Die letzten Jahre der Zweiten Republik (eBook)
184 Seiten
ecoWing (Verlag)
978-3-7110-5374-9 (ISBN)
Georg Renner, 41 Jahre alt, geborener und überzeugter Niederösterreicher, ist seit vielen Jahren Politik-Journalist. Zuletzt hat er das Innenpolitik-Ressort der »Kleinen Zeitung« in Wien geleitet, zuvor arbeitete er für »Die Presse«, »NZZ.at« und »Addendum«. Seit 2023 ist er freiberuflich tätig, schreibt für die »Wiener Zeitung« und »DATUM«, moderiert einen Podcast und lehrt Journalismus an der Fachhochschule Wiener Neustadt.
Georg Renner, 41 Jahre alt, geborener und überzeugter Niederösterreicher, ist seit vielen Jahren Politik-Journalist. Zuletzt hat er das Innenpolitik-Ressort der »Kleinen Zeitung« in Wien geleitet, zuvor arbeitete er für »Die Presse«, »NZZ.at« und »Addendum«. Seit 2023 ist er freiberuflich tätig, schreibt für die »Wiener Zeitung« und »DATUM«, moderiert einen Podcast und lehrt Journalismus an der Fachhochschule Wiener Neustadt.
VORWORT
Migration, Pandemie, Inflation. Dazwischen eine endlose Bundespräsidentenwahl, kontrolliert und unkontrolliert gesprengte Regierungen, Korruptionsermittlungen auf offener Bühne. Es waren und sind interessante Zeiten, die Österreich seit zehn Jahren durchmacht. Zeiten, in denen wir kurz hintereinander mehrfach einen unvermutet schwachen Staat und einen unerhört starken Staat vorgeführt bekommen haben: einen Staat, der offenbar seine Grenzen nicht mehr kontrollieren kann und mehrmals an der Wahl eines Staatsoberhauptes scheitert; aber auch einen Staat, der von heute auf morgen Unternehmen, Parks und Schulen zusperren sowie das unerlaubte Überschreiten von Bezirksgrenzen unter Strafe stellen kann. So etwas macht etwas mit einem Volk, mit den Bürgern und der Politik – und davon handelt dieses Buch.
Sehr wahrscheinlich haben Sie eine recht klare Meinung zu vielen dieser Dinge. Die habe ich auch, habe sie in diesen zehn Jahren in zahlreichen Kommentaren niedergeschrieben, in der Presse, der NZZ, bei Addendum, der Kleinen Zeitung und im Datum. Manche davon würde ich heute genauso noch einmal schreiben, bei anderen habe ich meine Meinung seither geändert. Aber darum geht es hier nicht – wenn Sie dieses Buch kaufen, um sich darin bestätigt zu fühlen, dass die »Grenzöffnung« von 2015 richtig oder diese und jene Corona-Maßnahme falsch war (und umgekehrt), werde ich Sie enttäuschen. Das hier soll keine Bewertung dessen sein, was die Regierungen dieser Jahre getan oder nicht getan haben, keine Abrechnung, keine Lobpreisung.
Es geht mir darum, einen Bogen zu schlagen von der freudlosen, gerade noch »Großen Koalition« von 2013 bis in das Wahljahr 2024, in dem ein Wunder geschehen müsste, damit ÖVP und SPÖ zusammen auch nur noch einmal in die Nähe einer gemeinsamen Mehrheit im Nationalrat kommen. Ich halte das für eine logische Entwicklung nach diesen zehn Jahren, die wir gerade alle zusammen in dieser Republik durchgemacht haben – und vielleicht sehen Sie das am Ende dieses Buches genauso.
Auf den ersten Blick mag dieser Zeithorizont willkürlich gewählt sein. Aber tatsächlich hat Österreich in diesen Jahren durch eine Vielzahl von Krisen eine so außerordentliche politische Erfahrung durchgemacht, dass es eine Überraschung wäre, wenn das Land am Ende dieses außerordentlichen Jahrzehntes noch dasselbe wäre wie an seinem Anfang – und das ist es auch nicht, wie das »Superwahljahr« 2024 uns endgültig vor Augen führt.
Als sich in der Nacht auf 10. Juni 2024 langsam der Staub des Wirbels rund um die Wahl zum Europaparlament legt, diskutiert Österreich vieles: Dass die Freiheitlichen unter Herbert Kickl stärkste Partei geworden sind zum Beispiel, warum die SPÖ unter Andreas Babler nicht vom Fleck gekommen ist, dass die Grünen trotz ihrer Spitzenkandidatin nicht unter zehn Prozent gefallen sind und so weiter. Die vielleicht größte Zäsur dieses Wahltags bleibt aber, für den Moment, außer Acht: Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Bürger ÖVP und SPÖ, den beiden Parteien, die die österreichische Republik aufgebaut und durch die Jahrzehnte geführt haben, keine Mandatsmehrheit mehr verliehen.
Zugegeben, es ist knapp. 20 Abgeordnete schickt die Republik nach Straßburg, nach dieser Wahl am 9. Juni stellen Volkspartei und Sozialdemokraten jeweils fünf davon. Und im EU-Parlament macht das nicht viel Unterschied, weil die österreichischen Abgeordneten dort nur eine Handvoll Spieler in einem gewaltigen Orchester europäischer Parteienfamilien sind. Welche einzelnen nationalen Parteien miteinander eine Mehrheit hätten oder nicht, interessiert dort zu Recht niemanden.
Aber für Österreich ist diese Wahl, ist das Jahr 2024 mit der Nationalratswahl ein logischer Schlusspunkt einer politischen Kontinentalverschiebung: Das politische Zeitalter, in dem SPÖ und ÖVP zusammen immer automatisch eine Große Koalition bilden konnten, ist vorbei. Die Zweite Republik, die sich über Jahrzehnte durch Gegensatz und Zusammenspiel, durch Machtstrukturen und Wählerschaften dieser beiden Parteien definiert hat – es gibt sie nicht mehr. Wie auch immer die nächsten Wahlen konkret ausgehen werden: Die Politik unserer Republik wird in den kommenden Jahrzehnten zwangsweise dynamischer und mehrpoliger sein als in jenen, die bis zu diesem Punkt geführt haben.
Dass ÖVP und SPÖ ihre automatische Mehrheit eingebüßt haben, ist keine plötzliche Entwicklung. Es ist ein langfristiger Prozess, der über Jahrzehnte an Fahrt aufgenommen hat, getrieben von nationalen wie internationalen Trends und Einflüssen, von Persönlichkeiten wie Freda Meissner-Blau oder Jörg Haider, aber auch von technologischen Faktoren wie der Digitalisierung der politischen Kommunikation und der Vervielfältigung demokratischer Diskursräume. Aber wirklich final manifestiert hat sich dieses Ende der Zweiten Republik, der finale Bruch mit der rot-schwarzen Mehrheit im Bund, in diesen vergangenen zehn Jahren.
Die Republik ist in das Jahr 2014 mit der Großen Koalition unter Werner Faymann und Michael Spindelegger gestartet, die – obwohl sie in den Jahren davor die Schockwellen der weltweiten Finanzkrise und der darauffolgenden Eurokrise für Österreich ziemlich passabel wegmoderiert hatte – in sich schon eine gewisse Endzeitstimmung trug. In den Jahren darauf folgten fast unmittelbar nacheinander: Die Migrationskrise. Die endlose Bundespräsidentenwahl von 2016. Die gezielte Sprengung der Koalition. Das »Ibiza-Video« und seine Folgen. Die erste Abwahl einer österreichischen Regierung, die erste »Expertenregierung«, ein beispielloses Wahlzuckerl-Verteilen im Parlament. Die Corona-Krise mit all ihren massiven Einschnitten in Alltag und Freiheit. Ermittlungen gegen eine Regierungspartei, Hausdurchsuchungen im Kanzleramt. Der russische Angriff auf die Ukraine. Eine Energiekrise. Eine massive Inflation.
All das hat unserem Land vieles vor Augen geführt: Wir haben zum Beispiel erlebt, wie unser Staat in der Migrationskrise einerseits Großes bei der Versorgung Zehntausender Menschen geleistet hat – und wie er völlig die Kontrolle über seine Grenzen verloren hat, wie er über Monate nur noch Passagier europäischer und internationaler Entwicklungen war.
Die Bundespräsidentenwahl hat uns fast ein Jahr lang beschäftigt – den Großteil davon im Rahmen eines Duells von Repräsentanten diametral unterschiedlicher Parteien, der Grünen und der FPÖ. Ich glaube, dass diese langgezogene Polarisierung in zwei Lager – unvermeidlich bei einer Stichwahl annähernd gleich populärer Kandidaten – dem Land nicht gutgetan hat.
Oder die Covid-Maßnahmen: Binnen weniger Wochen haben wir gelernt, dass ein eher nur medioker auf solch eine Situation vorbereiteter Staat auf Basis von Gesetzen, die noch der Kaiser kundgemacht hat, massiv in unser Leben, unsere Freiheit eingreifen kann. Dass dieser Staat sogar bereit wäre, die Menschen im Land bei Strafe zu einer Impfung zu zwingen – beschlossen bei einem Treffen der Landeshauptleute, ohne dass es eine größere Diskussion darüber gegeben hätte.
Und dann ist da noch die wirtschaftliche Krise, ausgelöst primär durch den russischen Überfall auf die Ukraine. Sie kostet Österreich schließlich – auch weil sich die Republik in den vorangegangenen Jahren Russland sehenden Auges an den Hals geworfen hat – etwas, das lange Zeit Basis unserer stabilen Zweiten Republik war: Wir verlieren an Wohlstand. Ein paar Monate lang können staatliche Hilfs- und Förderprogramme das noch übertünchen – aber jetzt, Mitte 2024, zeichnet sich ab: In irgendeiner Form werden die Österreicher die Rechnung dafür zahlen müssen, ob durch eingeschränkte staatliche Leistungen oder höhere Steuern.
Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, dass all das die Schuld der ehemaligen Großparteien wäre. Manches, wie zum Beispiel der Wohlstandsverlust infolge von Energiekrise und Inflation, hätte sich sehr wahrscheinlich so oder so nicht vollständig vermeiden lassen. Anderes, wie die Macht- und Verantwortungsverteilung zwischen Bund und Ländern, deren Defizite etwa bei der Unterbringung von Migranten oder der Bewältigung der Pandemie offensichtlich geworden sind, hat man tatsächlich über Jahre und Jahrzehnte schleifen lassen.
Aber dass so ein Jahrzehnt unterschiedlichster Krisen nicht spurlos an einem Staat vorbeigeht, dass die Reibung ihn, seine Bürger und politischen Institutionen »wundscheuert«, wie es der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn während der Pandemie einmal formuliert hat, scheint mir offensichtlich. Dass es in so einem politischen Klima etablierte Strukturen schwer haben und jene profitieren, die die Stimmung einer von der Dauerbelastung geprüften – oder zumindest genervten – Bevölkerung am besten einfangen können, ebenso. Und es gehört zur Tragödie der Demokratie, dass das nicht immer jene sind, die auch die besten Lösungen für die jeweiligen Krisen parat haben.
Dieses Buch ist allen gewidmet, die sich politisch betätigen, vom Bundespräsidenten ganz oben bis hinunter zum Gemeinderat. Auch wenn man uns Journalisten gerne nachsagt, die Macht, die wir beschreiben, in Wirklichkeit ja selbst haben zu wollen: Ich beneide niemanden von ihnen – und ganz besonders niemanden, der in diesen zehn Jahren Verantwortung getragen hat.
Ich wollte nicht Werner Faymann oder Johanna Mikl-Leitner sein, als sie am Abend des 5. September 2015 erfahren haben, dass Viktor Orban den Marsch der Migranten Richtung Wien nicht aufhalten wird – und damit die Österreicher vor die Wahl gestellt hat, innerhalb von...
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2024 |
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Verlagsort | Wals |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bundeskanzler • Bundespräsident • Bundesregierung Österreich • Corona • Demokratie • Flüchtlingskrise • FPÖ • geschenk für politikinteressierte • Gesellschaft • Große Koalition • Ibiza • Inflation • Klimakrise • Krieg • Krisen • Migration • Nationalrat • Österreich • Österreichische Politiker • österreich parteien • ÖVP • Pandemie • Parlament • Parteien • Politik • politik bücher • Politik Österreich • Politikverdrossenheit • Politische Krisen • politische skandale österreich • Populismus • Proporz • Rechtsruck • Sebastian Kurz • Skandal • Sozialpartnerschaft • SPÖ • Ukraine • Wahlen • Wirtschaft Österreich • Zweite Republik |
ISBN-10 | 3-7110-5374-2 / 3711053742 |
ISBN-13 | 978-3-7110-5374-9 / 9783711053749 |
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Größe: 599 KB
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