Geteilte Arbeitswelten. Konflikte um Migration und Arbeit (eBook)
309 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8136-7 (ISBN)
Sonderwirtschaftszonen als Motor von Geflüchtetenintegration?
Das Beispiel des Jordan Compact im Lichte einer glokal-fragmentierenden politischen Ökonomie
Stefanie Hürtgen und Maximilian Hofmann
Flüchtlingskrise, Aktivierung und Sonderwirtschaftszonen
Mitte des Jahres 2020 waren über 80 Millionen Menschen auf der Flucht, davon allein 6,6 Millionen Menschen aus Syrien (UNHCR 2020). Diese andauernde globale Migrationskrise wird in der wissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Debatte von Forderungen nach einem Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik begleitet. Als passiv deklarierte humanitäre Versorgung und Lagerunterbringung soll von einer aktivierenden Integration in den je lokalen Arbeitsmarkt sowie generell der Stärkung von „Eigenverantwortung“ abgelöst werden (Zetter/Ruaudel 2018). Politisch wird dieser Perspektivwechsel insbesondere von europäischer Seite forciert. Die lokale Arbeitsmarktintegration und Entwicklungsperspektive in den bisherigen Hauptaufnahmeländern wie Äthiopien, dem Libanon, der Türkei und Jordanien soll gefördert werden, um Migrations- und Fluchtbewegungen nach Europa einzudämmen. Sonderwirtschaftszonen (SWZ) haben dabei konzeptionell einen hohen Stellenwert (Betts/Collier 2015; 2017). Als Flüchtlings-Sonderwirtschaftszonen sollen sie zusammen mit liberalisierten Handels- und Investitionsbedingungen ein positives Investitionsklima und Arbeitsplätze schaffen (Moberg/Reil 2018).
Als beispielhafte Umsetzung dieses Paradigmenwechsels der Migrationspolitik gilt der im Jahr 2016 zwischen der EU und Jordanien vereinbarte Jordan Compact. Das Übereinkommen proklamiert, die Flüchtlingskrise in eine „Entwicklungschance“ zu verwandeln (EU 2016). Es besteht im Kern aus Bestimmungen, die die Arbeitsmarktintegration von syrischen Geflüchteten vor allem in SWZ fördern und zugleich den Warenexport aus jordanischen SWZ in die EU ankurbeln sollen. Kritiker:innen halten den Compact jedoch für ein neoliberales Top-Down-Projekt und verurteilen die anhaltend diskriminierende Arbeitsmarktpolitik Jordaniens, die es syrischen Geflüchteten kaum ermögliche, sich ein selbstbestimmtes Leben jenseits informeller Beschäftigung aufzubauen (Lenner/Turner 2019).
In unserem Beitrag knüpfen wir bewusst nicht an die Debatte zum (europäischen) Externalisierungs- und Grenzregime an (exemplarisch Hess/Kasparek 2017). Stattdessen wollen wir eine kritische wirtschafts- und arbeitsgeographische Perspektive stärken. Wir sehen die Notwendigkeit, globale politische Ökonomie und namentlich Globale Produktionsnetzwerke (GPN) als Teil der Auseinandersetzung zum Jordan Compact und, allgemeiner, die „Integration“ Geflüchteter in SWZ zu begreifen. Es ist die globale Textil- und Bekleidungsindustrie, die von einer zonalen Entwicklungsstrategie Jordaniens profitiert und die zugleich wichtiger Akteur des Jordan Compact ist.
Wir wenden uns daher den jordanischen Textil- und Bekleidungs-SWZ zu, die ihrerseits als internationaler Export-Hub der Region fungieren, und wo sich besonders schlechte Arbeitsbedingungen für eine hauptsächlich asiatische Belegschaft vorfinden lassen. In Anlehnung an die neuere Literatur zu GPN und Arbeitsregimen (Baglioni et al. 2022) analysieren wir dieses zonale Arbeitskontrollregime als ein autoritär-despotisches (Burawoy 1985; Anner 2015). Wir argumentieren dabei in dezidiert glokaler politökonomischer Perspektive und zeigen, dass das SWZ-Arbeitsregime ein zentrales Hindernis für jene propagierte Integration syrischer Geflüchteter in die SWZ darstellt.
Der Text gliedert sich wie folgt: In Kapitel 2 gehen wir auf den Zusammenhang von global strukturierter Textil- und Bekleidungsindustrie und SWZ ein und diskutieren das Konzept des Local Labour Control Regimes. In Kapitel 3 stellen wir den Jordan Compact vor, in Kapitel 4 diskutieren wir Jordaniens „zonales Entwicklungsmodell“ (Lenner/Turner 2019) sowie die deregulierende und segmentierende jordanische Arbeitsmarktpolitik. In Kapitel 5 zeigen wir, warum wir in den SWZ Jordaniens ein despotisch-autoritäres Labour Control Regime finden. In Kapitel 6 schließlich fragen wir, warum die bestehenden SWZ der globalen Textilproduktion in Widerspruch zu einer Beschäftigung syrischer Geflüchteter stehen und wir schließen in Kapitel 7 mit einer Zusammenfassung der zentralen Befunde.
Unsere Ausführungen beruhen auf einer 2019 durchgeführten Feldstudie im Rahmen der Masterarbeit von Maximilian Hofmann (2020), die aus einer von Stefanie Hürtgen geleiteten Arbeitsgruppe zu Sonderwirtschaftszonen am Fachbereich Geographie und Geologie der Universität Salzburg heraus erstellt und von ihr betreut wurde. Die von Hofmann vor Ort durchgeführten Expert:inneninterviews hatten einerseits Qualifizierungscharakter, waren aber andererseits so reichhaltig, dass wir uns zum Verfassen eines Artikels entschlossen haben. Dieser beruht entsprechend wesentlich auf theoretischen Arbeiten der Arbeitsgruppe sowie umfassender Sekundäranalyse.
Sonderwirtschaftszonen, Local Labour Control Regimes und die globale Textil- und Bekleidungsindustrie
Wir fokussieren hier auf jene Sonderwirtschaftszonen, die als makroökonomische Instrumente angelegt und auf translokale, oft direkt globale Produktionskapazitäten ausgerichtet sind. Wie unten genauer gezeigt wird, stehen diese SWZ im Zentrum des Jordan Compact.2 In der globalen bzw. besser: glokalen politischen Ökonomie gelten SWZ seit Jahrzehnten als bevorzugtes Instrument zur Generierung von „Entwicklung“ und „Wachstum“, insbesondere, aber nicht ausschließlich im Globalen Süden (vgl. Akinci/Crittle 2008; UNCTAD 2019; kritisch ausführlich: Hürtgen 2020). Mit der Krise des Fordismus und der damit verbundenen Transnationalisierung von Produktion erlebten SWZ einen bis heute anhaltenden Aufschwung. Es entstanden komplexe globale Produktionsnetzwerke (GPN), die ihre Produktionsschritte über Regionen, Länder und Kontinente hinweg aufsplitten, um auf unsicheren und kurzfristig strukturierten globalen Märkten größtmögliche Flexibilität und Kostensenkung zu erreichen. Nationale, regionale und lokale sozialpolitische Regulierungen werden als „Standortfaktoren“ in die immer neuen Restrukturierungsstrategien einkalkuliert. Kapitalkonkurrenz um Profite wandelt sich auf allen Scales zu sozialräumlicher Konkurrenz um Investitionen (Harvey 2014). Typische zonale „Anreiz“-Politiken für Investitionen sind (massive) Steuersenkungen oder Steuererlasse, niedrige Bodenpreise, umfassende administrative und infrastrukturelle Unterstützung der Investoren und nicht zuletzt besonders flexible und für Investoren günstige Arbeitsbedingungen. SWZ als Institutionen zeigen idealtypisch, dass Globalisierung de facto Glokalisierung ist. Das downscaling, d. h. die Deregulierung von sozialpolitischen (und auch ökologischen) Standards und die Fragmentierung von Arbeit ist Bestandteil und Form eines upscaling, d. h. sozialräumlichen Verallgemeinerungen kapitalistischer Verwertungslogik über Regionen, Nationalstaaten und Kontinente hinweg (Swyngedouw 1997; Hürtgen 2022). Der Begriff der Glokalisierung befindet sich hier in großer Nähe zu dem der Vervielfältigung von Grenzen als einer Vervielfältigung der sozialen und politischen Konstitution von Arbeit (Mezzadra/Neilson 2013). In beiden Begriffen wird die dynamische Fragmentierung von Arbeit (d. h. ihre immer auch politisch gegeneinander abgegrenzte, ungleiche sozialpolitische Konstitution) nicht nur zwischen Nationalstaaten und Kontinenten, sondern auch „quer durch sie hindurch“ als zentrales Merkmal gegenwärtiger „Globalisierung“ angesehen (Hürtgen 2015).
Nicht von ungefähr fokussiert die seit Jahrzehnten artikulierte, massive Kritik an SWZ insbesondere auf die Arbeits- und...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8136-X / 377998136X |
ISBN-13 | 978-3-7799-8136-7 / 9783779981367 |
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