Frei sein (eBook)
240 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9652-3 (ISBN)
Die Anthologie zu einem umkämpften Recht
Wir alle wollen es sein: frei! Gut also, dass die Freiheit im Grundgesetz verankert ist. Nur: Wir meinen sehr unterschiedliche Sachen damit. Das gleiche Wort, inbrünstig gerufen aus unterschiedlichen Kehlen: von Abgeordneten sämtlicher Parteien, von Demonstrierenden jeglicher Gesinnung, von sehr vielen Menschen mit sehr unterschiedlichen Zielen. Haben wir die »Freiheit, frei zu sein« (Hannah Arendt)? Was bedeutet Freiheit für das Individuum wirklich? Und welche Rückschlüsse lassen sich daraus für die Gesellschaft ziehen? Die Autor:innen dieses Bandes begeben sich auf Spurensuche in ihrem eigenen Leben und gewähren überraschende Einblicke in zentrale Aspekte wie Konsum, Körper, Populismus, Arbeit, Klasse, Literatur und Liebe. Mit Texten von Deniz Utlu, ?eyda Kurt, Sven Pfizenmaier, Alexandra Stani?, Jayrôme C. Robinet, Franziska Gänsler, Ninia LaGrande, Marlene Engelhorn, Luna Al-Mousli, Anna Kim, Linus Giese, Sophia Süßmilch, Madita Oeming, Çi?dem Akyol, Elisabeth Wellershaus, Caroline Kraft, Franziska Hauser, Markus Liske, Barbara Blaha und Illustrationen von Nicolas Mahler »Entscheidend ist, welche Bedeutung ich der Freiheit zumesse und welche Vorstellung ich von ihr habe.« DENIZ UTLU »Freiheit ist: das bisschen letzte Hoffnung, dass es anders werden kann, dass es besser werden kann.« SOPHIA SÜSSMILCH »Wenn Geld Freiheit und Sicherheit bedeutet, darf es nicht verdienbar sein.« MARLENE ENGELHORN »Unfreie, die sich für frei halten, kämpfen nicht mehr.« MADITA OEMINGTanja Raich wurde 1986 in Meran (Italien) geboren und lebt in Wien. Sie arbeitet als Herausgeberin, Autorin und Programmleiterin für Kinderbuch und Literatur. Zuletzt erschienen ihre Romane 'Jesolo' und 'Schwerer als das Licht' sowie bei Kein & Aber die Anthologie 'Das Paradies ist weiblich'.
Elisabeth Wellershaus
BUNTES RAUSCHEN – FREIHEIT & MEER
Am Strand von La Carihuela ist an diesem Morgen kaum etwas los. Die Cafés, die sich die Costa del Sol entlang schlängeln, sind geschlossen. Anfang April trauen sich erst ein paar wenige ins Wasser. Fast bewegungslos liegt das Mittelmeer vor mir. Ich habe in diesem Meer schwimmen gelernt und mich unzählige Male am Salzwasser verschluckt. Ich habe mich tragen und von Wellen umspülen lassen und meinem Vater in den Sommerferien aus dem Wasser zugewinkt. Von Nordeuropa und Zentralafrika sind meine Eltern hergekommen, mein Vater blieb, meine Mutter kam und ging. Seit Jahrzehnten führen sie eine innige Ferienbeziehung, und so ist das Meer Teil unserer Familiengeschichte geworden.
Während meine Füße vom Wasser umspült werden, lasse ich mich von der schimmernden Oberfläche blenden und stelle mir vor, wie bewegt das Leben darunter wohl aussieht. Theoretisch könnten Delfine, Quallen oder verirrte Wale weiter draußen an mir vorüberziehen. Tintenfische, Zackenbarsche, Barrakudas, Thunfische oder Sardinenschwärme könnten meinen Weg kreuzen, sollte ich mich weiter ins Meer hineinwagen. Doch an der Oberfläche bleibt es still. An diesem Apriltag versteckt das wellenlose Meer seine Artenvielfalt – und gibt sich ungerührt von ökologischen, politischen oder historischen Verwerfungen. Ein verschwiegenes Blau verpasst dem Wasser den Anstrich von harmloser Ferienidylle. Überdeckt es mit einer vergilbten Seefahrerromantik, die mein Großvater – ein Hamburger Kapitän – mir vor langer Zeit vererbt hat.
Wenn ich an der Costa del Sol oder an anderen Küsten stehe, legen sich postkartenschöne Bilder gelegentlich wie schützende Decken über komplexe Realitäten. Sie legen sich über das Mittelmeer, das heute so vielen Zufluchtssuchenden zum Verhängnis wird. Über die Geschichten des Atlantiks, der von den Machtverhältnissen zwischen Europa, Afrika und den Amerikas erzählen kann. Über den riesigen Pazifik, der durch menschengemachte Klimaveränderungen kurz davorsteht, einige seiner schönsten Inseln zu verschlingen. Auch über problematische Handelsbeziehungen, die sich durch sämtliche Meere bewegen. Die undefinierbaren Freiheitsversprechen, die zu Großvaters Zeiten hinter Horizonten lockten, lösen sich nicht mehr ein. Dafür zeigt das Meer sich hinter blauen Urlaubsfolien längst in neuen Farben – diverser, brutaler, flexibler, bewegter.
Seit Studienzeiten begleiten mich die Texte des britischen Soziologen und Historikers Paul Gilroy, der den Atlantik in assoziatives Schwarz taucht. In den frühen 1990er-Jahren beschrieb er den Raum, in dem hybride diasporische Kulturen zwischen den Kontinenten entstanden, als Black Atlantic. Er umschrieb die Entwurzelungen, die während des Versklavungshandels stattfanden, wie das darauffolgende Ringen um Identität und Zugehörigkeit, aus dem neue Erfahrungs- und Gedankenwelten wuchsen. Transatlantische Verbindungen, die von entmenschlichender Grausamkeit berichten, aber auch von neuen Gemeinschaften und Zusammengehörigkeiten. Geschichten, die das Meer, das uns historisch verbindet, in ein hoffnungsvolles Schwarz tauchen.
Ende des 19. Jahrhunderts bestieg der US-amerikanische Soziologe und Historiker W. E. B. Du Bois ein Schiff, das nach Europa fuhr. Gilroy schreibt in einem Katalogtext über diese Reise: »Vierhundert Jahre nachdem Kolumbus den transatlantischen Menschenhandel eingeführt hatte, machte sich dieser kreolische Nachkomme von Sklaven und Sklavenhaltern auf, sein Harvardstudium der Philosophie und Geschichte […] in Berlin fortzusetzen.« Du Bois war aufgebrochen, um intellektuelle Spuren zu hinterlassen – auf einem Kontinent, dessen politisches und wirtschaftliches Handeln das Leben seiner Familie entscheidend geprägt hatte. Vielleicht hat er auf dem Weg nach Europa an der Reling gestanden, an die Schiffe gedacht, die seine Vorfahren in die USA brachten, und Verbitterung verspürt. Vielleicht hat er den Wellen gelauscht, die gegen die Schiffswand schlugen. Vielleicht hat er sich gefragt, wie das Meer die Erinnerungen an einstige Verbrechen bewahrt. Und vielleicht sind im selben Moment Wale oder Delfine vorbeigeschwommen.
Die Brutalität, die versklavte Menschen erlebten, als sie über dieses Meer transportiert wurden, liegt unter Schaumkronen begraben. Doch manche Meeressäugetiere haben sie beobachtet, schreibt die Schriftstellerin Alexis Pauline Gumbs. In ihrem Buch Unertrunken bringt sie die unsägliche Grausamkeit, die sich damals an Bord von Schiffen abgespielt hat, mit dem Leben unter Wasser in Verbindung – mit jenem Meer, das all die Körper aufnahm, die leblos über Bord gingen. Die Knochen dieser Körper wurden zum Sediment und Teil eines maritimen Ökosystems, das durch die Barten von atlantischen Grauwalen gefiltert wurde. Was für ein seltsamer Zufall, schreibt sie, dass diese Wale im Nordatlantik fast unmittelbar nach dem Ende der Middle Passage ausstarben.
Durch Denker:innen wie Paul Gilroy und Alexis Pauline Gumbs ist Schwarz eine der aufdringlichsten Farbassoziationen geworden, die ich mit dem Meer verbinde. Wobei die Farbe Rot mich ähnlich berührt. Als ich vor zwanzig Jahren eine Freundin auf dem Sinai besuchte, interessierte es mich noch nicht besonders, wie das Rote Meer zu seinem Namen kam. Heute weiß ich, dass es Blaualgen gibt, deren Blüten rötlich schimmern und eine Namenserklärung sein könnten. Oder ist das Meer doch nach den roten Felsen benannt, die an einigen Küstenteilen auftauchen? Waren es die altertümlichen Bezeichnungen für Himmelsrichtungen durch Farben? Biblische Bezüge zum Auszug Moses’ aus Ägypten, als das Meer zum Massengrab wurde? Oder spielt es am Ende keine Rolle mehr, weil aktuell jedem Meer blutrote Assoziation anhängen? Farben, die Fisch-, Wal- oder Beifang, Schleppnetzunfälle und Artensterben nachzeichnen. Tragödien, die sich in überladenen Schlauchbooten auf den Meeren abspielen, weil Menschen in ihren Heimatländern am Bleiben gehindert werden.
»Wenn du dich je wieder heimisch fühlen willst, vergiss die Liebe zum Meer, bevor du segelst, und halte deine Augen geschlossen, um keinen Groll zu spüren, gegen das Meer.« Diese Zeilen aus einem Brief von Abdalrahman Alqalaq gehen mir nicht aus dem Kopf. Was es Menschen abverlangen muss, die ihre Heimat auf unsicheren Wegen verlassen, um die Vergangenheit an einem neuen Ort zu verarbeiten und sich ein neues Leben aufzubauen. Das Trauma auf Abstand zu halten, wenn wieder einmal Bilder über Computer- oder Fernsehbildschirme flimmern, auf denen Blut im Sand versickert. Die Wucht des Meeres und die menschengemachte Gewalt mitanzusehen, die sich täglich über das Wasser transportiert. Die schäumende Gischt einer Welle, die brechen und ganze Häuser mit sich reißen kann. Plastikmüll, der noch in Jahrhunderten an den entfesselten globalen Konsum dieser Tage erinnern wird. Glänzende Ölfilme, die Vogelfedern verkleben. Verwundete Tiere und ertrunkene Menschen, die an Land gespült werden. Die Gewissheit, dass nicht jedes Boot von Schwimmerinnen wie Yusra und Sarah Mardini gerettet werden kann.
Wer 2023 von irgendeiner Küste aufs Meer blickt, wird kaum noch einen Ort der grenzenlosen Freiheit ausmachen. Erinnert die Sehnsucht nach dieser Freiheit nicht ohnehin nur an Zeiten, in denen europäische Entdecker:innen über Seewege den sogenannten Globalen Süden »erkundeten«? Klammert der Blick, mit dem ich an spanischen Stränden in Richtung Horizont schaue, sich nur noch an trügerische Nostalgien? Oder scheint in gegenwärtigen Meeren auch ein grüner Hoffnungsschimmer auf?
Aus den Augenwinkeln nehme ich ihn durchaus wahr. Vielleicht lässt sich Freiheit vor maritimer Kulisse dort umdefinieren, wo Menschen bereit sind, vom Meer zu lernen. Am Hafen von New York arbeitet derzeit eine US-amerikanische NGO daran, bis 2035 eine Milliarde Austern anzusiedeln – und die Zahlen danach stetig zu steigern. Es handelt sich dabei nicht um den Versuch, das Geschäft mit Meerestieren anzukurbeln, sondern um Bemühungen, die Biodiversität vor Ort zu erhöhen. Und es kommt noch besser: Angeblich dienen Austernriffe nicht nur einer Vielzahl an Spezies als Lebensraum, sie könnten bei entsprechender Anhäufung wohl auch so manchen Hurrikan abschwächen. Und sie sorgen dafür, dass enorme Mengen an Wasser pro Tag gesäubert werden – eine erwachsene Auster filtert knapp zweihundertfünfzig Liter am Tag. Ein regenerierter Austernbestand am New Yorker Hafen würde also auf mehreren Ebenen von den Verbindungen zwischen Mensch und Meeresbewohnerin erzählen.
Auch Alexis Pauline Gumbs entwirft in Unertrunken eine Verbindungslogik zwischen uns und ihnen. Dort, wo manche Biolog:innen in akademisch distanziertem Ton über »entfernte aquatische Cousinen« schreiben, plädiert sie für die Suche nach Gemeinsamkeiten. In lyrischer Genauigkeit erkundet sie die Familienverhältnisse von Flussdelfinen oder das Sozialverhalten Atlantischer Glattwale und zieht als Schwarze Feministin Lehren aus dem Verhalten unserer queeren, kämpferischen, verspielten, komplexen Verwandtschaft.
Auch mich verbindet eine ausgeprägte Zuneigung zu Walen und Delfinen, die ich mir nie ganz erklären konnte. Gumbs’ Worte versetzen dieses unerforschte Gefühl von Kinship in Schwingung. Und ist es jenseits anthropomorpher Gedankenspiele nicht auch längst an der Zeit, dass wir uns anderen Spezies annähern? Dass wir Abhängigkeiten und Gemeinsamkeiten erkunden und die Welt langsam, aber sicher doch noch als gemeinsamen Lebensraum akzeptieren lernen. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich mich jedem anderen Lebewesen so nahe fühle wie manchen...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alexandra Stanić • Anna Kim • Arbeit • Befreiung • Demokratie • Deniz Utlu • Familie • Feminismus • Franziska Gänsler • Freiheit • Freiheit in der Literatur • Freiheitsbegriff • Gender • Jayrôme C. Robinet • Klassengesellschaft • Konsum • Konsumfreiheit • Körper • Liebe • Linus Giese • Luna Al-Mousli • Madita Oeming • Marlene Engelhorn • Ninia Lagrande • Politische Philosophie • Pressefreiheit • Rechtspopulismus • Schreiben • Sex • Şeyda Kurt • Sven Pfizenmaier • Welt der Freiheit |
ISBN-10 | 3-0369-9652-4 / 3036996524 |
ISBN-13 | 978-3-0369-9652-3 / 9783036996523 |
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