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Frauen in der Sozialpsychiatrie -  Josephina Schmidt

Frauen in der Sozialpsychiatrie (eBook)

Fallgeschichten multiperspektivisch verstehen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
419 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8048-3 (ISBN)
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Fast 50 Jahre nach der Psychiatriereform kommt es heute weiterhin zu Fallkonstellationen, in denen Menschen dauerhaft in gemeinschaftlichen Wohnformen leben, ohne dass ihnen Transformationspotenziale zugesprochen werden. Die Relevanz von Geschlechterverhältnissen wird in diesem Kontext bisher unzureichend erforscht. Im Buch wird dieses klassische Thema der Sozialpsychiatrie aufgenommen und mit feministischen Diskursen und sozialarbeiterischen Professionsansätzen aktualisiert. Dabei stehen die feinanalytisch rekonstruierten Interviews mit Bewohnerinnen und ihren Bezugsmitarbeiterinnen im Zentrum.

Josephina Schmidt, Dr.in, arbeitet als Mitarbeiterin für Grundsatzfragen und Qualität der Sozialen Arbeit beim Sozialamt Stuttgart und hat an der Eberhard Karls Universität Tübingen im Fachbereich Erziehungswissenschaften/Sozialpädagogik promoviert.

1.Analyseperspektiven auf und von Frauen in der Psychiatrie


„Aber es ist wohl unmöglich, irgendein menschliches Problem ohne Voreingenommenheit zu behandeln: schon die Art der Fragestellung, der Blickwinkel, den man einnimmt, setzt eine Interessenhierarchie voraus: jede Position schließt Werte ein; es gibt keine «objektive» Beschreibung, die nicht einen ethischen Hintergrund hatte. Statt die Prinzipien, von denen man mehr oder weniger stillschweigend ausgeht, zu verschleiern, sollte man sie lieber vorher nennen.“ (Beauvoir 1949_2014: 24–25)

Entsprechend Simone de Beauvoirs Appell werden in diesem Kapitel das inhaltliche Vorwissen (im Sinne des Forschungsstands) sowie die heuristischen Folien zum Forschungsthema »Soziale Arbeit mit Frauen in der Sozialpsychiatrie« ausführlich dargestellt, um aus der für diese Forschung zusammengeführten interdisziplinären Perspektive eine Forschungsfrage zu formulieren. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass es keinen objektiven oder vollständigen Blick auf ein Forschungsthema gibt, expliziere ich meinen Ansatz, der den Forschungsgegenstand möglichst differenziert betrachtet, und leite ihn aus drei dem Thema immanenten Diskursbereichen14 her: Sozialpsychiatrie, Feminismen und Soziale Arbeit. Die Explikationen sind dabei nicht als Hypothesen über den Forschungsgegenstand zu verstehen, sondern eröffnen Denkräume und Dimensionen, da qualitative Forschung trotz der notwendigen Offenheit für die empirischen Daten nicht voraussetzungslos sein kann (vgl. Oevermann 1981: 5).

In den sowohl sozialwissenschaftlichen als auch handlungsorientierten Diskursen der Sozialpsychiatrie, Feminismen und Sozialer Arbeit wurden in den 1960er bis 1990er Jahren interdisziplinär aus marginalisierterer Position die Reproduktion kapitalistischer und patriarchaler Herrschaftsverhältnisse in der (Sozial-)Psychiatrie (vgl. Hoffmann 1991), die Konstruktion der Relation von Wahnsinn und Vernunft (vgl. Foucault 1996) und das Leiden an gesamtgesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen (vgl. Chesler 1986) kritisiert. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit gesamtgesellschaftlichen Analysen zu Forschungsgegenständen ist meines Erachtens heute zu Gunsten einer detaillierteren Analyse von Teilaspekten in den jeweiligen Disziplinen eher in den Hintergrund geraten.

Im folgenden Kapitel gehe ich der Frage nach, welche historisch entwickelten Ansätze der drei genannten Diskursbereiche ein fundiertes Verständnis des Themas ermöglichen und wie sich aus der Kombination dieser Ansätze ein fruchtbarer erkenntnistheoretischer Blick auf den Forschungsgegenstand eröffnen lässt.

Von der Institutionalisierung der Psychiatrie im 18. Jahrhundert bis heute werden in groben Schritten gesellschaftliche Normen (Rechte und Denkfiguren), konkrete Lebenspraxen, Lebensverhältnisse, die Entwicklung der Profession Sozialer Arbeit und Organisationen der Psychiatrie in Bezug auf helfende und hilfeempfangende Frauen vor dem Hintergrund ökonomischer Entwicklungen und Verteilung von Produktionsmitteln und der damit zusammenhängenden Herrschaftsverhältnisse nachgezeichnet. Ebenso werden verschiedene empirische, theoretische und programmatische Arbeiten skizziert, die Diskurse, Erfahrungen und Praktiken der fokussierten Frauen behandeln. Diese geschichtlich-gesellschaftliche Form der Aufbereitung des bisherigen Wissens zum Forschungsthema soll dessen kulturellen und sozialen Zusammenhänge und das rekonstruktive wissenschaftliche Vorgehen der gesamten vorliegenden Arbeit verdeutlichen, welches die „Entstehung, Ausgestaltung und Potenzialität zu erkennen“ (Kraimer 2014: 100) versucht. Mit diesem Vorgehen können die im Feld der Psychiatrie immer noch vorherrschenden Ansprüche, Wissen sei objektiv und rational, irritiert werden. Gleichzeitig muss betont werden, dass die hier vorgenommene Rekonstruktion der Strukturen nicht allumfassend und vollständig sein kann. Mit einem möglichst offenen Blick, der die qualitative beziehungsweise rekonstruktive Sozialforschung ausmacht, werden dennoch Leerstellen offenbleiben und Setzungen im Sinne meiner vorgenommenen Forschungsperspektive zu erkennen sein.

Das historisierende Vorgehen ist aus der Perspektive feministischer Forschung ebenso notwendig wie schwierig, um die Abhängigkeit von Frauen als geteiltes und nicht als vereinzeltes Schicksal zu verstehen

„Sie [die Frauengeschichte, JS] ist linear und doch voller Ungleichzeitigkeiten, universell und doch von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur, von sozialer Schicht zu sozialer Schicht auch spezifiziert.“ (Becker-Schmidt 1985_2017: 114)

Auf dieser Perspektive aufbauend formuliere ich eine konkrete Forschungsfrage (vgl. Kapitel 1.4.), um anschließend die methodologischen Grundlagen zur Beantwortung dieser auszuführen (vgl. Kapitel 2).

1.1Sozialpsychiatrische Perspektiven


Die heutige Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin, politisch-normative Position und therapeutische Praxis entwickelte sich in den letzten 120 Jahren entlang der Kritik an Herrschafts- und Machtverhältnissen der klassischen Psychiatrie und erfuhr mit der Psychiatrie-Enquête 1975 einen gesellschafts- und fachpolitischen Höhepunkt (vgl. Gruber et al. 2018a: 7–20, Krumm 2019b). Dabei fokussieren sozialpsychiatrische Diskurse sozialwissenschaftliche Erklärungs- und Behandlungsansätze psychischer Erkrankungen und seelischer Behinderung (vgl. a. a. O.: 7–8, Gruber et al. 2018b: 30–35) und orientieren sich an emanzipatorischen Gesellschaftskonzepten wie Inklusion, Empowerment und De-Institutionalisierung (vgl. a. a. O.: 8–9). Seit Ende der 1990er Jahre werden eher biologistische Konzepte, wie Neuropsychiatrie, Hirnforschung und Molekulargenetik dominanter, was zum Beispiel daran deutlich wird, dass sozialpsychiatrische Lehrstühle an den Universitäten abgebaut oder auf Versorgungsforschung reduziert wurden (vgl. Brückner 2015: 28–29). Johann Pfefferer-Wolf stellt jedoch fest, dass es sich bei »Sozialpsychiatrie« nicht um eine eigenständige Praxis handele, sondern: „Vielmehr ist sie durch eine spannungsreiche Koexistenz eher sozial orientierter und eher klinisch orientierter Sichtweisen und Praxisformen […] gekennzeichnet“ (Pfefferer-Wolf 2014: 25). Er plädiert daher dafür, dass Sozialpsychiatrie einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag wahrnehme und eine Klärung und Veränderung der kulturellen Voraussetzungen vornehme, die Stigmatisierung und Ausgrenzung ermöglichen (vgl. a. a. O.: 25–27).

In diesem Kapitel skizziere ich unter Bezug auf Grundlagenliteratur und Studien, welche kritisch-normativen Positionen zum Verhältnis von Subjekt, Institution und Gesellschaft in sozialpsychiatrischen Diskursen verhandelt und wie in diesem Kontext Geschlechterfragen diskutiert werden. Dabei werden grundlegende Studien exemplarisch ausführlicher besprochen, um wesentliche Aspekte konkreter und nachvollziehbar darzustellen.

1.1.1Sozialpsychiatrische Perspektiven auf Subjekt, Institution und Gesellschaft

Seit der Institutionalisierung im Zuge der Industrialisierung ab dem 17. Jahrhundert hat die Psychiatrie eine normierende Funktion in der Gesellschaft, in dem sie wesentlich zur Grenzkonstruktion von Normalität und Abweichung (vgl. Brink 2010), Vernunft und Wahnsinn (vgl. Schlichter 2000, Quensel 2017), Gesundheit und Krankheit (vgl. Gruber et al. 2018b) sowie Innen und Außen (vgl. Goffman 1973) beiträgt. Ernst von Kardorff (2017) fasst dies treffend zusammen:

„Psychiatrie, verstanden als Praxis des gesellschaftlich organisierten Umgangs mit Menschen, die aus der Mitte der sozialen Ordnung ausgestoßen, in ihren oft beschränkten und zu engen sozialen Beziehungen häufig schwer entwirrbar verstrickt und aus...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8048-7 / 3779980487
ISBN-13 978-3-7799-8048-3 / 9783779980483
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