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Digitalisierung im Krankenhaus -  Maike Janssen

Digitalisierung im Krankenhaus (eBook)

Eine wissenssoziologische Studie über die Prozess- und Strukturlogiken einer Plattformentwicklung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
377 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8480-1 (ISBN)
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Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und seiner wichtigsten Subinstitution, dem Krankenhaus, steht im Zentrum fachlicher, politischer und alltagspraktischer Debatten. Maike Janssen entfaltet einen analytischen Zusammenhang zwischen diesen Diskursen und den Prozess- und Strukturlogiken, die in Situationen der Digitalisierung zusammenwirken. Im Mittelpunkt stehen jene Bedeutungen, die Akteure digitalen Artefakten zuschreiben und sie entsprechend gestalten. Janssens empirisch fundierte »Krankenhaussoziologie des Digitalen« erlaubt einen auflösungsstarken Zugriff auf das Zusammenspiel von Sinn, Artefakt und Organisation.

Maike Janssen ist beratend und forschend als Expertin für Organisationsentwicklung an der Charité - Universitätsmedizin Berlin tätig. Ihre interdisziplinäre Forschung bewegt sich an der Schnittstelle von Wissens-, Medien- und Techniksoziologie und dem deutschen Gesundheitswesen.

1Einleitung


„Aber ich bin mir sicher, dass die Einführung kommen wird. Das Projekt ist hier sehr angesehen und es ist keine Option, dass AMELWEB nicht kommt“, äußert sich eine Oberärztin in einem großen deutschen Universitätsklinikum im Jahr 2018 zu einem laufenden Digitalisierungsvorhaben für ihre Ambulanz (8A).1 Was meint sie damit, wenn sie so nachdrücklich betont, das Projekt werde „kommen“? Und was verspricht sie sich davon? „Vermutlich müssen wir uns hier alle irgendwie darauf einstellen, dass wir mehr Wissen über die Patienten verfügbar haben und dass alles digital läuft. Aber ich weiß es noch nicht. Das müssen wir alle rausfinden, wenn das Projekt da ist“ (ebd.), lautet ihre eigene Antwort. Die im Projekt entwickelte digitale Technologie stelle Mediziner*innen und Pflegekräften demnach mehr Wissen über Patient*innen zur Verfügung und digitalisiere einige nicht näher bestimmte Prozesse der Ambulanz. Den Fluchtpunkt ihres Arguments bildet damit die Vermittlungsleistung von Wissen und Bedeutung, die vermeintlich in dem Technologieprojekt erfolgt. Auf dieser Basis bewertet die Ärztin die Einführung der neuen Technologie als unaufhaltsam – da das Projekt von vielen relevanten Akteuren als bedeutsam bewertet werde – und das Veränderungspotenzial für die lokalen Abläufe als plausibel groß – da sich „alle irgendwie darauf einstellen“ müssten, mit mehr Wissen über Patient*innen umzugehen.

Diese Sinnzuschreibungen an ein Digitalisierungsvorhaben für das Krankenhaus im empirischen Feld verweisen auf den möglichen Erkenntnisgewinn eines wissenssoziologischen Zugangs zum Phänomenbereich, den ich im Folgenden begründen und ausführen möchte.

Zu diesem Zweck scheint es zunächst hilfreich, die größere Situation der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens zu skizzieren und mit wissenssoziologischen Konzepten zu problematisieren (1). Enggeführt auf die Ausgangsfragen und Ziele einer nachfolgenden Untersuchung (2), wird die so gewonnene Perspektive in einen größeren sozialwissenschaftlichen Kontext gestellt, um hieraus erkenntnisstimulierende Anknüpfungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten zu gewinnen (3). Aus dieser Verankerung der Forschungsfragen im empirischen und im wissenschaftlichen Feld ergibt sich die Beschäftigung mit einem spezifischen Fall der Plattformentwicklung, der an dieser Stelle kurz begründet und eingeführt wird (4). Ausgestattet mit dem ersten konzeptionellen Rüstzeug und mit einer konkreten empirischen Situation vor Augen, kann daraufhin das konkrete eigene Vorgehen dargestellt (5) und eine analytic journey (Corbin, 2009) im Folgenden angetreten werden.

(1) Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens – eine empirische Skizze

Folgt man den fachpolitischen und medienöffentlichen Diskursen der vergangenen Jahre, mangelt es der organisierten Krankenbehandlung in Deutschland vor allem an einem: effizienteren, ergo digitalisierten Prozessen und Versorgungsangeboten. Analog geführte Patientenakten, die an unterschiedlichen Orten vorgehalten und nicht miteinander vernetzt werden können, stehen dabei paradigmatisch für eine Infrastruktur, die den aktuellen Herausforderungen des Gesundheitswesens nicht mehr gewachsen scheint. Ein weiterhin rasant anwachsendes medizinisches Wissen, das sich auch der potenzierten Rechenleistung der eingesetzten Forschungscomputer verdankt, trifft im Alltag der medizinischen Versorgung auf „Datensilos“, die an unterschiedlichen Orten mit uneinheitlich strukturierten Daten befüllt werden.2 Dieser Zustand wird von Praktiker*innen, Förderer*innen, Beobachter*innen und Nutzer*innen des Gesundheitswesens aus wirtschaftlichen, medizinischen, ethischen und politischen Gründen als kaum mehr hinnehmbar bewertet und diskutiert.

Diese Empörung lässt sich als Verweis auf ein weit verbreitetes Wissen um die Bedeutung des medizinischen Wissens interpretieren, dessen Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit für die organisierte Krankenbehandlung einen großen Unterschied zu machen scheint. Stehen an jedem Ort der Behandlung je andere Patienten- und Behandlungsdaten zur Verfügung, können Nachteile für die Versorgungsqualität und ihre Wirtschaftlichkeit entstehen, meinen Mediziner*innen und Gesundheitsökonom*innen. Bliebe der Vernetzungs- und Standardisierungsgrad von Patientendaten so gering wie bisher, könnten zudem die komplexen Zusammenhänge von Krankheit und therapeutischer Wirkung nicht ausreichend in der medizinischen Forschung untersucht und berücksichtigt werden. Auch ließen sich die analytischen Möglichkeiten, die sich etwa aus dem Einsatz von künstlich intelligenten Deep-Learning-Systemen ergeben, auf diese Weise nicht ausschöpfen.3 Für den identifizierten Missstand werden insbesondere datenschutzrechtliche Hürden und die vermeintlich innovationsfeindliche Struktur des deutschen Gesundheitswesens und seiner Selbstverwaltung verantwortlich gemacht, wofür die – langjährig verzögerte – Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) als prominentestes Beispiel steht.4

In der Legislaturperiode von 2017 bis 2021 schienen zahlreiche Gesetzgebungsinitiativen und regulatorische Anpassungen auf diese strukturelle Malaise zu reagieren, indem sie die Rahmenbedingungen für telemedizinische Behandlungen und den Einsatz medizinischer Smartphone-Anwendungen deutlich erleichterten. So beschloss die Bundesärztekammer im Mai 2018, die (Muster-)Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) dahingehend zu ändern, dass eine technisch vermittelte „Fernbehandlung“ unter bestimmten Voraussetzungen zulässig wurde.5 Auch initiierte das Bundeministerium für Gesundheit (BMG) unter dem Dach der „E-Health-Initiative“ zwischen August 2019 und April 2020 zahlreiche Gesetzesvorhaben, die neben der Einführung der ePA auch das „E-Rezept“ und die „App auf Rezept“ ermöglichen sollten.6 Weitergeführt wurden diese Bestrebungen in der Legislatur ab 2021 durch das „Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ (DigiG) und das „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ (GDNG). Diese zielen u. a. darauf, die ePA ab dem Jahr 2025 als widerspruchsbasiertes Angebot für alle gesetzlich Versicherten bereitzustellen, die Interoperabilität der medizinischen Digitalangebote zu verbessern und die Nutzbarkeit medizinischer Daten für gemeinwohlorientierte Zwecke zu erleichtern. Auch das Telemonitoring mithilfe von „Digitalen Gesundheitsanwendungen“ (DiGA) wird durch das DigiG juristisch ermöglicht.

Gefasst als Telemedizin manifestiert sich die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens somit aktuell insbesondere auf drei Weisen (vgl. Vercamer, 2022): Erstens in Form der ePA, die theoretisch bereits flächendeckend eingesetzt werden kann7, zweitens in Form von DiGA, die seit Oktober 2021 per Rezept verordnet und von den Krankenkassen erstattet werden dürfen, und drittens in Form von Online-Sprechstunden, die insbesondere seit Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 verstärkt nachgefragt und angeboten werden.

Bei der Vernetzung und Nutzbarmachung medizinischer Daten für Forschungs- und Versorgungszwecke lassen sich bei allen Bemühungen weiterhin vielerlei Umsetzungsschwierigkeiten beobachten. Ohne an dieser Stelle die prozessualen und strukturellen Gründe dafür ausleuchten zu wollen, sei auf einen spezifischen Effekt dieser Entwicklung hingewiesen: Die engmaschige Erhebung und Auswertung von Patientendaten findet bislang vor allem auf individueller Ebene und außerhalb des organisierten Gesundheitssystems statt. Seit der Markteinführung der Apple Watch im Jahr 2014, von diesem Zeitpunkt an das meistverkaufte Produkt im Segment der Smartwatches, praktiziert eine wachsende Nutzenden- und Patientengruppe eine technisch bedingte Überwachung der eigenen Körperdaten.8 Mittels solcher Wearables und Gesundheitsanwendungen für das Smartphone (mHealth-Apps) können Nutzer*innen heute detaillierte Daten zu Körpertemperatur, Blutdruck oder Sauerstoffsättigung erheben, auswerten lassen und untereinander austauschen.9

Diese Daten sind durchaus auch für die Medizin von Interesse, doch werden sie in der Regel allein auf kommerziell betriebenen Servern gespeichert. Klinische Datenbanken und anwendergenerierte Gesundheitsdatensets stehen somit weitgehend unverbunden – wiederum als „Datensilos“...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8480-6 / 3779984806
ISBN-13 978-3-7799-8480-1 / 9783779984801
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