Deutschland im Krisenmodus (eBook)
270 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8243-2 (ISBN)
Prof. Dr. Christoph Butterwegge war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und 2017 Kandidat der Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl.
1.3Die politische Zerrissenheit einer zutiefst verunsicherten Republik
Wenn die ökonomische und soziale Ungleichheit in einem Land wächst, nimmt auch dessen politische Zerrissenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu (vgl. hierzu: Butterwegge 2020, S. 372 ff.). Grundrechtseinschränkungen in einem seit der Staatsgründung am 23. Mai 1949 nicht gekannten Umfang haben das öffentliche Leben ebenso stark erschüttert wie außerparlamentarischer Widerstand der Zivilgesellschaft und die zum Teil von Rechtsextremisten vereinnahmten Demonstrationen gegen einzelne der im Großen und Ganzen notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen.
Der wohl sinnfälligste Ausdruck dieser Polarisierung war eine zentrifugale Entwicklung des Parteiensystems. Neben dem signifikanten Einflussverlust der jahrzehntelang eindeutig dominanten „Volksparteien“ CDU, CSU und SPD zählten dazu die Wahlerfolge der AfD. Dass sich diese trotz ihrer unübersehbaren Radikalisierung, des erzwungenen Rückzugs und schließlichen Austritts dreier vermeintlich „gemäßigter“ Parteivorsitzender (Bernd Lucke 2015, Frauke Petry 2017 und Jörg Meuthen 2021) fest etablieren konnte, hing indirekt mit den gesellschaftlichen Entsolidarisierungstendenzen einerseits sowie den sich nicht zuletzt dadurch verstärkenden Erosionsprozessen des politischen und Parteiensystems andererseits zusammen.
Nach der Euro- und der „Flüchtlings-“ bot die Coronakrise der AfD erneut die Chance zu einem provokativen Auftreten sowie massiver Agitation und Propaganda auf Stammtischniveau, welche sich besonders dann als wirksam erwiesen, wenn ihren Politikern und wenigen Politikerinnen die Parlamente als Bühne zur Verfügung standen (vgl. dazu: Butterwegge/Hentges/Wiegel 2019; Schroeder/Weßels 2019; Ruhose 2023). Zwar änderte sich an den parlamentarischen Mehrheits- und politischen Machtverhältnissen durch die AfD-Präsenz nur wenig, der Ton im Bundestag und in den 16 Landtagen wurde aber generell sehr viel rauer: Hasstiraden und Hetzreden hielten Einzug in die Plenardebatten; rassistische und sexistische Zwischen- sowie parlamentarische Ordnungsrufe häuften sich ebenfalls derart, dass Quantität an dieser Stelle in Qualität umschlug. Gerd Wiegel (2022), damals Fachreferent für Rechtsextremismus/Antifaschismus der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, hat die „Brandreden“ von AfD-Abgeordneten in einem Buch dokumentiert und zutreffend kommentiert.
Dass die Pandemieleugner-Szene kein Haufen wildgewordener „Wutbürger“ war, zeigten die unablässigen Versuche ihrer Wortführer, durch Gründung einer schlagkräftigen Parteiorganisation gezielt Einfluss auf politische Willensbildungs- und parlamentarische Entscheidungsprozesse zu nehmen. Schon kurz nach Beginn der Proteste gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen entstand die „Partei Widerstand2020 Deutschland“. Kaum war sie nach einem Vierteljahr abgewickelt, wurde „dieBasis – Basisdemokratische Partei Deutschland“ ins Leben gerufen (vgl. dazu: Barth 2021). Im darauffolgenden Jahr trat diese zur Bundestagswahl an, ohne übermäßig erfolgreich zu sein, schnitt sie mit 1,6 Prozent der Erst- und 1,4 Prozent der Zweitstimmen doch schlechter als beispielsweise die Tierschutzpartei ab.
Unterschiedliche Reaktionen auf die Infektionsschutzmaßnahmen des Staates
Obwohl dem Virus durch ein geschlossenes und energischeres Vorgehen der ganzen Bevölkerung eventuell wirksamer zu begegnen gewesen wäre, bildeten sich auf der politischen Ebene im Verlauf der Pandemie sehr schnell zwei einander heftig befehdende Lager heraus: Die der Bundesregierung von CDU, CSU und SPD nahestehenden Kräfte betonten in erster Linie das Grundrecht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, empfanden die getroffenen Maßnahmen entweder als zwingend erforderlich oder sogar als zu lasch, um der Bedrohung durch das Virus baldmöglichst Herr zu werden, und befürworteten daher breiter angelegte Impfkampagnen sowie eine für im Gesundheits- und Pflegebereich tätige Menschen geltende, später auch eine allgemeine Impfpflicht. Das andere Lager rekrutierte sich aus von den etablierten Parteien schon länger Frustrierten, die früher teilweise dort selbst Politik gemacht hatten, sowie aus rechtsextremen und in viel selteneren Fällen linksradikalen Fundamentaloppositionellen. Man negierte oder relativierte zumindest die Infektionsgefahr und kritisierte das Pandemiemanagement der Regierung als totalitär oder reine Willkür, darauf ausgerichtet, dauerhaft eine allgegenwärtige Überwachungs- und Kontrollinfrastruktur zu etablieren (vgl. z.B. Osrainik 2021).
In der Öffentlichkeit avancierten der Vegan-Koch Attila Hildmann, der als Mitbegründer der „Söhne Mannheims“ bekannt gewordene Sänger Xavier Naidoo, der Rapper Sido und der Schlagersänger Michael Wendler zu führenden Repräsentanten des Coronaprotests. Als prominente Aushängeschilder der Bewegung dienten auch der Filmschauspieler Til Schweiger und die Popikone Nena (Gabriele Susanne Kerner). Für medialen Flankenschutz sorgten die schon vorher einschlägig bekannten Journalisten Ken Jebsen (KenFM, Apolut.net), Jürgen Elsässer (Compact) und Boris Reitschuster (Reitschuster.de).
Zu den fachlich qualifizierteren, aber politisch nicht minder verbohrten Repräsentant(inn)en dieser Richtung gehören die Biochemikerin Karina Reiss und ihr Ehemann Sucharit Bhakdi (2020 und 2021). Letzterer hat jahrzehntelang das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geleitet, vertrat antisemitische Positionen und kandidierte ebenso wie seine Frau am 26. September 2021 für die Basisdemokratische Partei Deutschland zum Bundestag. Reiss und Bhakdi (2021, S. 202) betrachteten die Covid-19-Pandemie – in Anführungszeichen gesetzt – als „Fake“ und führten den allgemeinen Glauben daran auf Manipulation zurück: „Politik und Medien haben ganze Arbeit geleistet, das Volk in einen kollektiven Angstwahn zu versetzen.“
Tatsächlich verengte sich der öffentliche, politische und Mediendiskurs in keinem anderen großen europäischen Land ähnlich stark auf die Pandemie bzw. ihren Verlauf wie in der Bundesrepublik. Kaum ein anderes Thema war bis zum Ukrainekrieg in den Massenmedien noch präsent. Auch soziale Probleme, die sich während der vergangenen Jahrzehnte angestaut hatten, spielten jetzt praktisch überhaupt keine Rolle mehr. Stattdessen drehte sich fortan alles bloß noch um SARS-CoV-2, Covid-19 und die Kernfrage des angemessenen Umgangs damit. Anstatt die gesellschaftlichen Folgeschäden der Pandemie zu thematisieren, kaprizierten sich die Massenmedien auf (den Kampf gegen) das Virus. Kennzeichnend dafür war, dass keine einzige der öffentlich-rechtlichen TV-Talkshows, die Sendung für Sendung monothematisch „Corona“ mit immer denselben Medizinern, Virologen, Epidemiologen und Gesundheitspolitikern als Gästen bestritten, im Jahr 2021 das Thema „Armut und sozioökonomische Ungleichheit“ behandelte, ganz so, als habe es wenig Aufmerksamkeit verdient und nichts mit der Covid-19-Pandemie zu tun.
Gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen der Covid-19-Pandemie wurden in den Massenmedien zu Beginn gleichermaßen intensiv diskutiert, wie eine Medienanalyse im Auftrag der Rudolf Augstein Stiftung ergab. „Dies änderte sich jedoch deutlich in der zweiten und dritten Pandemie-Welle. Ab Herbst 2020 spielten die (überwiegend negativen) wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen in den Medien kaum noch eine Rolle. Stattdessen ging es bei weitem überwiegend um gesundheitliche Folgen. Soziale Folgen und vor allem Folgen für das Bildungssystem wurden in den Medien schon von Beginn an eher selten thematisiert. Nach der ersten Pandemie-Welle geschah dies noch zunehmend seltener.“ (Maurer/Reinemann/Kruschinski 2021, S. 31 f.)
Kritiker/innen der Infektionsschutzmaßnahmen des Bundes bemängelten, dass die Medien nicht objektiv berichtet, sondern von Beginn der Pandemie an einseitig Partei für ...
Erscheint lt. Verlag | 10.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8243-9 / 3779982439 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8243-2 / 9783779982432 |
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