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Einwanderung mit Zukunft (eBook)

Neue Nationsbildung in Deutschland statt Minderheitengesellschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45846-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einwanderung mit Zukunft -  Friedrich Heckmann
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Wer sind »Wir« in Deutschland und wer gehört dazu? Auf der Grundlage der deutschen und internationalen Migrations- und Integrationsforschung prüft Friedrich Heckmann, ob sich ethnische Minderheitenbildung infolge von Einwanderung verfestigt oder ein Übergangsphänomen im Integrationsprozess ist. Seine Untersuchung macht deutlich, dass es im Zeit- und Generationenverlauf zu einem (wechselseitigen) Annäherungsprozess zwischen Einheimischen und eingewanderten Bevölkerungsteilen und deren Nachkommen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kommt. Deutschland erweist sich als integrative Gesellschaft, die in einem Prozess »Neuer Nationsbildung« Gegenwart und Zukunft der Einwanderung gestaltet.

Friedrich Heckmann ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Bamberg und Vorsitzender des Expertenforums beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Friedrich Heckmann ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Bamberg und Vorsitzender des Expertenforums beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

2Wie sich Nationsbildung methodisch untersuchen lässt


Als Resultat der Zuwanderung hat sich die Sozialstruktur Deutschlands stark differenziert und es sind neue Unterscheidungen von Lebenslagen, sozialen Beziehungen und Bewusstseinsformen entstanden. In den Kapiteln 3 bis 6 wird untersucht, wie sich in verschiedenen gesellschaftlichen und individuellen Bereichen Unterschiede zwischen Mehrheits- und Migrantenbevölkerung im Zeit- und Generationenvergleich empirisch entwickelt haben, d.h. ob sie sich verstärkten, verfestigten, abschwächten oder nicht mehr existieren. Verändern sich z.B. im Zeitverlauf Unterschiede in Bildungsabschlüssen zwischen erster und zweiter Generation oder zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund? Für die Einschätzung zukünftiger Trends sind gegenwärtige Trends eine ganz wichtige Grundlage: Einmal etablierte Strukturen und auf den Weg gebrachte Entwicklungen zeigen häufig eine langfristige Stabilität, die sozialwissenschaftlich als Pfadabhängigkeit von Entwicklungen begriffen wird.

Für die Analysen können wir auf eine Vielzahl vorliegender empirischer Untersuchungen sowie auf amtliche Statistik mit einer großen Zahl von Daten zurückgreifen. Die jeweiligen Untersuchungsdaten sind zwar für je spezifische Fragestellungen erhoben und ausgewertet worden, können aber häufig zugleich aus der Perspektive des dargestellten Erkenntnisinteresses analysiert werden. Viele Studien greifen dabei auf Datensätze des Mikrozensus, des Sozioökonomischen Panels oder des European Social Survey zurück; andere Studien haben eigene Daten erhoben.

Bezogen auf das Interesse an der Entwicklung ethnischer Differenzierung und an Nationsbildung könnten Kritiker fragen, ob der Autor nicht zumindest implizit einer bestimmten normativen Agenda folgt, die das Ideal einer möglichst homogenen Gesellschaft und Nation nach nationalistischem Muster anstrebt. Das wäre ein gravierendes Missverständnis. Bei dem Interesse an der Entwicklung von Unterschieden geht es zunächst keinesfalls nur um die Untersuchung von Veränderungen der zugewanderten Bevölkerung im Verlauf des Eingliederungsprozesses, sondern zentral ebenso um die Frage von Veränderung der aufnehmenden Gesellschaft und um die Art und Weise, wie sie sich auf die neue Situation einstellt. Das Erkenntnisinteresse bezieht sich auf das Verstehen gegenwärtiger Entwicklungstendenzen ethnischer und migrantischer Differenzierung und der Bedingungen gesellschaftlicher und politischer Integration, alltagssprachlich häufig als gesellschaftlicher Zusammenhalt bezeichnet. Dieser ist z.B. gefährdet, wenn soziale, wirtschaftliche und kulturelle Probleme und Konflikte ethnisiert werden und zu ethnischen Konflikten führen.

Ob sich Prozesse der ethnischen und/oder migrantischen Differenzierung verfestigen oder es zu Annäherungen und der Abschwächung von Unterschieden zwischen Einheimischen und Zuwanderern kommt, soll auf der Basis der Sekundärauswertung vorliegender empirischer Studien untersucht werden. Die Auswahl zentraler Bereiche für die Analyse dieser Fragestellung erfolgt auf der Grundlage der Integrationstheorie mit ihren zentralen und wechselseitig abhängigen Dimensionen der strukturellen, kulturellen, sozialen und identifikativen Integration.17 Dieser Ansatz ist verwandt mit grundlegenden Prämissen der Theorie Richard Albas, der vor allem die Integration und den Aufstieg zuvor diskriminierter und benachteiligter europäischer Einwanderergruppen in den USA wie der Osteuropäer, Südeuropäer und von Juden im 20. Jahrhundert untersucht und erklärt hat. Als zentrale Faktoren für Annäherung nennt Alba: »… social mobility, which produces parity with many individuals in the mainstream, the growth of amicable personal relationships with such individuals; and the mainstream cultural change that elevates the moral worth of minority individuals …« (Alba 2020, 8/9).18 Der letzte Punkt zeigt, dass Annäherungen und Integration nicht nur Veränderungen bei den Einwanderern, sondern auch bei den Einheimischen erfordert.

Im Einzelnen werden Studien zu folgenden Bereichen ausgewertet:

  • Bildung und Qualifizierung (strukturelle Integration)

  • Erwerbstätigkeit (strukturelle Integration)

  • Rechtsstatus (strukturelle Integration)

  • Kultur, Werte, Religion (kulturelle Integration)

  • Persönliche Kontakte, Nahbeziehungen (soziale Integration)

  • Zugehörigkeiten und Identifizierungen (identifikative Integration)

  • Partizipation und politische Beteiligung (strukturelle Integration)

Mittel- und längerfristige Entwicklungen der ethnischen und migrantischen Differenzierung können konzeptuell und empirisch auf verschiedene Weise erfasst werden. Die erste Möglichkeit ist, auf die Wirkung der Aufenthaltsdauer von Migranten im Einwanderungsland zu schauen. Das ist eine Sicht, die sich auf Menschen bezieht, die selbst gewandert sind, also die sogenannte erste Migrantengeneration. Aufenthaltsdauer steht für Zeitraum und Intensität der Einflüsse der Einwanderungsgesellschaft und deren Aneignung, Abwehr oder Ignorierung durch Migrantinnen und Migranten und impliziert, dass Veränderung und Integration eine Funktion von Zeit sind. Veränderungen, die sich mit der Aufenthaltsdauer einstellen, bieten Hinweise darauf, wie und in welche Richtung sich ethnische und migrantische Differenzierung entwickeln.

Eine weitere Möglichkeit, die Entwicklung ethnischer und migrantischer Differenzierung zu verfolgen, besteht darin, intergenerationale Unterschiede zu erfassen. Variablenwerte von erster und zweiter Generation können verglichen werden wie auch jeweilige Unterschiede der Werte von erster und zweiter Generation im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft. So kann z.B. die Erwerbstätigkeitsquote von erster und zweiter Generation direkt verglichen werden und/oder ein Vergleich des Unterschieds der Erwerbstätigkeitsquote zur Mehrheitsgesellschaft im Zeitverlauf analysiert werden. Letzteres lässt sich auch als Vergleich der Beschäftigungslücke zwischen erster und zweiter Generation bezeichnen. Beschäftigungslücke meint in der Erwerbstätigkeitsstatistik die Differenz der Erwerbstätigkeitsquoten zwischen Bevölkerungsgruppen.19 Will man die dritte Generation noch Migranten nennen, kann der Generationenvergleich natürlich auch auf diese erweitert werden.20 Man muss sie nicht »Migranten« nennen, es ist aber für das Interesse an längerfristigen Entwicklungen wichtig zu erfahren, was aus den Enkeln und Enkelinnen der Einwanderer geworden ist. Dabei ist auf die Besonderheiten des Generationenkonzepts in der Integrationsforschung zu achten.

Der soziologische Generationsbegriff thematisiert im Allgemeinen, dass die Zugehörigkeit zu gleichen oder ähnlichen Geburtsjahrgängen in einer historisch, kulturell und politisch definierten räumlichen Einheit über den lebensprägenden Sozialisationsprozess zu einer bestimmten Gemeinsamkeit von Erfahrungen, Haltungen und Verhalten führt. »Individuen sind als Beobachter, Akteure und Opfer immer schon in die übergeordnete Dynamik geschichtlicher Ereignisse eingebunden. Jeder Mensch ist in seiner Altersstufe von bestimmten Schlüsselerfahrungen geprägt, und ob man will oder nicht, teilt man mit der Jahrgangskohorte gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster« (Assmann 2014, 26). In unterschiedlichen soziokulturellen Milieus werden allerdings jeweilige zeitlich gemeinsame Ereignisse unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert, was zu einer Ausdifferenzierung der Generationsgemeinsamkeiten führt. Der Generationsbegriff der Migrations- und Integrationsforschung setzt ebenfalls an der Gemeinsamkeit von Erfahrungen bestimmter Kohorten von Menschen an, aber nicht primär in der zeitlich-historischen Dimension. Angehörige einer Migrantengeneration können, müssen aber keineswegs in dem gleichen historischen Zeitraum gelebt haben. Das Gemeinsame der Erfahrungen bezieht sich bei der ersten Generation vor allem auf typische Erfahrungen, die mit der Einwanderung in ein neues Land gemacht werden, auf neue Herausforderungen und eine neue Sozialisation, die man als...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Annäherung • Deutschland als Einwanderungsland • Framing • Identifizierung • Integration • Integrationsforschung • Migrantengeneration • Migration • Minderheiten • Nation • Nationsbildung • Staatsangehörigkeit • systematische Integrationspolitik
ISBN-10 3-593-45846-2 / 3593458462
ISBN-13 978-3-593-45846-5 / 9783593458465
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