Der herausgeforderte Superorganismus (eBook)
458 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-0994-3 (ISBN)
Eckhard Schindler ist als Ingenieur in den Bereichen Informatik und Fabrikautomatisierung tätig. Daneben setzt er sich mit anthropologischen, neurophysiologischen, psychologischen und sozialen Phänomenen auseinander, deren Verstehen helfen könnte, die Zeichen unserer Zeit zu entschlüsseln.
Teil 1 – Ein Anfang des integrativen Denkens
Das Ende der Evolution ist der Anfang des integrativen Denkens oder – genauer – des systemisch-integrativen Denkens und Handelns.
Matthias Glaubrecht stellt in seinem Buch „Das Ende der Evolution“ ausführlich dar, wie der Mensch den Artenreichtum auf seinem Planeten vernichtet und wie er somit das Ende der Evolution einläutet (für Details siehe Glaubrecht 2019 und im vorliegenden Buch Teil 5, Abschnitt E1). Laut Glaubrecht (und weiterer Wissenschaftler) ist ein neues Erdzeitalter angebrochen – das Anthropozän. Es ist dadurch charakterisiert, dass der Mensch aus den begrenzten ökologischen Nischen, die ihm die Natur – nicht zuletzt seine eigene – jeweils zugewiesen hatte, heraustritt und dass er dabei ist, sich zum maßgeblichen globalen biologischen Einflussfaktor aufzuschwingen. Er hat sich in einem Maße verbreitet und derart wirkmächtige Technologien in Gebrauch genommen, dass kein Stück Natur mehr vor ihm sicher ist. Die Natur setzt ihm keine Grenzen mehr. Er hat die Ketten gesprengt.
Dadurch hat der Mensch etwas gewonnen – nämlich Macht und Einfluss und die Möglichkeit, sich seine Umgebung so zu formen, wie sie ihm am besten passt. Dadurch hat der Mensch aber auch – so hier die These Nr. 1 – etwas verloren, das es zu ersetzen gilt: kostenlose Führung und Regulierung. Er kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Naturgesetze oder wahlweise die Götter ihn behüten (oder dass sie die durch ihn verursachten Schäden begrenzen) (oder dass ein einziger Gott dafür verantwortlich zeichnet). Der Mensch ist selbst zum Gott geworden – und zugleich zum Elefanten im Porzellanladen der Arten. (Die regulierende Wirkung der Naturgesetze wird uns ganz sicher irgendwann einholen, dann aber gewiss nicht in einer Art und Weise, wie wir sie uns wünschen könnten.)
Dieser Verlust ist – so soll hier als These Nr. 2 behauptet werden – durch systemisches und integratives Denken und Handeln zu ersetzen. Das hat etwas mit dem Gehirn des Menschen zu tun, mit der Fähigkeit, Naturphänomene immer präziser in seinem Denkapparat abzubilden, Naturgesetzen auf die Schliche zu kommen und sie für seine Zwecke zu gebrauchen. Das hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Kognitionen – also Kenntnisse, Meinungen, Überzeugungen etc. – zu teilen und gemeinsam zu entwickeln sowie gesellschaftliches Bewusstsein und sozialen Zusammenhalt zu kultivieren. Und es hat vor allem etwas mit der Fähigkeit zu tun, im Denken einen großen raumzeitlich-erkenntnistheoretischen Bogen zu spannen – über alle Völker der Erde, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, über alle kulturellen, technologischen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, über alle Fachgebiete, über alle Formen des Stoffwechsels (Essen, Fäkalien, Rohstoffe, Kunststoffe, Müll, Emissionen etc.), über die Einbettung des Menschen in den Schoß der Natur und der Naturgesetze sowie über alle Systemzusammenhänge und Spannungsfelder. Wenn es der Mensch schafft, in diesem multidimensionalen Variabilitätsraum alle wesentlichen Systemzusammenhänge zu begreifen und sich selbst ins rechte Verhältnis zu allen natürlichen Regulierungsvorgängen zu setzen, dann könnte man von systemisch-integrativem Denken und Handeln sprechen. Dann würden wir eine heutige Welt verlassen,
- die als expansiv und stark materialisiert wirtschaftende Vorteilsgemeinschaft gelebt wird,
- in der alle Formen des Reichtums – Kultur, Wissen, Bildung, Zusammenhalt, materieller Reichtum, menschliches Leben, Natur – letztlich im Namen des Rechts des Stärkeren (in Kriegen) viel schneller wieder ausgelöscht oder konterkariert werden, als sie entstanden sind oder geschaffen wurden,
- in der technologischer Fortschritt zuvorderst der Motivation folgt, Menschen und ihren Reichtum effektiv (durch Militärtechnologie) vernichten zu können, sodann derjenigen, Menschen und ihren künstlichen, naturfeindlichen Reichtum gedeihen zu lassen (um ihn später wieder vernichten zu können) und erst danach derjenigen, sich mit der Natur ökologisch zu integrieren.
Dann würden wir eine künftige Welt betreten,
- in der Wachstum vor allem im Kopf, in den Sozialbeziehungen und in den internationalen kulturellen Beziehungen stattfindet,
- gepaart mit der gemeinsam zu entwickelnden Fähigkeit, materialisierte menschliche Präsenz auf ein naturverträgliches Maß zu reduzieren,
- gepaart mit der Fähigkeit, machtpolitisch auf dem Teppich einer dauerhaft gedeihlichen internationalen Diplomatie zu bleiben.
Bisher steht der Mensch bestenfalls an der Schwelle zu dieser Entwicklung. Aber er hat keine andere Wahl. Alles muss in seinen Kopf hinein. Alles muss in den neuronalen Assoziationsnetzwerken abgebildet und in ihnen in Übereinstimmung gebracht werden. Alles muss in der globalen Menschengemeinschaft ausdiskutiert werden. Die Weltbevölkerung muss sich einig werden, wie sie den einzigen Planeten, auf dem sie leben kann, rettet.
Dass es an intellektuellen Rohstoffen mangeln würde, kann man nicht sagen. Formen von Spezialwissen oder von lexikalischem Wissen sind eher eine ständige Flut denn Mangelware. Mit komplexeren oder interdisziplinären Formen von Systemverständnis und mit dem großen Bogen hapert es allerdings noch gewaltig.
Dabei sind durchaus viele gute Ansätze vorhanden. Es gibt unzählige Menschen, Initiativen, Organisationen und Institutionen, die sich dem Fortschritt, der Integration, dem Umweltschutz, dem sozialen Ausgleich, der Nachhaltigkeit oder der Erhaltung des Weltfriedens verschreiben. Man denke z. B. an Umweltbewegungen verschiedenster Art, World Wide Fund For Nature (WWF), Umweltpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik, Vereinte Nationen (UNO), internationale Diplomatie, Club of Rome, Alfred-Wegener-Institut, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, um nur wenige Beispiele anzuführen und unzählige andere nennenswerte zu verschweigen. Im Sinne einer gut regulierten, naturverbundenen, friedlichen und sozialen Lebensweise sowie im Sinne der Aufklärung und des Erkenntnisfortschritts gibt es praktisch keine positive Initiative, die es nicht gibt. Das ist ein guter Anfang.
Reicht das jedoch? Nein, bei Weitem nicht! Denn zugleich erlaubt sich der Mensch jede Menge Nachlässigkeiten und Schändlichkeiten. Nur einige seien hier genannt: Müllberge und Giftstoffe; naturschädliche Technologien; die faktische Kapitulation vor Rebound-Effekten, die „Nachhaltigkeit“ jederzeit zunichtemachen; Kasino-Kapitalismus; die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, sich strukturellen Imperativen auszusetzen, d. h. mit kurzsichtigen Lösungen für die Gegenwart künftiges Elend und künftige Katastrophen vorzuprogrammieren, und das ohne angemessenes Risikobewusstsein; Unterdrückung; Hunger; Kriege; die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, (eigentlich lächerliche) Befindlichkeiten, bizarre Bedürfnisse und Egoismen so ernst zu nehmen, dass er sich mit Mitmenschen verstreitet und die Natur zerstört – mit allen Konsequenzen, die das haben kann –, bis hin zu Hass, Hetze, Mobbing, Feindschaft, Mord, Krieg und beliebigen Kollateralschäden.
Woran hängt nun die Fähigkeit des Menschen, den großen Bogen zu spannen? Wie kann es gelingen, alle Systemzusammenhänge so weit in den Blick zu nehmen, dass keine apokalyptischen Szenarien eintreten? Das kann nur – so hier die These Nr. 3 – in gemeinsamer Anstrengung aller Bürger dieser Erde gelingen. Es hängt an der Frage, wie sich die Volksintelligenz im globalen Maßstab entwickelt. Es hängt an der Frage, wie es möglicherweise dazu kommt, dass eine Mehrheit der Weltbevölkerung motiviert ist, alle Systemzusammenhänge dieser Welt begreifen und entsprechend den Erkenntnissen, die in dieser Richtung mühsam zu erringen sind, handeln zu wollen. Es hängt an der Frage, inwiefern es gelingt, dass überall auf dem Globus ein maßgeblicher Teil der Bürger auf diesen Pfad einschwenkt und in diesem Sinne gemeinschaftliche Bewusstseins- und Teambildung betreibt. Es hängt davon ab, ob sich so etwas wie eine „Großgruppenvernunft“ – im Sinne einer allgemein verbreiteten Fähigkeit zum Denken und Handeln in globalen Systemzusammenhängen – global entfaltet und zum Tragen kommt.
Doch damit sieht es schlecht aus. Viele leben in Not, Armut oder Abhängigkeit, sodass es für sie die Möglichkeit, gemeinschaftliche oder gar globale Zielstellungen in den Blick zu nehmen, gar nicht gibt. Andere sind gut situiert und frei genug, um Spielräume zu haben, doch für sie bilden die globale Gemeinschaft und ihr Wirken, wenn überhaupt, nur ein Nebenthema, während man sich in der Familie, im Verein, im spezialisierten beruflichen Umfeld, in der Lokalpolitik oder in Kunst und Kultur verwirklicht. Als einzelner Bürger oder als Mitglied einer begrenzten Gemeinschaft, wie Familie, Sportklub, Firma, Staat usw., richtet man zumeist auch keinen großen Schaden an, und bis zur...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Biodiversität • Gehirn • Intelligenz • Kapitalismus • Klimawandel |
ISBN-10 | 3-7597-0994-X / 375970994X |
ISBN-13 | 978-3-7597-0994-3 / 9783759709943 |
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