Der lange Weg ins Hilfesystem (eBook)
268 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8553-2 (ISBN)
Ulrike Brizay, Dr., hat eine Gastprofessur für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen Berlin inne.
Einführung in die Publikation
Ulrike Brizay
Die Zahl von Menschen, die ihr Herkunftsland verlassen, steigt weiter an. Nach Daten des World Migration Reports gab es 2020 weltweit 281 Millionen Migrant*innen (vgl. McAuliffe/Triandafyllidou 2021, S. 3 f.). Die Entscheidung zur Migration basiert auf vielfältigen Gründen und kommt in der Regel auf Grundlage rationaler Abwägungen zustande. Gleichzeitig ist sie in vielen Fällen alternativlos, was durch Begriffe wie Flucht oder Vertreibung hervorgehoben werden soll (vgl. Scherr/Scherschel 2019, S. 35). Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen schätzt die Zahl der Menschen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und im Ausland Zuflucht zu suchen, für das Jahr 2022 auf ungefähr 46 Millionen Menschen (vgl. United Nations High Commissioner for Refugee 2023, S. 2). Diese Daten verweisen auf das Ausmaß der Herausforderung für Aufnahmeländer hinsichtlich der Versorgung und Integration neuankommender Menschen. Gleichzeitig zeigt sich, dass Migration und Flucht in enger Verbindung zueinanderstehen. Grundsätzlich wird der Begriff „Migration“ gebraucht, wenn Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ihre Heimat verlassen. Der Begriff „Flucht“ hingegen bezeichnet eine Reaktion von Menschen, die sich in ihrer physischen oder psychischen Integrität bedroht fühlen. In der Regel ist die Abgrenzung zwischen den Begriffen nicht immer eindeutig und bei beiden Phänomenen gilt, dass es meist mehrere kausale Faktoren gibt (vgl. Schraven et al. 2015, S. 3). Die Unterscheidung ist dennoch von enormer Bedeutung, da Geflüchteten, die aus Angst vor Verfolgung ihr Land verlassen mussten, im Gegensatz zu Migrant*innen ein Recht auf Aufnahme und Schutz in Form von Asyl zusteht. Dies ist in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt worden (vgl. Scherr/Scherschel 2019, S. 15). Laut Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention gelten alle Personen, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ ihr Land verlassen mussten als Flüchtlinge. Braunsdorf (2019) verweist darauf, dass die Definition der Flüchtlingskonvention der Realität von Fluchtursachen nicht gerecht wird, denn für „viele ist die Entscheidung, ihr Zuhause zu verlassen, eine Anpassungsstrategie an sich verschlechternde Lebensbedingungen und hat tiefliegende politische, ökologische und wirtschaftliche Ursachen” (Braunsdorf 2019, S. 7). In der Praxis zeigt sich dementsprechend, dass nicht alle Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, die strengen Kriterien der Flüchtlingskonvention erfüllen. Allerdings bietet das Asylverfahren neuankommenden Menschen aus Drittstaaten eine der wenigen Möglichkeiten, sich legal in Deutschland aufzuhalten (vgl. Fachkommission Fluchtursachen 2021, S. 17). Diese einleitenden Ausführungen verweisen auf die Komplexität der Thematik und sind notwendig, um den Gegenstand der vorliegenden Publikation angemessen einzugrenzen.
Der Sammelband fokussiert sich auf die psychosoziale Versorgung geflüchteter Menschen1, die sich im Asylsystem befinden bzw. dieses durchlaufen haben. Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, weisen häufig einen erhöhten Versorgungsbedarf im medizinischen und psychosozialen Bereich auf. In einer repräsentativen Befragung geben 87% der Geflüchteten als Fluchtgrund Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung an und 56% berichten von traumatischen Erfahrungen auf dem Weg nach Deutschland, wie beispielsweise Schiffbruch, Gewalt, sexuelle Übergriffe oder willkürliche Verhaftungen (vgl. Brücker et al. 2019, S. 2). Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfF) weist darauf hin, dass die langfristigen Auswirkungen potenziell traumatischer Erfahrungen von der Lebenssituation nach der Flucht abhängen (vgl. BAfF e.V. 2023, S. 69). Diese ist in Deutschland stark von postmigratorischen Stressoren geprägt, die sich negativ auf die psychische Gesundheit von geflüchteten Menschen auswirken (vgl. Nutsch/Bozorgmehr 2020, S. 1477 ff.; Brizay/Mörath/Döring 2022, S. 386). Gleichzeitig treffen die erhöhten Bedarfe geflüchteter Menschen auf erhebliche Zugangsbarrieren zum Versorgungssystem, wie beispielsweise eingeschränkte gesundheitliche Leistungen, Sprachbarrieren und Vorbehalte bei den Beteiligten (vgl. Mohammed/Karato 2022, S. 25 ff.). Der Sammelband2 widmet sich den Herausforderungen, denen geflüchtete Menschen mit psychischen Belastungen auf dem Weg ins Hilfesystem begegnen, und identifiziert mögliche Lösungsansätze. Mithilfe von Fallstudien auf Basis von Klient*innen-Akten sowie Expert*innen-Interviews decken die Beiträge Unzulänglichkeiten und Paradoxien des deutschen Asylsystems auf, welches sich im Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechtsorientierung und Abschottungspolitik bewegt.
Zum Aufbau des Buches
Die Beiträge der Einleitung sollen Lesende in die Thematik einführen und durch die Erläuterung des Kontextes die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Beiträge erhöhen. Zu diesem Zweck erfolgt im Beitrag von Verena Mörath die Vorstellung des Praxisprojektes BAYAN, das den Ausgangspunkt der Forschung und somit die Grundlage des vorliegenden Sammelbandes bildet. In den zwei thematischen Einführungen von Nikolai Zehnter und Manima Gleißner werden Ursachen von Fluchtmigration sowie die Zusammenhänge zwischen substanzbezogenen Störungen und Erfahrungen von geflüchteten Menschen näher beleuchtet. Diese Hintergrundinformationen sollen Lesenden das Verständnis der einzelnen Falldarstellungen erleichtern und das Risiko einer verzerrten Wahrnehmung auf Grundlage der Einzelfälle reduzieren. Die Falldarstellungen widmen sich dem Hilfeverlauf von Geflüchteten mit psychischen Belastungen und/oder Suchtmittelerkrankungen. Sie sind weder repräsentativ hinsichtlich der Fluchtursachen von Asylsuchenden noch hinsichtlich der psychischen Erkrankungen von Schutzsuchenden. Dennoch stehen die Einzelfälle stellvertretend für eine Gruppe besonders gefährdeter und schutzbedürftiger Geflüchteter und die dargestellten Hilfeverläufe repräsentieren die Barrieren, denen viele Menschen im Asylsystem bei der Suche nach angemessener Versorgung und auf dem Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe begegnen. Die thematischen Einführungen sollen den Lesenden helfen, die Falldarstellungen angemessen einzuordnen und der Gefahr einer zusätzlichen Stigmatisierung geflüchteter Menschen vorbeugen.
Im Anschluss an die Einleitung widmet sich Teil I der Publikation den Falldarstellungen. Dazu stellt Ulrike Brizay einführend das Forschungsdesign vor. Der Beitrag zum Forschungsdesign umfasst die Beschreibung von Fallstudien als Forschungsansatz, die Diskussion der Vor- und Nachteile dieses Ansatzes im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes sowie die detaillierte Beschreibung der methodischen Vorgehensweise. Die acht Falldarstellungen basieren auf der Analyse von Fallakten von BAYAN-Klient*innen durch die Autor*innen der einzelnen Beiträge. Diese werden jeweils in alphabetischer Reihenfolge genannt. Die Falldarstellungen geben einen exemplarischen Einblick in die Hilfeverläufe geflüchteter Menschen auf dem Weg ins psychosoziale Versorgungssystem und dokumentieren die Herausforderungen und Erfolge auf diesem Weg. Die einheitliche Gliederung der Falldarstellungen (biografische Informationen, Darstellung der individuellen Problemlagen zum Hilfebeginn, Vorerfahrungen im Hilfesystem und konkreter Hilfeprozess, Ergebnisse der Unterstützung) ermöglicht die Vergleichbarkeit und macht somit Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Einzelfällen deutlich. Diese werden im Anschluss an die Falldarstellungen in einem abschließenden Beitrag von Ulrike Brizay zusammengefasst und diskutiert.
Der letzte Teil der Publikation fokussiert unterschiedliche Facetten von Flucht und Ankommen. Die thematischen Beiträge greifen...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8553-5 / 3779985535 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8553-2 / 9783779985532 |
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