstanden und normalisiert worden sind. Diese Normalisierung zu durchbrechen, ist der Antrieb der MeToo-Bewegung, die disruptive Kraft, die sie entfaltet. Es ist eine emanzipative Bewegung, die die Scham und zugeschriebene Mitschuld ablehnt und die Veränderungen und Gerechtigkeit einfordert.
MeToo ist sehr viel mehr als ein Hashtag oder ein Kampagnen-Schlagwort: Es ist eine soziale Bewegung.[5] Menschen auf der ganzen Welt haben ihre Stimme erhoben, vor allem Frauen. Sie leben in unterschiedlichen Ländern, sprechen unterschiedliche Sprachen, beziehen unterschiedliche Gehälter, leben in unterschiedlichen politischen Systemen und kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Und dennoch haben ihre Geschichten viele Gemeinsamkeiten. Es geht um andere Menschen, meist Männer, die sich ihnen gegenüber übergriffig verhalten und die Grenzen ihrer seelischen und körperlichen Selbstbestimmung missachtet haben, die ihre Macht missbraucht haben. Es handelt sich um eine universelle Erfahrung. Oft wird der MeToo-Bewegung vorgeworfen, alles in einen Topf zu werfen, von der blöden Anmache bis zur Vergewaltigung, und damit ungenau und vorverurteilend zu werden. Dabei wird übersehen, dass die Bandbreite dieser Erfahrungen zu ein und demselben System gehört und Menschen, die davon betroffen sind, darüber miteinander verbunden sind.[6]
Aus individuellen Erfahrungen wird ein Kollektiv, es werden Systeme von Opfern und Tätern sichtbar. »Schreiben Sie über das System«, hörte ich immer wieder, auch von mutmaßlich Betroffenen,[7] die sich nicht zitieren lassen wollten. Und natürlich ist das ein Teil von MeToo. Die ersten Enthüllungen über Harvey Weinstein, dessen Verurteilung in New York wegen eines Verfahrensfehlers mittlerweile im Berufungsverfahren aufgehoben wurde, der aber wegen einer Verurteilung in Kalifornien weiter in Haft ist, handelten nicht nur von seinen Verbrechen. Sondern davon, wie er sie über etliche Jahre mithilfe anderer Menschen unter den Teppich gekehrt hatte. Das System aus Geld und Schweigeverträgen war die eigentliche Geschichte.[8] Aber nur über das System zu schreiben, wird nichts verändern. Missbräuchliche Handlungen haben am ehesten Konsequenzen, wenn Namen genannt werden. Es steckt eine ungeheure Kraft in der Präzision, zu sagen oder zu schreiben: Diese Person hat sich gegenüber dieser anderen Person an jenem Tag in diesem Raum mutmaßlich unangemessen verhalten, und das sind die Hinweise darauf, dass es sich so zugetragen haben könnte.
Wenn man nur über Systeme schreibt, ist es einfach für Institutionen und einzelne Personen, sich nicht verantwortlich zu fühlen. Man kann lange Artikel über häusliche Gewalt schreiben, belegt mit Zahlen, Studien und Expert:innen und Frauen, die anonym über Männer berichten, die ebenfalls anonym bleiben. Man wird dafür Zuschriften dankbarer Leserinnen erhalten, in denen sinngemäß steht: »Genauso ist es mir ergangen. Ich habe Angst, meinen Fall öffentlich zu machen, aber danke, dass Sie darüber aufklären.« Mehr passiert in der Regel nicht. Die Zahlen und Fakten über Gewalt und Missstände sind mittlerweile bekannt. Dass ein ganzes Land wochenlang über mutmaßliche Missstände diskutiert, passiert, wenn Namen fallen. Julian Reichelt. Oder Till Lindemann. Oder Jérôme Boateng. Und dann wird es auf einmal konkret: Was soll diese Person getan haben? Stimmt das? Und wenn ja: Ist das okay oder nicht? Braucht es bessere Gesetze oder Regelungen, um etwas zu verändern?
Die mutmaßlichen Übergriffe und Taten, über die...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • affäre reichelt • Anne Wizorek • Arbeitsbedingungen • Christina Clemm • eBooks • Feminismus • Gewalt gegen Frauen • Harvey Weinstein • inais zotnick • Investigativer Journalismus • ippen investigativ • Jodi Kantor • Journalistin des Jahres • julian reichelt • mächtige männer • Machtmissbrauch • Machtstrukturen • #metoo • Missbrauch • Neuerscheinung • Row Zero • Sexismus • Sexualisierte Gewalt • simone kämpfer • Till Lindemann |
ISBN-10 | 3-641-32368-1 / 3641323681 |
ISBN-13 | 978-3-641-32368-4 / 9783641323684 |
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