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Praxishandbuch Interpersonelle Gewalt und Public Health -

Praxishandbuch Interpersonelle Gewalt und Public Health (eBook)

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2024 | 1. Auflage
412 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-4992-3 (ISBN)
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Das Praxishandbuch nimmt die alltäglichen Formen von Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen in den Fokus, die, systemisch ausgeübt, auf Macht und Kontrolle einer Person über eine andere zielen. Was entsteht, ist zum einen ein fundierter Überblick über die Verbreitung der Gewaltformen unter Berücksichtigung verschiedener vulnerabler Gruppen. Zum anderen werden die gesundheitlichen und sozialen Folgen sowie Möglichkeiten der Prävention, Intervention und Verbesserung der Versorgung von Gewaltopfern umfassend dargestellt. Abgerundet wird der Band mit erfolgreichen Maßnahmen aus der Praxis, die zur Nachahmung anregen.

Prof. Dr. Petra Brzank ist Soziologin, promovierte Gesundheitswissenschaftlerin und Professorin für Soziologie und Methoden der Sozialforschung am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Hochschule Nordhausen. Beate Blättner ist promovierte Pädagogin mit langjährigen Erfahrungen in der Praxis der Erwachsenenbildung und Professorin für Gesundheitsförderung am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. Daphne Hahn ist promovierte Soziologin und Professorin für Gesundheitswissenschaften und empirische Sozialforschung an der Hochschule Fulda. Inhaltliche Schwerpunkte liegen auf Geschlechterverhältnissen, Gewalt, sexueller und reproduktiver Gesundheit, Evaluationsforschung, partizipativer und Aktionsforschung.

Die Public-Health-Perspektive auf (interpersonelle) Gewalt


Petra Johanna Brzank

In diesem Kapitel wird ausgeführt, wie (interpersonelle) Gewalt zu einem bedeutenden Public-Health-Thema und zu einer wesentlichen Aufgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geworden ist. Dabei werden das Selbstverständnis sowie die besondere Perspektive von Public Health auf Gewalt und das zugrundeliegende spezifische Verständnis sowie die in diesem Kontext verwendete Definition von Gewalt dargestellt. Das sozialökologische Modell als Orientierungsmodell zur Erklärung von Risikofaktoren sowie zur Konzeption von Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung von (interpersoneller) Gewalt sowie neuere Entwicklungen – wie bspw. neuere Präventionsmodelle oder Gewalt als epidemisches Problem einer übertragbaren Krankheit anzusehen – werden ebenfalls vorgestellt. Damit führt dieses Kapitel in die disziplinspezifische Public-Health-Betrachtung von Gewalt ein und bildet die Basis für die weiteren Kapitel dieses Handbuches. Aus der Public-Health-Perspektive gut erforscht ist die interpersonelle, geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, sodass hier häufiger Bezug auf diese Form der Gewalt genommen wird.

Selbstverständnis von Public Health

Public Health definiert sich als die Praxis und Wissenschaft der Krankheitsverhütung, der Lebensverlängerung und Gesundheitsförderung durch die organisierten Anstrengungen der Gesellschaft (Rothman/Greenland/Lash 2008). In Abgrenzung zur Medizin, bei der die Gesundheit von individuellen Patient*innen im Fokus steht, setzt sich Public Health das biologische, physische und mentale Wohlbefinden aller Gesellschaftsmitglieder der Gesamtbevölkerung zum Ziel. Es geht um die Verwirklichung gesundheitlicher Chancengleichheit für alle. Um dieses herausfordernde Ziel zu erreichen, bedarf es des Engagements auf allen politischen und gesundheitsrelevanten Ebenen und eine intersektorale Zusammenarbeit wie es von dem Health in all Policies-Ansatz (HiaP) gefordert wird, der in Deutschland derzeit vermehrt thematisiert wird (ZfPH 2021).

1Gewalt als Public-Health-Problem mit langer Tradition


Dem in der Ottawa-Charta propagierten Ansatz Health for all folgend (WHO 1986), betont die WHO seit etwa drei Dekaden die gravierende Relevanz von Gewalt für die Gesundheit von Betroffenen, für die eine gesundheitliche Chancengleichheit nicht gegeben ist. Anfänglich wurde interpersonelle Gewalt bzw. die von ihr verursachten Verletzungen als intended injuries verstanden und damit von den unfallbedingten unintended injuries abgegrenzt: Thematisch wurde Gewalt allgemein in den WHO-Bereichen der Injury Prevention und Gewalt gegen Frauen im Rahmen von Sexual und Reproductive Health (heute Gender Women and Health) bearbeitet.

Die UN-Dekade der Frau von 1976 bis 1985 hatte zuvor zu verstärkten Anstrengungen geführt, Gewalt gegen Frauen breiter zu diskutieren, zu ächten und zu bekämpfen. Erste Studien belegten empirisch das epidemische Ausmaß von Gewalt gegen Frauen insbesondere durch den Ehemann (EMNID-Institut 1986), die weitreichenden Folgen für die Gesundheit (Plichta 1992) und die der Gesellschaft entstehenden direkten und indirekten Kosten (Heise/Pitanguy/Germain 1994; Day 1995; vgl. Duvvury et al. 2013). In der Folge verabschiedete die 48. UN-Generalversammlung 1993 in Wien die „Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“ (UN 1993).

In den 1980er Jahren nahmen verschiedene Organisationen vornehmlich aus Nord- und Südamerika wie z. B. das US-Centres for Disease Control and Prevention’s (US-CDC) – vergleichbar dem deutschen Robert Koch-Institut –, die Pan American Health Organization (PAHO) oder der Family Violence Prevention Fund (FVPF) (heute Futures Without Violence) die Herausforderungen zur Bekämpfung von interpersoneller Gewalt an und initiierten entsprechende Initiativen und Forschungsprojekte.

Bereits 1996 folgte die WHO mit einer Resolution den Auffassungen und Forderungen der Vierten Weltfrauenkonferenz in Bejing im Jahr 1995 und setzte das Problem der Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie gegen andere Personen auf ihre Agenda und erklärte Gewalt und vor allem interpersonelle Gewalt auf ihrer 49. Generalversammlung zu einem besonders schwerwiegenden Problem der Gesundheit (WHA 1996). Mit der seit 2000 circa alle zwei Jahre stattfindenden National Conference on Violence and Health2 wurde in den USA eine Austauschplattform für Wissenschaft und Praxis im Bereich der Gesundheitsforschung und -versorgung etabliert, die mittlerweile viele internationale Wissenschaftler*innen weltweit anzieht (Brzank/Hellbernd 2007).

Spätestens mit dem Erscheinen des WHO-Weltberichtes „World Report on Violence and Health“ (WHO 2002) ist das Ausmaß von und die Bedeutung der unterschiedlichen Gewaltformen und -kontexte auf die Gesundheit von Individuen sowie besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen beschrieben und die bis dato identifizierten Risiko- und Einflussfaktoren inklusive Policy-Maßnahmen dargestellt. Interpersonelle Gewalt gilt laut WHO als eine der Haupttodesursachen für Menschen im Alter von 15 bis 44 Jahren weltweit (WHO 2002). Seit langem wird interpersonelle Gewalt als eine große Herausforderung für die allgemeine Gesundheit sowie die Menschenrechte betrachtet, die das Leben sowie die physische und mentale Gesundheit vieler Menschen bedroht, Gesundheitssysteme überfordert und die ökonomische und soziale Entwicklung beeinträchtigt (VPA 2010).

Seit der Publikation ihres Weltberichtes hat sich die WHO stark engagiert, um für die Gesundheitsgefährdung durch Gewalt zu sensibilisieren und Präventionsmöglichkeiten in den Gesundheitssystemen zu etablieren. Es wurden Studien initiiert und vielfältige Dokumente wie fact sheets, Leitlinien sowie Datenbanken zu einem breiten Themenspektrum publiziert – wie z. B. zu Risikofaktoren für Gewalt, bewährten Präventionsstrategien und den Kosten von Gewalt – sowie Fortbildungscurricula für Gesundheitsfachkräfte oder Guidelines für den Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik (WHO 2013) veröffentlicht.3 2004 rief die WHO auf ihrem Milestones-Meeting für eine globale Kampagne zur Gewaltprävention offiziell die Violence Prevention Alliance (VPA) ins Leben, um ein stärkeres Netzwerk zwischen unterschiedlichen internationalen Akteuren aufzubauen, Aktivitäten zu bündeln und Synergieeffekte zu erzeugen. 2014 wurde von der 67. WHO-Generalversammlung die besondere Brisanz des Problems wiederholt sowie ergänzend die Rolle des Gesundheitssektors bei Prävention und Intervention insbesondere bei Gewalt gegen Frauen und Kinder betont und wie folgt begründet:

„The health sector has a leading role to play in giving care providers evidence-based guidance on appropriate responses to violence, and in particular to violence against women and girls, including clinical interventions and provision of mental health services and emotional support, as well as referral to other services such as legal or social services or those related to physical protection. Because a health care provider is likely to be the first professional contact for women and girls who experience violence, the health sector should increase awareness at different levels of its system and develop the capacity of the health workforce.“ (WHA 2014)

Zwei Jahre später forderten die 69 Versammlung einen entsprechenden Aktionsplan zur Stärkung dieser Präventionsrolle (WHA 2016).

Auch über den anglo-amerikanischen Raum hinaus entstanden erste Initiativen, den Gesundheitsbereich für das Problem der interpersonellen Gewalt zu sensibilisieren und Interventionsmaßnahmen zu etablieren. In Deutschland entstand 1999 inspiriert durch die Weltfrauenkonferenz in Bejing mit S. I. G. N. A. L....

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-4992-X / 377994992X
ISBN-13 978-3-7799-4992-3 / 9783779949923
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