Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit (eBook)
178 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-46053-6 (ISBN)
Mathias Lindenau ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST - Ostschweizer Fachhochschule. Steve Stiehler ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST - Ostschweizer Fachhochschule.
Mathias Lindenau ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Steve Stiehler ist Professor am Departement für Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule.
Einleitung
Mathias Lindenau und Steve Stiehler
»Wird’s besser? Wird’s schlimmer?«
fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich:
Leben ist immer lebensgefährlich.
Erich Kästner1
Ungewissheit und Unsicherheit sind wohl die einzig verlässlichen Konstanten, die das menschliche Leben aufzuweisen hat. Und doch scheinen wir als moderne Menschen große Mühe zu haben, diesen Umstand zu akzeptieren. Zwar wissen wir grundsätzlich, dass das Leben stets unsicher war und auch bleiben wird. Ebenso wissen wir, dass absolute Gewissheit, außer vielleicht in der Mathematik und der Logik, eine Chimäre ist. Denn subjektiv kann Gewissheit nicht über den Punkt des persönlichen Überzeugtseins von etwas hinausreichen, und auch objektiv bleibt Gewissheit an die Auffassung von der Verfügbarkeit einer sicheren Begründung gebunden. Gleichwohl ist zu bedenken, dass wir im Alltag mit dem Adjektiv »gewiss« auf ein durch Erfahrung oder Überlegung gewonnenes Wissen verweisen wollen, das wir für gesichert halten, das uns Orientierung bietet und das wir im Fall des Irrtums durch ein anderes Wissen ersetzen können. Dieser Form von »Gewissheit« bedürfen wir, um uns im Alltag mit seinen Herausforderungen und Problemen überhaupt orientieren und in ihm handeln zu können – andernfalls befänden wir uns in einer anhaltenden Ratlosigkeit.2
Zudem haben wir uns im Laufe der Zeit an eine Machbarkeitsvorstellung gewöhnt, die keinen Zweifel an der Lösbarkeit jeder noch so gewaltigen Herausforderung kennt. Ihren Ursprung hat diese Geisteshaltung in der Frühen Neuzeit. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften begann ein »Prozeß des Infragestellens und des Versuchs, Neubegründungen und Neuanfänge zu liefern, die über jeden Zweifel erhaben sind.«3 Es setzte eine Entwicklung ein, die davon ausging, mit Hilfe des technischen Know-hows und rationaler Überlegungen nicht nur alles ergründen, sondern auch der Unverfügbarkeit entziehen zu können – und somit handhabbar und kontrollierbar zu machen. Darin spiegelt sich unser Wunsch, von vornherein die mögliche »Zukunft zur Anpassung [zu] zwingen«,4 sie also so zu gestalten, dass potenzielle Bedrohungen so weit als möglich abgewehrt werden können. Die Dimensionen der daraus resultierenden Sicherheitserwartung reichen von der securitas im Sinne des Geschütztseins vor möglichen Gefährdungen und Schäden zur certitudo im Sinne der ohne jeden Zweifel bestehenden Zuversicht und Hoffnung.5
Im Zuge dessen war die Frage nicht, ob es uns gelingt, eine potenzielle Gefährdung in ein kalkulierbares Risiko6 zu überführen, sondern lediglich wann das der Fall sein wird. Was bislang als indisponibel und der Beeinflussung durch den menschlichen Akteur entzogen schien, wurde nun vom menschlichen Verhalten abhängig und damit beeinflussbar. Es ist diese Beeinflussungsmöglichkeit gegenüber (potenziellen) Schäden, die das Risiko von der Gefahr abgrenzen, der wir unabänderlich ausgesetzt sind.7 Sicher, auch beim Risiko bleibt die Ungewissheit über den erwarteten Ausgangs eines Handels bestehen: Etwas kann gelingen oder eben auch scheitern, eine Handlung kann einen Nutzen oder auch Schaden nach sich ziehen, und in gewisser Weise kommen wir bei der Risikoabschätzung nicht über das Stadium der Prognose hinaus.8 Dennoch steht das Risiko für unsere Überzeugung, mit Hilfe der Wissenschaften und technischen Entwicklungen vorhandene Unsicherheiten in Sicherheit transformieren und so mögliche Bedrohungslagen kontrollieren und beherrschen zu können.
Die jüngste Vergangenheit hat uns jedoch anhand der Corona-Pandemie nicht nur aufgezeigt, dass unsere Handlungsmächtigkeit nicht so absolut ist, wie wir angenommen hatten, sondern wir uns auch zunehmend mit Unsicherheiten auseinandersetzen müssen, die wir selbst produziert haben:
»Die Dynamik der Risikogesellschaft beruht weniger auf der Annahme, wonach wir heute und in Zukunft in einer Welt nie dagewesener Gefahren leben müssen, wohl aber in einer Welt, die über ihre Zukunft unter den Bedingungen hergestellter, selbstfabrizierter Unsicherheit entscheiden muß.«9
Wir müssen uns also darauf einstellen, dass bei weiterer Ignoranz und Inaktivität unsererseits selbstgenerierte Gefährdungen, wie z. B. der Klimawandel, womöglich nicht mehr zu beherrschen sind.10 Dadurch geraten wir in die paradoxe Situation, dass unser Bestreben, möglichst alles zu beherrschen, nun zum Kontrollverlust führen könnte. Das wiederum bereitet uns Unbehagen und führt zur »Sehnsucht nach Normalität«, die zur Folge hat, dass wir uns lieber in »wohltemperierter Entrüstung« mit korrigierbaren moralischen »Allerweltsskandälchen« befassen als uns mit den bedrohlichen Krisenphänomenen ernsthaft auseinanderzusetzen.11
Unser Drang, mögliche Gefährdungen einzuhegen ist nicht weiter überraschend, drückt sich hierin doch eine anthropologische Grundkonstante der Sicherheitsbedürftigkeit aus, die nicht allein ein Spezifikum der Moderne darstellt:12 »Das Verlangen nach Sicherheit ist ein universales Problem. Jedes Zeitalter hat seine Form der Unsicherheit.«13 Das gilt für das individuelle menschliche Leben, besitzt aber ebenso eine gesellschafts-politische Relevanz. Denn alle gesellschaftlichen Formationen sind permanent mit der Frage der Sicherung ihres weiteren Bestehens konfrontiert und können diese nicht ignorieren:
»Moderne Gesellschaften […] können bei Strafe der Selbstzerstörung […] weder auf eine Maximierung von Risiken noch eine Maximierung von Sicherheit setzen, sondern müssen in komplementär angelegten Strategien der Sicherung Welten der Sicherheit mit Kulturen des Risikos verbinden, damit daraus eine nachhaltige Sicherheit entsteht.«14
Deshalb versuchen Gesellschaften und Staaten mittels unterschiedlicher Sicherungsstrategien und Sicherheitsinstanzen einen Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit zu finden: Sind bis zum Mittelalter vorrangig transzendentale Sicherheitsinstanzen für die Bearbeitung von Unsicherheit und Ungewissheit zuständig, setzt ab der Neuzeit eine Säkularisierung dieser Instanzen ein. Sie werden zu durch den Menschen beeinflussbaren Ordnungsagenturen transformiert. Dafür werden Vertragstheorien entworfen, die ihre qualitative Ausprägung im Vorsorgekonzept moderner Staaten und Gesellschaften finden. Wesentlich dabei ist die Versicherung, die zum entscheidenden Instrument der Sicherheitsgenerierung wird. »Sie mindert die Folgen des Schicksals, die Wagnisse des Handelns, die Lasten des eigenen Unvermögens.«15 Es ist das Versicherungsprinzip, dass uns Menschen eigentlich erst in die Lage versetzt, aus einer abgesicherten Position heraus erhöhte Risiken eingehen zu können – und stellt so den entscheidenden Charakter moderner Gesellschaften dar.16
Gleichwohl ist eine derartige Absicherung nicht über jeden Zweifel erhaben. Wenn alles ungewiss sein oder werden kann – und das heißt: mangelnde Kenntnis über die zukünftige Entwicklung zu besitzen – erwächst daraus eine besondere Herausforderung, wenn wir Entscheidungen treffen müssen. Denn Entscheidungen müssen auch dann gefällt werden, wenn nicht alle relevanten Informationen bekannt sind; wir können uns also nicht entscheidungsabstinent verhalten, denn jedes vermeintliche Nichtentscheiden ist eine Entscheidung. Gleichwohl möchten wir aber heute auch nichts entscheiden müssen, was wir schon morgen bereuen könnten. Hinzu kommt, dass die durch unsere Gesellschaften erzeugten Probleme und Gefährdungen nicht mehr adäquat durch die gesellschaftlichen Sicherheitsvorkehrungen aufgefangen werden können,17 was wiederum das Selbstverständnis einer Absicherung erschüttert: Das Bewusstsein der Versicherung eines, wenn auch nicht sorgenfreien, so doch mehrheitlich abgesicherten Lebens, ist dem Gefühl der Verunsicherung und der Entsicherung gewichen. Eine um sich greifende Ungewissheit und Unsicherheit wird spürbar, wenn der Eindruck entsteht, das alles versagt, alles fragwürdig wird und nicht zu erkennen ist, was sich bewährt – und wir uns fragen, »was es für eine Welt sein könne, an deren Anfang wir stehen«.18 Aber auch Sicherheiten können einen hohen Preis besitzen, und zwar...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Co-Autor | Sabin Bieri, Barbara Getto, Jost Halfmann, Rafaela Hillerbrand, Mathias Lindenau, Volker Reinhardt, Donata Romizi, Steve Stiehler, Grit Straßenberger, Markus Zimmermann |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
Schlagworte | Christliche Sozialethik • Ethik • Geschichtswissenschaft • Ideengeschichte • Kontingenz • Kulturwissenschaft • Philosophie • Politische Theorie • Resilienz • Soziologie • Technikphilosophie • Ungewissheit • Unsicherheit |
ISBN-10 | 3-593-46053-X / 359346053X |
ISBN-13 | 978-3-593-46053-6 / 9783593460536 |
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Größe: 3,9 MB
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