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Soziologie -  Ludger Pries

Soziologie (eBook)

Schlüsselbegriffe - Herangehensweisen - Perspektiven

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 5. Auflage
304 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8106-0 (ISBN)
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Das Lehrbuch führt durch die systematische Vorstellung und Diskussion soziologischer Schlüsselbegriffe tiefgehend und doch leicht verständlich in das Fach ein. Vom Individuum, von der Gesellschaft und von sozialen Verflechtungszusammenhängen ausgehend dienen darüber hinaus die drei Perspektiven soziales Handeln, soziale Ordnungen und sozialer Wandel als grundlegende Orientierungen. Jedes der dreizehn Kapitel beginnt mit einem konkreten Beispiel, anhand dessen jeweils soziologische Hauptbegriffe, wichtige Autorinnen und Autoren sowie - in einem ersten Überblick - paradigmatische Betrachtungsweisen vorgestellt werden.

Ludger Pries, geb. 1953, Dr. phil., ist Senior-Professor für Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind (international vergleichende) Organisations- und Arbeitssoziologie, Migrationssoziologie, Transnationalisierungsforschung.

Kapitel 1Soziologie als Wissenschaft


KASTEN 1.1

Soziologische Regel:

Das Tier, welches am wenigsten weiß, was Wasser ist, ist der Fisch!

Dem Menschen ist seine alltägliche Lebenspraxis das Lebenselixier wie dem Fisch das Wasser – sie erscheint ihm als etwas Natürliches, ist aber vollständig sozial konstruiert.

Der Mensch ist ein durch und durch soziales, auf Interaktionsbeziehungen mit anderen Menschen, mit der Natur und mit sich selbst ausgerichtetes Wesen. Wie tief und weit diese Sozialität reicht, nehmen die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis fast so wenig wahr, wie der Fisch weiß, dass er im Wasser schwimmt. Der Blick auf das Soziale und auf Vergesellschaftung erfolgt in der Soziologie vereinfacht von drei Positionen aus: vom Einzelnen (Mikro-Ebene), von der Gesamtgesellschaft (Makro-Ebene) und von sozialen Verflechtungsbeziehungen (Meso-Ebene) her.

In diesem Kapitel wird erklärt, (1) in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang sich die Soziologie als eigenständige Wissenschaft herausbildete, (2) wie man die Soziologie von anderen Wissenschaftsdisziplinen abgrenzen kann und (3) was ihr spezifischer Forschungs- und Erkenntnisgegenstand ist. Schon bei diesem dritten Teil wird sich zeigen, dass es trotz eines gemeinsamen Grundverständnisses durchaus sehr unterschiedliche Heransgehensweisen und Denkschulen gibt.

1.1Praxisbeispiel und Grundidee


Alle Menschen leben im Umgang mit anderen Menschen, mit sich selbst und mit der Natur mit spezifischen sozialen Regeln und Mechanismen. Diese sozialen Regeln und Mechanismen erscheinen ihnen so lange als fraglos gegeben und gleichsam natürlich, bis sie (irritiert) andere soziale Regeln und Mechanismen kennenlernen oder sich vorstellen können. Ein gutes Beispiel sind die Begrüßungsregeln. Es ist keine Menschengruppe bekannt, bei der das persönliche Zusammentreffen mit Anderen nicht ganz bestimmten sozialen Normen und Mechanismen unterliegt: Hut ziehen, Hände schütteln, ein, zwei oder drei Küsschen auf die Wange, sich verbeugen, die Hand küssen, sich umarmen, bestimmte Formeln sagen, die Fäuste oder Schultern gegeneinander stoßen etc. Die für eine bestimmte Menschengruppe geltenden Begrüßungsregeln sind für diese selbstverständlich, kein Anlass für Irritationen, sie werden in der alltäglichen Lebenswelt (siehe Abschnitt 8.3) einfach mehr oder weniger unbewusst praktiziert. Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung erlangen Begrüßungsrituale, wenn sie nicht zum eigenen alltagspragmatischen Repertoire gehören oder gar unbekannt sind. Das folgende Foto verdeutlicht diesen Sachverhalt (siehe Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1:Traditionaller Nasengruß (Hongi) der Maori auf Neuseeland

(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Hongi)

Das Bild zeigt keineswegs zwei Kämpfende, die sich erschöpft vor dem letzten entscheidenden Hieb gegenseitig stützen. Vielmehr sehen wir einen Soldaten der US-amerikanischen Armee und einen Maori-Krieger bei dem für die Maori typischen Begrüßungsritual des Hongi. Der Hongi oder Nasengruß ist Teil einer recht differenzierten Begrüßungszeremonie der Ureinwohnerinnen und Ureinwohner Neuseelands, der Maori. Die Grüßenden rücken hierbei Stirn und Nase aneinander, sagen „HM-HM“ und atmen hörbar aus. Auch ein Nasenkuss wird gegeben, um miteinander den Atem zu teilen. Für die Maori – und wohl für viele andere Menschen auch – ist dies etwas Spirituelles, der oder die Begrüßte wird dadurch von einer fremden zu einer befreundeten Person. Ein ähnliches Begrüßungsritual ist übrigens auch auf Hawaii bekannt.4 Auch in vielen arabischen Ländern ist es bei der Begrüßung wichtig, sich zu umarmen und den Atem des Gegenübers zu spüren. Dies gilt aber nur für Männer, selbst dann, wenn sie sich vorher nicht gekannt haben. Frauen dagegen dürfen von Personen, die nicht zur engeren Familie gehören, bei der Begrüßung nicht einmal berührt werden. In Indien leitet sich der Name der Unberührbaren davon ab, dass die so Bezeichneten von den anderen sozialen Gruppen als die absoluten Underdogs angesehen werden, die alle schmutzigen Arbeiten ausführen müssen und deswegen nicht angefasst werden sollten. Es sind also nicht die absolut oben, sondern die absolut unten in der Hierarchie Stehenden, die als unberührbar bezeichnet werden (Prashad 2000).

Völlig undenkbar wäre so etwas wie der Hongi oder eine Umarmung – wie sie inzwischen in vielen europäischen Ländern bei Frauen und auch bei Männern üblich geworden ist – in einem Land wie Japan. Dort würde eine so starke körperliche Annäherung als große Irritation wahrgenommen. Begrüßungsrituale in Japan und auch anderen asiatischen Ländern sind durch relativ strikte und vergleichsweise große Entfernungen zwischen den beteiligten Personen bestimmt. Generell gilt: Nicht nur der Raumabstand zwischen den Sich-Begrüßenden, sondern auch die Form der Begrüßung – ob Handschlag, Verbeugung, ein, zwei oder drei Wangenküsschen oder der Nasenkuss der Maori – sind gesellschaftlich vorgeprägt. All diese Aspekte variieren nicht nur zwischen Ländern und Kulturen, sondern auch nach Alter, Geschlecht, Lebensstil und anderen sozial relevanten Merkmalen. Schließlich ändern sich die Begrüßungsrituale auch innerhalb ein und derselben sozialen Gruppe im Laufe der Zeit. So galt für Männer in Deutschland noch bis in die 1960er Jahre, dass sie möglichst mit einer Kopfbedeckung das Haus zu verlassen hätten und bei der Begrüßung von Bekannten und Unbekannten den Hut ziehen sollten. Fünfzig Jahre später tragen Männer in der Öffentlichkeit entweder keine Kopfbedeckung oder eine Baseballkappe, Wollmütze, einen Safari- oder Sonnenhut. Begrüßungsformen und Distanzempfinden (Proxemik) sind auch für die Gestaltung von Lernräumen in Schulen wichtig (Loiskandl/Schiebl 2023).

Die Beispiele dieser so unterschiedlichen Begrüßungsrituale führen unmittelbar in das Zentrum der Soziologie. Eine alltägliche Lebenspraxis, die allen Menschen auf der Welt im Laufe ihrer Erziehung und Sozialisation (siehe Abschnitt 4.5) geradezu eingeimpft und zur nicht mehr hinterfragten alltäglichen Routine wird, diese alltägliche und als fraglos gegebene Lebenspraxis variiert bei genauerem Hinsehen zwischen verschiedenen Gesellschaften, nach sozialen Gruppen und im Laufe der Zeit auch innerhalb von Gesellschaften. Für die Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe gilt eine bestimmte Begrüßungsform als völlig normal, als quasi natürlich, als nicht infrage gestelltes Verhalten. Solange diese Menschen keine anderen Begrüßungspraktiken kennenlernen, haben sie davon so wenig Ahnung wie der Fisch vom Wasser – sie können sie schlicht nicht als etwas Besonderes wahrnehmen. Im Vergleich mit anderen Gruppen und im zeitlichen Vergleich erst erweisen sich Begrüßungsrituale durchaus als sehr variabel. Wenn der Fisch feststellt, dass es andere Lebenswelten als das Wasser gibt, ist es um ihn fast schon geschehen, er wird schnell ersticken. Nehmen dagegen Menschen andere als die ihnen zunächst als natürlich gegeben erscheinenden Begrüßungsformen wahr, dann dürften sie in der Regel irritiert sein – so wie bei uns noch heute der Nasengruß der Maori Irritationen auslösen mag.

Begrüßungsrituale sind wichtiger Bestandteil der sozialen Beziehungen zwischen Menschen, sie sind nicht genetisch fixiert und angeboren, sondern werden sozial vererbt und durch Lernen erworben. Dies führt direkt zum Kern der Soziologie: Es geht um direkte soziale Beziehungen (siehe Kapitel 3) zwischen Menschen, um Alltagspraktiken und festgelegte Routinen des Umgangs der Menschen mit sich selbst, mit der Natur und mit anderen Menschen; es geht um soziale Verflechtungszusammenhänge5 und Gruppenstrukturen (siehe Kapitel 8), und es geht um gesellschaftliche Institutionen (siehe Kapitel 7) (wie z. B. Begrüßungsregeln)...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
ISBN-10 3-7799-8106-8 / 3779981068
ISBN-13 978-3-7799-8106-0 / 9783779981060
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