Jugend online! Soziale Arbeit offline? (eBook)
157 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8055-1 (ISBN)
Reinhold Gravelmann, Dipl. Pädagoge, Dipl. Sozialpädagoge, ist Referent in einem Bundesverband für Erziehungshilfe, Eltern-Medientrainer der Landesstelle Jugendschutz Nds. und freiberuflicher Autor und Referent unter anderem zu Migration/Flucht, Neue Medien sowie Themen aus dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere Kitas. Homepage: www.referent-gravelmann.de
2.Ein Blick zurück nach vorn – Konstanz und Veränderung
Die jeweiligen technischen Neuerungen in den letzten Jahrzehnten und die mit den jeweils ‚neuen‘ Medien stets verbundenen kritischen Sichtweisen vieler Menschen auf die Weiterentwicklungen lassen sich historisch gut nachzeichnen. Dabei kann eine Verbindungslinie zur Kritik an heutigen Entwicklungen des digitalen Zeitalters gezogen werden, wobei zugleich zentrale Unterschiede zu benennen sind.
Auf die Soziale Arbeit bezogen kann festgehalten werden, dass Medien einerseits in allen Feldern der (Jugend-)Arbeit eingesetzt werden, zugleich aber oft Medienkritik geäußert wird. Und Jugendmedienschutz und Jugendmedienbildung spielten schon immer eine Rolle. Eine Konstante, die aber im digitalen Zeitalter mit besonderen Herausforderungen verbunden ist.
Eine weitere Konstante ist die, dass Krisen zu beschleunigten Prozessen beitragen und zu positiven wie kritischen Entwicklungen führen können. Die Coronakrise erwies sich als ein Kipppunkt, als Katalysator für die Digitalisierungsdiskussionen in der Sozialen Arbeit. Und die Pandemie löste nicht nur Diskussionen aus, sondern führte unmittelbar zu erheblichen Veränderungen in der Praxis Sozialer Arbeit. Das nachfolgende Kapitel wirft einen Blick zurück und zugleich nach vorne.
a.Medien und Medienkritik in früheren Zeiten
Anthropologisch gesehen war die Weltsicht schon immer auch über Medien vermittelt, da Mediatisierung in allen Lebensbereichen Einfluss auf die Menschen genommen hat. Medien sind spätestens seit dem Buchdruck ein bedeutender Sozialisationsfaktor und beeinflussen die Rahmenbedingungen von gesellschaftlicher Teilhabe, formalen und non-formalen Bildungsprozessen in Schule ebenso wie im Alltag oder in der Sozialen Arbeit.
Durch die digitalen Medien, insbesondere die sozialen Netzwerke, vollzieht sich seit Jahren ein rasanter Wandel in der Medienwelt. Ein Rückblick macht dies deutlich. Vor allem aber wird die Konstanz sichtbar, mit der ‚neue‘ Medienentwicklungen stets kritisch beäugt wurden. Heute werden digitale Medien oder zumindest Teilaspekte der ‚neuen‘ Medien vielfach skeptisch betrachtet, etwa von Pädagog*innen oder Eltern.
Medien, die einst als neu und ‚in‘ galten oder kritisch gesehen wurden, verloren innerhalb kürzester Zeit an Relevanz. So verschwanden weitgehend oder gänzlich: der Röhrenfernseher, der Plattenspieler, der VHS-Rekorder, der Kassettenrekorder, das Fax, analoge Kameras, mobile CD-Player, 3,5 Zoll Diskettenlaufwerke, Walkmans, Telefone mit Wählscheiben und auch das Festnetztelefon ist längst nicht mehr Standard und aus Sicht junger Menschen ein Relikt alter Zeiten. Die Möglichkeit, ein Telegramm aufzugeben, wurde Ende 2022 eingestellt. Ein Telegramm mit 160 Zeichen kostete zuletzt 13 Euro (ZDF 29.12.2022) – ein Anachronismus im Zeitalter von WhatsApp und Co. Bei seiner Erfindung handelte es sich um eine bedeutende Errungenschaft von Kommunikation mittels Technik.
Exemplarisch werden die rasanten Veränderungsprozesse am Beispiel des Zeitungsmarktes deutlich. Lange Zeit galt sie als selbstverständlich: die gedruckte Zeitung. Seit 1991 sanken die Verkaufszahlen der Printausgaben der Tageszeitungen in Deutschland von 27,3 Millionen auf 14,6 Millionen Exemplare in 2022 (Statista 2023). Im Bereich der Jugendzeitschriften wird dies an dem ehemaligen Leitmedien junger Menschen, der Bravo, deutlich. Es hat sich innerhalb weniger Jahre ein Niedergang des einst übermächtigen Platzhirsches im Jugendmedienmarkt vollzogen. Vom Höchststand der gedruckten Auflage von fast 1,6 Millionen Heften 1991 sackte die Anzahl der interessierten Leser*innen auf unter eine Million in 1998 und betrug 2020 nur noch knapp 60.000. Zudem wurde die Häufigkeit des anfänglich wöchentlichen Drucks auf sechs Ausgaben im Jahr reduziert (ivw 2023). Die Jugendzeitschrift von heute ist das Internet.
Als die Printmedien aufkamen, wurde im Wörterbuch von 1809 von Lesesucht gesprochen. Lesesucht, die „Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigende Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen“ (König 1977 zitiert nach Wampfler 2014, S. 14). Wenn das Wort ‚Lesesucht‘ durch die heutzutage diskutierte ‚Computerspielsucht‘ oder ‚Internetsucht‘ ersetzt wird, so passen die Aussagen gut in die heutige Zeit.
Ein anderes Beispiel ist das Röhrenfernsehgerät. Ein wuchtiger Apparat, meistens im Wohnzimmer stehend, in brauner Farbe, versehen mit drei Knöpfen, die händisch zu drücken waren, um zwischen ARD, ZDF und dem Landesprogramm, dem Dritten, auszuwählen zu können. Das TV-Gerät war außerdem mit einer abschließbaren Klappe versehen. Somit war das Medienangebot von den Inhalten wie von der Nutzungszeit her begrenzt, leicht kontrollierbar und es bestand die Möglichkeit der einfachen Medienzugangsbeschränkung, indem per Schlüssel der Zugriff auf das Gerät verhindert werden konnte. Dieses Fernsehgerät hat nur noch wenig gemeinsam mit den heutigen smarten TV-Geräten. Diese bieten eine enorme Programmvielfalt, vor allem wegen diverser seit 1984 zugelassener und sich über Werbeeinnahmen finanzierender Privatsender (Goege 2012) oder internationaler TV-Angebote – Fernsehen rund um die Uhr ist möglich, ebenso zeitversetztes TV. Zudem bestehen fast unbegrenzte Speichermöglichkeiten sowie eine Verbindung zum Internet, von der Fernbedienung und der Bildqualität ganz zu schweigen. Somit sind die Kinder- und Jugendschutzherausforderungen deutlich gestiegen.
Seit der Erfindung des Fernsehens und seiner massenhaften Verbreitung gab es TV-Kritik. Vielen Pädagog*innen ist Neil Postman bekannt, der 1984 in seinem Buch ‚Wir amüsieren uns zu Tode‘ große Bedenken bezüglich bildvermittelnder Formate äußert. Für ihn war das Fernsehen ein oberflächliches Medium, das Bildung, Katharsis und Reflexion verhindert, weil das Auge nie ruht und ständig Neuem ausgesetzt ist (Postman 1985, S. 86, 88). Auch wurde die Nutzungsdauer problematisiert, wie die Auswirkungen von Gewaltdarstellungen auf die (jungen) Menschen. Die Passivität vor dem Gerät einerseits und „Unruhe“ in Folge von Fernsehkonsum andererseits rückten in den Blick, altersunangemessene Filme, zu viel Freizügigkeit und zunehmend brutalere Darstellungen wurden ebenfalls bemängelt, zudem wurde eine Verrohung der Gesellschaft vor allem durch Sendungen im Privatfernsehen ausgemacht, wo bis dato geltende Moralgrenzen überschritten wurden (exemplarisch sei das ‚Dschungelcamp‘ genannt, bei dem z. B. „Ekelaufgaben“ erfüllt werden mussten). In der Pädagogik wurde beispielsweise die Serie „Die Super Nanny“ (2004) heftig diskutiert und kritisiert (u. a. Brandes 2010). Eine Pädagogin beriet in einem Realityformat Familien in Erziehungsfragen. Ältere Fachkräfte werden sich an die Sendung und die Diskussionen erinnern, was zeigt, wie heftig die ausgelöste Debatte über dieses völlig neue Format war. Unter anderem wurde kritisiert, dass die Pädagogin, die in den Familien vor der Kamera ihre Ansätze präsentierte, die Familien bloßstellte und sie der Öffentlichkeit preisgab. Aber weite Teil der Bevölkerung bzw. diejenigen Eltern, die Unterstützung für die Erziehung ihrer Kinder suchten, nahmen die Sendung dankbar an. Hamburger schrieb damals, dass die Sendung sich im Verlauf qualitativ weiterentwickelte und mit Wirksamkeits- und Qualitätsprüfungen sowie Rückblenden auf vorher gezeigte Fälle, ein Niveau erreicht hat, „das vielen Formen der beruflichen (Real-)Praxis noch zu wünschen wäre“ (Hamburger 2010, S. 25).
Wampfler benennt ein weiteres Beispiel dafür, wie die jeweils neu erfundenen Medien nach ihrer Verbreitung in der Gesellschaft auf kritische Zeitgenossen stießen. In Bezug auf das Kino bringt sie ein Zitat von Gaupp aus dem Jahr 1912, der von einer „Zeit nervöser Hast und Vielbeschäftigtheit“ spricht, von „mannigfältigsten Reizen, die auf die jungen Seelen einströmen“, von „oberflächlichem Erfassen“, einem „passiven Hinnehmen“. Zugleich verweist er darauf, dass die pädagogische Erfahrung lehrt, dass es ein aktives Erfassen und...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8055-X / 377998055X |
ISBN-13 | 978-3-7799-8055-1 / 9783779980551 |
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