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Betrunkenes Betragen (eBook)

Eine ethnologische Weltreise. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31299-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Betrunkenes Betragen -  Craig MacAndrew,  Robert B. Edgerton
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Singen, Tanzen, Reden, Rasen - und Karneval feiern? Die simple Erkenntnis lautet: Was wir tun, wenn wir Alkohol getrunken haben, ist alles eine Frage der Kultur. Aus eigener Erfahrung glauben wir zu wissen: Alkohol enthemmt. Schüchternheit, Vernunft, Anstand? Für ein paar Stunden vergessen! Das führt manchmal zu schönen Dingen wie einem ersten Kuss oder wilden Tanzflächen-stunts - und manchmal zu hässlichen, die vor Gericht landen und dort entschuldigt werden: It's the alcohol, stupid! Die amerikanischen Ethnologen MacAndrew und Edgerton zeigen unterhaltsam und überzeugend: Menschen auf der ganzen Welt betragen sich betrunken völlig unterschiedlich, und zwar je nach Tradition, Situation, historischen Umständen oder Vorbildern aggressiv oder friedlich, schweigsam oder redselig, sangeslustig oder gewalttätig, und sie sind dabei oft bemerkenswert fähig, selbst im Vollrausch noch zu unterscheiden, wen sie küssen oder schlagen - und wen nicht. Wir lesen erstaunliche, schöne und schreckliche Geschichten und erkennen verblüfft: Nicht der Alkohol ist verantwortlich für unser trunkenes Tun, wir haben es schlicht und einfach so gelernt. Lange nach der Veröffentlichung hat Jakob Hein diesen Wissensschatz wiederentdeckt und übersetzt, der unsere Auffassung von der »enthemmenden« Wirkung des Alkohols bis hin zum Konzept der »verminderten Schuldfähigkeit« radikal infrage stellt.

Craig MacAndrew, geboren 1928, lehrte Anthropologie an der University of California. Sein bahnbrechendes Buch Drunken Comportment. A Social Explanation, das er zusammen mit Robert B. Edgerton verfasste, erschien 1969 bei Aldine, Chicago.

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022. Craig MacAndrew, geboren 1928, lehrte Anthropologie an der University of California. Sein bahnbrechendes Buch Drunken Comportment. A Social Explanation, das er zusammen mit Robert B. Edgerton verfasste, erschien 1969 bei Aldine, Chicago. Robert B. Edgerton (1931-2016) lehrte Anthropologie an der University of California. Sein bahnbrechendes Buch Drunken Comportment. A Social Explanation, das er zusammen mit Craig MacAndrew verfasste, erschien 1969 bei Aldine, Chicago. Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

Vorwort des Übersetzers


(2024)

Warum um alles in der Welt sollte ein 50-jähriger Psychiater ein Fachbuch übersetzen, das älter ist als er selbst? Dazu möchte ich zunächst erzählen, wie dieses Buch und ich einander getroffen haben.

Medizinprofessoren (und auch die wenigen Professorinnen) müssen heute wirtschaftlich handeln und dies gegenüber ihren Universitäten transparent machen. Es ist genau festgelegt, wie viele Stunden Lehre sie erbringen, wieviel an Fördergeldern sie heranschaffen und wie viele Betten auf wie vielen Stationen sie möglichst voll belegen sollen.

Die aus meiner Sicht augenfälligste Lücke in diesem Erwartungshorizont ist dabei, dass keine Zeit für das Lesen oder gar das Schreiben von Büchern vorgesehen ist. Diese wundervollen (und ehemals als wichtig erachteten) Tätigkeiten können in der Freizeit erbracht werden, spielen aber in der Beurteilung von Qualität für Hochschullehrkräfte keine Rolle mehr. Umso glücklicher konnte ich mich schätzen, dass mein ehemaliger Chef des Lesens und Schreibens nicht nur kundig war, sondern dies auch gerne tat. Und doch wunderte ich mich, als mir Professor Heinz nach einem Treffen in seinem Büro plötzlich ein damals vierzig Jahre altes Buch in die Hand drückte: Drunken Comportment. Warum sollte ich mich mit vierzig Jahre alten Mutmaßungen über die Wirkung von Ethanol auseinandersetzen, wenn es schon kaum zu schaffen war, alle wichtigen wissenschaftlichen Artikel der letzten vier Jahre dazu zu lesen?

Wie Sie sehen, konnte ich meine Skepsis überwinden. Beim Lesen verstand ich immer besser, warum ich mich als Arzt, der sich mit Alkoholkrankheiten beschäftigt, nicht nur mit Veröffentlichungen zu Bildgebung und Neurotransmitterveränderungen bei Suchterkrankungen befassen, sondern auch dieses Werk studieren sollte. Die interessanten Erkenntnisse dieses Buches sind bis heute nicht Teil des allgemeinen oder auch nur des wissenschaftlichen Verständnisses der Wirkung von Alkohol auf unser Verhalten geworden. Und die 50 Jahre alten Fragen der Autoren an Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft haben kaum etwas von ihrer Aktualität eingebüßt. Wie verhalten sich Menschen eigentlich, wenn sie betrunken sind? Was an ihrem Verhalten ist zwangsläufig, gewissermaßen biologisch, und was davon unterliegt weiterhin ihrer Steuerung?

Durch Studien an Mensch und Tier kann gezeigt werden, dass der Konsum von Alkohol zu einer Schädigung des Gleichgewichtssinns, von Grob- und Feinmotorik führt. Aber es gibt bis heute keine medizinischen Beweise dafür, dass er die Hemmungen unserer Psyche löst und uns zu reinen Spielbällen unserer Triebe werden lässt. Die von den Ethnologen MacAndrew und Edgerton aus aller Welt und vielen Jahrhunderten zusammengetragenen Fakten scheinen eher das Gegenteil zu beweisen! Wenn aber ein verändertes Verhalten unter Alkoholeinfluss tatsächlich nicht biologisch determiniert ist, dann stellt sich die Frage nach seiner zweifelsohne besonderen Stellung in unserer Gesellschaft noch einmal neu. Denn es ist schon bemerkenswert, dass wir schwere gesundheitliche Folgen, starke negative gesellschaftliche Konsequenzen und massive Regelverletzungen bis hin zu einer erhöhten Rate von Straftaten in Kauf nehmen, ohne nennenswerte Anstrengungen gegen deren Ursache zu unternehmen. Der Konsum von Alkohol wird von Millionen von Menschen als Freifahrtschein für bestimmte Verhaltensweisen genutzt und dies wird trotz der unbestritten negativen Folgen weithin toleriert. Offensichtlich wird genau diese Funktion als kultureller Freifahrtschein von der Gesellschaft als zu wertvoll erachtet.

Insofern war und ist es mir ein Anliegen, erneut auf diese wichtige und weiterhin eigentlich revolutionäre Perspektive der Autoren hinzuweisen. Denn an der von MacAndrew und Edgerton in ihrer einleitenden Bestandsaufnahme dargestellten »herkömmlichen Auffassung« über die psychologische, »enthemmende« Wirkung von Alkohol hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert.

Nur das mit dem Übersetzen hatte ich mir nicht gut überlegt. Ich habe immer sehr viel Achtung für Übersetzerinnen und Übersetzer gehabt, ihre Arbeit ist ein schweres künstlerisches Handwerk, das zu wenig gewürdigt und im Allgemeinen zu schlecht bezahlt wird. Gleichzeitig dachte ich mir, dass ich als Psychiater und Schriftsteller ja wohl ein psychiatrisches Fachbuch aus dem Englischen in Deutsche übertragen können würde. Und irgendwie sind die vorliegenden Seiten ja auch der Beweis dafür, dass ich das kann.

Aber wie schwer es war! Rein fachlich ist es so, dass die Namen einiger der Kulturen, von denen die Autoren schreiben, im Deutschen völlig anders lauten. So würde man beispielsweise die Vico auf Deutsch im Wesentlichen den Quechua zurechnen – wie ich das zu lösen versuchte, dürfen Sie in Kapitel 2 lesen. Noch schwieriger war die Herausforderung, den Autoren im Geist gerecht zu werden. Sie schreiben häufig von tribes, chiefs und indians, wie es zu ihrer Zeit üblich war und als kultursensibel galt. Doch dem ist heute nicht mehr so, darum versucht der Text auf Deutsch den aktuelleren Gepflogenheiten zu entsprechen.

Die Geschwindigkeit sprachlicher Anpassung ist zwischen den verschiedenen Sprachen unterschiedlich. So ist der Begriff »Kreolen« für die meisten Deutschen nicht besonders problematisch, da sie nie wussten, was er bedeuten soll. Häufig sind im Deutschen damit große Ohrringe gemeint. In Südamerika sieht man diesen Begriff ganz anders. Andere Begrifflichkeiten wie die vom »Volk der Bantu« oder die Bezeichnung der Lovedu sind heute überholt, hier wurden die aktuell richtigen Begriffe verwendet. Wieder andere Worte klingen wunderschön, wie z.B. »Pazifizierung« (pacification). Doch wenn damit gemeint ist, dass Gesellschaften durch das mächtigere herrschende System und systematische Gewalt unterdrückt wurden, kann dieser Begriff aus heutiger Sicht und nach meiner Auffassung nicht einfach Eingang in einen Text finden. Rassismus und Kolonialismus haben unsere Sprache so tief durchdrungen, dass es wohl noch einige Generationen brauchen wird, bis sie dereinst hoffentlich verschwunden sind.

Und dann gab es Fälle wie die aus den Quellen von 1950 übernommene Stadt »Shionasu«, die es in Japan gar nicht gibt – mit großen Mühen und dem Studieren der Originalquelle konnte ich die Präfekturhauptstadt Okayama als einzig richtige Möglichkeit recherchieren. Doch Okayama hieß nie »Shionasu«, womöglich nannten nur die Bewohner und Bewohnerinnen der kleinen Insel selbst, von der der Autor der Studie berichtete, die Stadt so? Wie soll es der Übersetzer hier richtig machen? Über dieses und viele andere meiner Probleme wie die Frage nach der richtigen Übersetzung des Gegensatzpaares hard and soft sciences oder der veränderten Bezeichnungen der verschiedensten indigenen Völker Nordamerikas in den vergangenen 50 Jahren werden richtige Übersetzerinnen und Übersetzer sicher nur müde lächeln können, mich hat es einigen Aufwand gekostet.

Überdies gibt es ein Grundproblem des ganzen Unterfangens: Die Beobachtung indigener Völker durch Personen aus dem Westen fußt in aller Regel auf einem ethnozentrischen Weltbild. Wir beobachten die anderen Völker und notieren unsere Beobachtungen. Und leider ist »gut gemeint« manchmal der Anfang von schlimmen Dingen. Auch fragt man sich angesichts mancher Berichte westlicher Forscher (und einiger weniger Forscherinnen), ob diese in der Lage waren, das Geschehene aus der Sicht der beschriebenen Menschen zu beurteilen, oder ob sie westliche Reaktionsmuster von Menschen gewissermaßen einfordern, die nicht durch diese Muster geprägt sind. So bedeutet die Abwesenheit von lautem Weinen und Wehklagen keineswegs die Abwesenheit von Trauer und ein souveräner Umgang mit Kindersterblichkeit kann ebenso dem beklagenswerten Umstand geschuldet sein, dass diese in einer Gesellschaft viel höher ist, als wir das im Westen seit über hundert Jahren kennen. Zudem fragt man sich, wie stark eine Inselgesellschaft mit nur 250 Bewohnerinnen und Bewohnern allein durch das Eintreffen eines Teams mehrerer westlicher Wissenschaftler verändert wird. Wenn nur eine deutsche Person aus einer anderen Gegend in Deutschland in ein Dorf zieht, führt das zu Reaktionen der Dorfgemeinschaft – wie stark muss ein solcher Einfluss durch Menschen von einem anderen Kontinent erst auf eine seit Jahrhunderten vom Einfluss anderer isolierte Gesellschaft wirken?

Hinzu kommen noch solche Dinge wie der in den 1960er-Jahren in der westlichen Welt völlig übliche Sexismus. So schreiben die Autoren im Original regelmäßig von men, wenn sie Menschen meinen; nicht nur an dieser Stelle habe ich mich bemüht, den Text geschlechtergerecht zu übertragen. Aber es bleiben Fragezeichen. In manchen der beschriebenen Gesellschaften konsumieren Männer und Frauen alkoholische Getränke, in anderen trinken nur die Männer Alkohol, was gerade im Zusammenhang mit der Thematik dieses Buches ein hochinteressanter, untersuchenswerter Umstand wäre. Doch bedauerlicherweise bemerken die Autoren, die im vorliegenden Buch einen blinden Fleck der westlichen Wahrnehmung von Alkoholeffekten untersuchen, diesen blinden Fleck nicht. Das ist für mich ein Lehrbeispiel dafür, dass selbst bei wohlmeinenden, klar kultursensiblen Menschen ihrer Zeit einige Jahrzehnte später doch Lücken und Ungerechtigkeiten in ihrer Sichtweise wahrnehmbar werden – eine Erinnerung daran, dass wir heute die Fehler machen, über die sich die Menschen in spätestens fünfzig Jahren wundern werden.

Einerseits. Andererseits...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2024
Übersetzer Jakob Hein
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alkohol • Alkohol-Abstinenz • Alkoholismus • Anthropologie • Craig MacAndrew • Ethnologie • Jakob Hein • Kulturgeschichte • Rausch • Robert B. Edgerton
ISBN-10 3-462-31299-5 / 3462312995
ISBN-13 978-3-462-31299-7 / 9783462312997
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