Kurze Einleitung in die Sozialphilosophie (eBook)
150 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8277-7 (ISBN)
Jürgen Ritsert, Dr. rer. pol., Jg. 1935, ist emeritierter Professor im FB Gesellschaftswissenschaften der J.W.-Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Gesellschaftstheorie und Logik der Sozialwissenschaften.
Kapitel 2 Urteile über Vernunft und Unvernunft
Die göttliche Vernunft
In der Skizze der klassischen Idee der philosophia practica universalis im Kapitel 1 wurde von einer ganzen Reihe von Begriffen und Thesen Gebrauch gemacht, die gemeinhin Fälle menschlicher Vernunftäußerungen bezeichnen sollen: Schlüssigkeit, Begründbarkeit, Überprüfbarkeit, Prinzip, Allgemeingültigkeit, Handlungserfolg, Sittlichkeit u.am. Sie alle gelten als Erscheinungsformen „der Vernunft“, welche die Gesinnungen und Handlungen bestimmter Personen, Kollektive sowie überindividueller Strukturen und Prozesse in einer Gesellschaft. Sie weisen jedoch zugleich auf Schwierigkeiten hin, welche Substantive wie „die Vernunft“ oder „die Rationalität“ bereiten. Es war lange Zeit in der Geschichte der Philosophie und der Religionen üblich, „die Vernunft“ wie ein Subjekt zu behandeln und dieses Subjekt mit einem göttlichen Prinzip gleichzusetzen. „Im Hinblick auf die Vernunft aber erheben sich einige Schwierigkeiten. Denn sie scheint unter den Erscheinungen das Göttlichste zu sein; wie sie sich aber als derartige verhalte, das bietet einige Schwierigkeiten.“43 In der Tat! Bei Aristoteles bedeutetet der unbewegte Beweger (proton kinoun akineton), der sämtlichen Kausalketten (Bewegungen) in der Sinnenwelt den Anstoß gegeben hat, das oberste Prinzip des Weltgeschehens. Er wird als Gott jedoch durch nichts als durch sich selbst bestimmt, wobei das uneingeschränkte Sichselbstdenken den Charakter seiner Bewegung bestimmt. „Von einem derartigen Prinzip also hängt der Himmel ab und die Natur … Das Denken an sich geht auf das, was an sich das Beste ist, und Denken im höchsten Sinne an sich auf das, was im höchsten Sinne das Beste an sich ist. Sich selbst denkt die Vernunft, indem sie an dem Gedachten Anteil hat.“ D.h.: Sie wird von keiner Gegenständlichkeit (Heteronomie) beeinflusst und bedeutet uneingeschränkte Selbstverwirklichung im Akt des Denkens und nicht bloß Potentialität (Möglichkeit) auf dem Weg zur Aktualisierung (Verwirklichung). „Wir sagen also, dass der Gott ein lebendiges, ewiges und bestes Wesen sei.“44 Und Gott ist nous, d.h.: göttliche Vernunft. Bei Hegel gelangt der absolute Geist am Ende eines langen Prozesses der Selbstvergewisserung zu der Einsicht, dass er es bei dem scheinbaren Anderssein, etwa der Natur, immer schon mit sich selbst zu tun hatte. Er vermittelt sich mit sich selbst und gelangt zum absoluten, von allem scheinbaren Anderssein und von äußeren Gegensätzen befreiten Wissen von sich selbst. Daher heißt es bei ihm: „Geist aber kann Gott nur heißen, insofern er als er sich in sich selbst mit sich vermittelnd gewusst wird. Nur so ist er konkret, lebendig und Geist; das Wissen von Gott als Geist enthält damit Vermittlung in sich.“45 Geist ist zugleich Ausdruck der obersten Vernunft, des absolut vernünftigen Denkens. Diese Erhebung „der Vernunft“ zu einem Übersubjekt, also ihre Personalisierung, bereitet natürlich jeder logischen Analyse des Vernunftbegriffs – im Angesicht der verschiedenen Prozesse zur Säkularisierung – in der Tat besondere Schwierigkeiten.
Vernunft, freie Wahl und Autonomie
Nach meiner Auffassung drängt es sich auf, einem Vorschlag von Sprachphilosophen zu folgen, irreführende Substantivierungen und Personalisierungen durch eine Prädikation zu ersetzen. Dementsprechend tritt eine Vernunftprädikation an die Stelle des Substantivs „die Vernunft“.46 D.h.: Das überdies irreführend als homogen erscheinende Substantiv „die Vernunft“ wird in die logische Form einer elementaren Eigenschaftszuschreibung gebracht. Das Urteil lautet nun: Ein bestimmter Sachverhalt X ist rational oder nicht: X ε r (X ist rational) oder X ε r (X ist irrational). In der Schreibweise der modernen formalen Logik ist die Vernunftprädikation allerdings als Rx oder Rx zu fassen. Lies: Irgendein x weist die Eigenschaft R auf oder nicht. x und R bedeuten Variablen, so dass eine Vielzahl von Fällen und Eigenschaftsdimensionen an deren Stelle eingesetzt werden kann. Der Vorteil dieser Umformung des Substantivs besteht darin, dass die innere Inhomogenität des Vernunftbegriffs, also des Substantivs „die Rationalität“ deutlich wird. Sprachlich übliche Einsetzungsfälle an den Variablenstellen x und R sind:
- (a)
-
Einstellungen und Denkprozesse von Individuen: Dann kann das Prädikat R Eigenschaften der Person wie: ist nachdenklich, argumentiert schlüssig, ist kenntnisreich, aggressionsfrei und kompromissbereit, ist erfahren, problembewusst, empathisch, klar und deutlich in ihren Aussagen (clara et distincta ratio), sachlich u.a.m. bedeuten.
- (b)
-
Handlungen von Individuen: In diesem Fall werden individuellen Handlungen Rationalitätsprädikate wie: zweckrational, moralisch einwandfrei, hat und nennt gute Gründe für sein Tun, ist pflichtbewusst, geschickt, erfolgreich, zielorientiert u.a.m. zugeschrieben.
- (c)
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Interaktionen zwischen Menschen: Interaktionen zwischen Menschen bzw. Gruppenrelationen können natürlich ebenfalls den Eindruck hervorrufen, „vernünftig“ oder „unvernünftig“ zu sein. Dann werden Werturteile wie die folgenden möglich: Die Beziehungen zwischen den Einzelnen verlaufen in klar geregelten Bahnen bzw. reibungslos, es dominiert der Respekt voreinander; d.h.: es herrscht Achtung im Sinne der Würdigung von Sachverstand vor, aber darüber hinaus gibt es den Respekt auch als wechselseitige Anerkennung und Unterstützung des freien Willens der (aller) Subjekte (Kant), die Interaktionen sind normgetreu und gesetzeskonform u.a.m.
Die drei Dimensionen A, B + C können wegen ihres Bezugs auf die einzelnen Personen bzw. Subjekte als Erscheinungsformen der subjektiven Vernunft zusammengefasst werden. Aber Rationalitätsprädikationen haben darüber hinaus Institutionen und Organisationen oder gar ganze Gesellschaften zum Bezugspunkt. Als Fälle, die dann üblicherweise an den beiden Variablenstellen der Prädikation eingesetzt werden können, gelten dann etwa:
- (a)
-
Institutionen und Organisationen: In der soziologischen Literatur wird der Begriff „Institution“ oftmals gleichbedeutend mit dem der „Organisation“ verwendet. Ich verstehe jedoch Institutionen in erster Linie als Verfahren innerhalb einer Organisation. Die Heirat stellt eine Institution innerhalb des Standesamtes dar. Organisationen stellen Zweckverbände dar. Sie sollen bestimmte Zwecke erfüllen und/oder der Bearbeitung von Bezugsproblemen zweckdienlich sein. Organisationen können also „rational“ im Sinne von Zweckgerechtigkeit und Effizienz sein, sie sind leistungsfähig, sie entlasten die Individuen von der individuellen Problembearbeitung (A. Gehlen), einige sind darüber hinausgehend „reflexiv“. D.h.: Sie unterstützen und fördern die Autonomie der Subjekte und damit eine ihrer eigenen Bestandsbedingungen als „vernünftige“ Einrichtungen selbst. Strukturen der Totalität und allgemeine Prozesse gelten nicht zuletzt dann als „vernünftig“, wenn sie die Lebensbedingungen der Individuen sichern und erweitern sowie die Bezugsprobleme, denen sie zugeordnet sind erfolgreich bearbeiten.
- (b)
-
Die Gesamtgesellschaft sowie Strukturen und Prozesse innerhalb der gesellschaftlichen Totalität können ebenfalls zum Bezugspunkt von Rationalitätsprädikationen werden. So wird eine ganze Gesellschaftsformation oftmals als „vernünftig“ oder „unvernünftig“ qualifiziert. Gemeint ist damit meistens, dass die Grundordnung „gerecht“ oder „ungerecht“ ist, ...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8277-3 / 3779982773 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8277-7 / 9783779982777 |
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