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Charakter, Person und Subjektivität -  Jürgen Ritsert

Charakter, Person und Subjektivität (eBook)

Zur Philosophie der Subjektivität
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
125 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8511-2 (ISBN)
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Begriffe wie Sozialcharakter und Subjekt finden in verschiedenen Humanwissenschaften Verwendung. Welche philosophischen Hintergrundannahmen bestimmen diese und damit verbundene Grundbegriffe? Inhaltlich werden sie zudem von Menschenbildern beeinflusst, die wiederum mit der uralten Streitfrage zusammenhängen, ob der Mensch über einen freien Willen verfügt oder nicht. All diese Problemstellungen lassen sich an Modellen wie dem homo sociologicus oder dem homo oeconomicus ablesen. Ein kurzer Abriss ausgewählter Sozialcharaktere, die im Verlauf der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft registriert wurden, schließt das Buch ab.

Jürgen Ritsert, Dr. rer. pol., Jg. 1935, ist emeritierter Professor im FB Gesellschaftswissenschaften der J.W.-Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Gesellschaftstheorie und Logik der Sozialwissenschaften.

Kapitel 2


Empirischer Charakter und Selbstbestimmung

Die Bestimmung des Menschen

J. G. Fichte (1762–1814) bezeichnet seine Philosophie als „Wissenschaftslehre.“ Diese wird entscheidend von Kants Schriften beeinflusst. Mitunter ist zu lesen, er habe gleichsam die Brücke zwischen Kant und Hegel geschlagen. Der Einfluss von Kant macht sich auch in Fichtes Schriften zur philosophischen Anthropologie, Ethik und Rechtslehre bemerkbar. Bei Kant heißt es in seinem Buch über „Anthropologie in praktischer Absicht“, „eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“70 Genau wie bei seiner Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter werden die Einwirkungen der inneren und äußeren Natur auf die Verfassung die Person von der Fähigkeit des Subjekts unterschieden, sich selbst aus freiem Willen (innerhalb der Schranken seiner Psyche und/oder der äußeren Umstände) zu einem spezifischen Vorgehen zu bestimmen. Derartige Gegenüberstellungen erwecken den Eindruck, die tatsächlichen Verhältnisse seien im Rahmen einer Logik der Dichotomien oder strikten Disjunktionen darzustellen. Dichotomisierungen bedeuten von ihrem altgriechischen Hause aus eine Wegegabelung, Halbierung oder Spaltung. Die Wege gabeln sich, ohne dass es einen Mittelweg gäbe. Wege können sich jedoch gabeln, ohne dass sie zwangsläufig in einander entgegengesetzte Richtungen führen müssten. Doch oftmals wird eine Dichotomie alltagssprachlich zu einer strikten Disjunktion zugespitzt. Dann besteht ein strikter Gegensatz zwischen zwei Momenten. Das heißt: Es existiert keine Schnittmenge zwischen ihnen (tertium non datur).71 Sein oder Nicht-Sein, das ist die Frage! Wenn (mindestens) zwei Gesetzesaussagen oder Gesetzeshypothesen in einem derartigen Ausschlussverhältnis zueinander stehen, dann handelt es sich um Thesis und Antithesis einer Antinomie. Fichtes philosophisch-anthropologischer Schrift über „Die Bestimmung des Menschen“ lässt den Einfluss der Freiheitsantinomie aus der „Kritik der reinen Vernunft“ (s. u.) deutlich erkennen. Das „zweite Buch“ des Textes über die „Bestimmung des Menschen“ wurde von Fichte in der Form eines sokratischen Dialogs abgefasst. Dieser spielt sich zwischen einem wohlwollenden Geist und dem Ich des Erzählers ab.

Im „ersten Buch“ wird erst einmal Zweifel an der Selbständigkeit des Subjekts und seiner Urteilsfähigkeit über Sachverhalte gesät. Die philosophisch-anthropologische Ausgangsfrage lautet: „Aber, – was bin ich selbst, und was ist meine Bestimmung?“72 Was kann ich von mir und der Außenwelt mit welchem Grad der Gewissheit wissen? Richte ich meinen Blick auf die Dingwelt draußen, dann gewinne ich den Eindruck: „Alles, was da ist, ist durchgängig bestimmt; es ist, was es ist, und schlechthin nichts anderes.“73 Das gilt auch für mich selbst. Denn alles ist durchgängig bestimmt und weist daher einen bestimmten Grund für sein Erscheinen auf. Angesichts dieses Tatbestandes bleibt mir nichts anderes als die Schlussfolgerung übrig: „Ich selbst, mit allem, was ich mein nenne, bin ein Glied in dieser Kette der strengen Naturnotwendigkeit … Ich bin ein bestimmtes Wesen, das zu irgendeiner Zeit entstanden ist. Ich bin nicht durch mich selbst entstanden.“74 Damit ergibt sich eine (dem ersten Satz der Thesis der Kantischen Freiheitsantinomie entsprechende) deterministische Konsequenz: „Alles, was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin notwendig, und es ist unmöglich, dass ich etwas anderes sei.“75 Zwar bilde ich mir oftmals ein, der Lebensführung eines „freien Wesens“ mächtig zu sein. Aber das ist eine Illusion. Auf eine solche spielen heutzutage eine Reihe von Autorinnen und Autoren in den Sozialwissenschaften dann an, wenn sie behaupten, die Gesellschaft herrsche den Individuen das Missverständnis auf, über einen freien Willen zu verfügen. In Wahrheit, worüber offensichtlich allein diejenigen verfügen, welche diesen Befund verkünden und sich selbst dabei von der Illusion ausnehmen müssen, kommt der Schein deswegen ins Spiel, damit die Personen umso engagierter als Charaktermasken im gesellschaftlichen Getriebe funktionieren. In einer mittleren Phase der Entwicklung seines Werkes schreibt beispielsweise M. Foucault, das moderne Denken sei sich darüber im Klaren, dass es unmöglich ist, „weiterhin die Geschichte und die Gesellschaft vom Subjekt und vom menschlichen Bewusstsein aus zu denken.“ Denn „die Reduktion des Menschen auf die ihn umgebenden Strukturen scheint mir charakteristisch für das gegenwärtige Denken und somit ist die Zweideutigkeit des Menschen als Subjekt und Objekt jetzt keine fruchtbare Hypothese, keine fruchtbares Forschungsthema mehr.“76 Wir alle zappeln gleichsam wie Marionetten an den strukturellen Regeln „des“ Diskurses. Derartige Thesen finden auch die Zustimmung von N. Luhmann: „Eine kritische Theorie der Gesellschaft, die sich die Anspruchsstellung des Subjekts zu eigen macht, operiert vielleicht nur unter den Zwängen einer Problem- und Denkgeschichte, deren Optionen ihr nicht mehr gegenwärtig, nicht mehr verfügbar sind.“77 Bei Fichte führt der Weg eines derartigen Zweifels letztendlich zur Auffassung, sämtliche seiner selbst bewussten Lebensäußerungen des Individuums stellten den Effekt von Einwirkungen dar: „Im unmittelbaren Selbstbewusstsein erscheine ich mir als frei; durch Nachdenken über die ganze Natur finde ich, dass Freiheit schlechterdings unmöglich ist; das erstere muss dem letztern untergeordnet werden, denn es ist selbst durch das letztere sogar zu erklären.“78

Diese Annahme steht dem also hart entgegen, was jedes menschliche Individuum für sich auf je bestimmte Weise in Anspruch nimmt. „Ich selbst, dasjenige, dessen ich mir als meiner selbst, als meiner Person bewusst bin, und welches in jenem Lehrgebäude (des Determinismus – J. R.) als bloße Äußerung eines Höhern erscheint, – ich selbst will selbständig sein, – nicht an einem andern, und durch ein anderes, sondern für mich selbst Etwas sein; und will, als solches, selbst der letzte Grund meiner Bestimmung sein.“79 Die Standpunkte prallen offensichtlich hart aufeinander. Das Resultat ist ein „unerträglicher Zustand der Ungewissheit, und der Unentschlossenheit!“80 Was ist nun die Bestimmung des Menschen? Im zweiten Buch von Fichtes Nachdenken über dieses Problem erscheint ein merkwürdiger Geist, der dem „Ich“ mit den Mitteln der sokratischen Argumentation einen Weg aus Zweifel und Verzweiflung weisen will, indem er dabei hilft, die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens und Wollens auszuloten.

Die Untersuchung des Wissens führt dabei zu einem Ergebnis, das Fichtes üblicher Einordnung in die Rubrik des „absoluten Idealismus“ widerspricht: „Es ist überall nichts außer meiner Vorstellung – ist ein lächerlicher, törichter Gedanke, den kein Mensch in vollem Ernste äußern könnte, und der keine Widerlegung bedürfe.“81 Am Ende dann, im dritten Buch mit der Überschrift „Glaube“ führen alle Wege zur Selbstbestimmung als dem Wesenskern des Menschen zurück. Für Fichte gilt letztendlich: „Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Tun ist Deine Bestimmung; so ertönt es laut im Innersten meiner Seele, sobald ich nur einen Augenblick mich sammle und auf mich selbst merke … zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert.“82 Folgt ein Individuum der Aufforderung, sich selbst und an sonst nichts anderes zu denken, dann wird es zu einer Handlung aufgefordert, die es aus sich heraus, selbständig vollziehen oder unterlassen kann. „Wenn ich (auf diese Weise bewusst und selbstbestimmt – J. R.) handeln werde, so werde ich ohne Zweifel wissen, dass ich handle und wie ich handle; aber dieses Wissen wird nicht das Handeln selbst sein, sondern...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8511-X / 377998511X
ISBN-13 978-3-7799-8511-2 / 9783779985112
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