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Transnationale Professionalität -  Bettina Diwersy

Transnationale Professionalität (eBook)

Einblicke in die professionelle Praxis transnationaler Erziehungshilfen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
447 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8435-1 (ISBN)
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Transnationalität ist fester Bestandteil der Praxis Sozialer Arbeit. Dennoch bildet die transnationale Dimension professionellen Handelns innerhalb des Professionsdiskurses einen blinden Fleck. Die Studie nimmt das Handlungsfeld der Erziehungshilfen als ein in besonderer Weise durch nationalstaatliche Vorgaben reguliertes Handlungsfeld in den Blick und fragt danach, was transnationale Professionalität ausmacht. Die Rekonstruktion legt dabei typische Spannungen und Kernprobleme sowie die Logik ihrer Bearbeitungsmöglichkeiten offen und liefert damit wichtige Hinweise auf strukturelle Lösungen.

Bettina Diwersy ist Sozialpädagogin und ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier, Fachbereich I, Sozialpädagogik 1. Ihre Interessensschwerpunkte sind: Professionalität, Transnationalität, Kinderschutz und Care.

Einleitung


In der vorliegenden Arbeit untersuche ich, was transnationale Professionalität im Handlungsfeld der Erziehungshilfen ausmacht. Die Frage nach den Besonderheiten und Spezifika professionellen Handelns in transnationalen Bezügen, hier den Hilfen zur Erziehung, erscheint aus mehreren Gründen interessant und auch wichtig. Im Zuge wachsender Mobilität, die immer häufiger Nationalgrenzen überschreitet, agieren Fachkräfte Sozialer Arbeit heute kaum noch in Situationen, die nicht in der ein oder anderen Weise von globalen Verstrickungen, internationalen Konstellationen und transnationalen Bezügen mitbestimmt werden. Während es in wirtschaftlichen und politischen Kontexten heute zum ‚guten Ton‘ gehört, sich grenzüberschreitend zu vernetzen, Handlungskontexte in einer globalisierten Welt grenzüberschreitend zu denken und neben der ‚staatlichen Bühne‘ auch auf dem ‚internationalen Parkett‘ zu agieren – man denke an die unzähligen internationalen Konferenzen und Abkommen auf politischer Ebene, aber auch an die zahlreichen international agierenden Konzerne – überrascht es, dass dies in sozialen Kontexten nicht in vergleichbarer Weise geschieht. Im Handlungsfeld der Erziehungshilfen als einem der Kernbereiche der deutschen Kinder- und Jugendhilfe (Moch 2018) etwa sind Grenzüberschreitungen per se sozialpolitisch nicht intendiert und daher rechtlich nicht klar umrissen (mit Ausnahme der intensivpädagogischen Maßnahmen im Ausland gemäß § 35 SGB VIII), dennoch wird die Praxis der Erziehungshilfen von zahlreichen transnationalen Prozessen und Entwicklungen mitbestimmt.

Eine transnationale Perspektive richtet ihren Blick dabei auf jene grenzüberschreitenden Prozesse und Verflechtungen, die (inter-)aktiv von Akteur*innen quer zu nationalen Grenzen hergestellt werden. Unter dem Begriff „Transnationalität“ werden unterschiedliche Ansätze zusammengefasst, deren gemeinsamer Bezugspunkt die Annahme ist, dass sich die Bedeutung nationaler Grenzen nicht nur ‚von oben‘ verändert, sondern dass es auch multiple Verbindungen ‚von unten‘ gibt, die nicht nationalstaatlich intendiert bzw. organisiert sind. Gemeint sind hiermit jene grenzüberschreitenden Verflechtungen und Praktiken von individuellen und kollektiven Akteur*innen in sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexten, durch die sich multiple transnationale Verflechtungen quer zu nationalstaatlichen Kontexten aufspannen. Zunächst wurde Transnationalität im Sinne einer spezifischen Form von Migration als ‚Transmigration‘ vor allem auf Migrant*innen und deren Lebensweisen bezogen. Seit den 2000er Jahren beginnt sich daneben eine erweiterte Blickrichtung zu etablieren, die sich für sämtliche Praktiken interessiert, durch die geographisch getrennte soziale Räume zu transnationalen sozialen Räumen (Pries 1996; Faist 2000) bzw. Feldern (Levitt & Glick Schiller 2004) verbunden werden. Diese transnationalen Praktiken unterscheiden sich durch ihre Intensität, Stabilität und Dauer (Itzigsohn et al. 1999; Levitt 2001, 2003; Pries 2010; Faist & Başak 2020), sodass unterschiedliche akteur*innenbezogene grenzüberschreitende Vernetzungen und Austauschprozesse in den Blick geraten, wobei es sich auch um immaterielle Grenzüberschreitungen handeln kann (Levitt 2009). Im Zuge der Transnational Studies (Khagram & Levitt 2008) wurde die transnationale Perspektive seither auf viele weitere soziologische Fragestellungen übertragen und erweist sich damit ebenso anschlussfähig für professionstheoretische Überlegungen.

Ähnlich wie im soziologischen Diskurs bilden sich auch innerhalb Sozialer Arbeit zunehmend Positionen ab, die Transnationalität nicht mehr einzig auf das Forschungs- und Handlungsfeld Migration beziehen, sondern auf einem offeneren, weiter gefassten Verständnis von Transnationalität beruhen (Levitt & Glick Schiller 2004; Levitt 2009; Graßhoff, Homfeldt & Schröer 2016). Damit ergeben sich zwei zentrale Blickrichtungen: Zum einen rücken die alltagsweltlichen Lebensvollzüge der Adressat*innen in den Fokus. Schröer und Schweppe (2018b) gehen in Anlehnung an Mau grundsätzlich von „transnationalen Alltagswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien“ (ebd., S. 1696) sowie dem Erfordernis einer konzeptuellen Erweiterung entsprechender Strukturen und Angebote sozialstaatlich regulierter sozialer Dienste aus. Hier geht es insbesondere um jene physischen und immateriellen transnationalen Bezüge, die sich auf Seiten der Adressat*innen innerhalb des nationalen Wirkungskreises der Erziehungshilfen ergeben können, etwa weil diese über eigene Migrationserfahrung verfügen oder weil – wie Mau (2007, S. 174) herausgestellt hat – deren Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonte zunehmend ‚transnational durchdrungen‘ sind. Das Aufgreifen von Transnationalität in Bezug auf inländisches sozialpädagogisches Handeln und die Konzeptionierung sozialer Dienstleistungen bilden aber nur einen Teil des ‚Transnationalen‘ innerhalb der Hilfen zur Erziehung ab.

Zum anderen können sich Hilfeverläufe in den Erziehungshilfen und damit die berufliche Praxis von Fachkräften über nationale Grenzen ausdehnen. In diesen Situationen stellen sich viele grundlegende Fragen, etwa in Bezug auf Zuständigkeiten, Vorgehensweisen oder die Verantwortung für das Kindeswohl, insbesondere wenn mehr als ein nationales System der Kinder- und Jugendhilfe involviert ist. Diese zweite Möglichkeit, wie sich Transnationalität im Handlungsfeld der Erziehungshilfen entfalten kann, erfährt bislang kaum Aufmerksamkeit. Die wenigen Publikationen, die hierzu vorliegen, richten ihr Augenmerk insbesondere auf rechtliche Fragen, institutionelle Inkongruenzen verschiedener nationaler Hilfesysteme sowie Fallstricke und Übersetzungsprobleme im Hinblick auf sozialstaatlich etablierte Standards und Vorgehensweisen (Sievers & Bienentreu 2006). Erste empirische Einblicke in die Ausgestaltung grenzüberschreitender Hilfeverläufe im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verweisen auf hohe fachliche Anforderungen an Fachkräfte, da es überwiegend noch an grenzüberschreitenden Verfahrensstandards, Kooperationsstrukturen und Regulierungen fehlt (Henallux 2021). Die berufliche Praxis ist dementsprechend geprägt von einer hohen Verantwortung einzelner Fachkräfte für die Sicherstellung des Kindeswohls einerseits und erheblicher Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit von Fallverläufen aufgrund unterschiedlicher transnationaler Dynamiken und fehlender Planungsmöglichkeiten andererseits (Schulze-Krüdener & Diwersy 2021). Gleichzeitig zeigt sich, dass dort, wo bereits erfolgreich dauerhafte, Nationalgrenzen überschreitende Kooperationsstrukturen geschaffen wurden, die transnationale Organisation von Erziehungshilfen neue Perspektiven und individuelle Ausgestaltungsmöglichkeiten der Hilfe eröffnet (Wendelin 2013).

Während es in diesem Handlungsbereich – abgesehen von einigen grundlegenden rechtlichen Vorgaben (Brüssel IIa/b-VO, KSÜ) – an grenzüberschreitenden Regulierungen fehlt, ist das Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung umgekehrt wie kaum ein anderer Zuständigkeitsbereich Sozialer Arbeit durch nationale sozialrechtliche Vorgaben reglementiert und in besonderer Weise mit dem Nationalstaat verbunden (Köngeter 2009a). Damit sind zentrale Referenzpunkte für Fachkräfte und deren Handeln ‚nationalstaatlich konnotiert‘. An die konkrete Ausgestaltung der transnationalen beruflichen Praxis professioneller Akteur*innen in den Erziehungshilfen stellen sich damit hohe Anforderungen. Nicht nur, dass regelmäßig Fragen der Kontrollierbarkeit solcher überstaatlichen Regulierungen auftreten, vielmehr lassen sie auch Interpretationsspielräume offen, da sie keine einzelfallbezogenen praktischen Fragen beantworten. Wie wird beispielsweise die Hilfeplanung organisiert, wenn es dieses rechtliche Konstrukt im Kooperationsstaat nicht gibt? Wie kann Elternarbeit über große Distanzen hinweg durchgeführt werden? Wie kann mit Phänomenen der Entfremdung und Entwurzelung bei grenzüberschreitenden Unterbringungen umgegangen werden? Und wie kann ein gelingender Abschluss der Hilfe mit Rückkehroption für das Kind bzw. die*den Jugendliche*n sichergestellt werden? Ist dies überhaupt möglich? Der Zugewinn einer transnationalen Perspektive in Bezug auf Professionalität liegt demnach vor allem darin, dass gerade jene grenzüberschreitenden Prozesse, die nicht nationalstaatlich intendiert sind, aber dennoch fester Bestandteil der Praxis Sozialer Arbeit sind, in den Blick genommen werden können.

Die...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8435-0 / 3779984350
ISBN-13 978-3-7799-8435-1 / 9783779984351
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