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Die Kuh im Dorf lassen (eBook)

oder die Herausforderungen einer nachhaltigen Landwirtschaft in der Schweiz
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7535-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kuh im Dorf lassen -  Blaise Hofmann
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Während in der Stadt immer mehr Men­schen von einem Leben im Einklang mit der Natur träumen, ist der Bauer zuneh­mend in die Kritik geraten. Er vergifte die Erde, rufen die, die eine Gersten-­ nicht von einer Weizenähre unterscheiden können.Als Blaise Hofmann, Sohn und Enkel von Bauern, zurück aufs Dorf zieht, bekommt er den tiefen Graben zu spüren und macht sich auf, den Dialog zwischen Stadt und Land, wo man offenbar gar nicht mehr dieselbe Sprache spricht, wiederzubeleben. Er hört eingefleischten und veganen Bauern zu, trifft Bio­-Produzenten, lernt Micro-­Farming, Bak­terienpflege, Wurzelökologie kennen - und entdeckt eine Welt, die sich aller gän­gigen Vorstellungen zum Trotz, ständig neu erfindet.Auch wenn der kunstvoll aufgeschichtete Misthaufen von den meisten Höfen verschwun­den ist und man automatisierte Entmistungs­anlagen nutzt, vor allem aber Formular um Formular ausfüllt, um das Anrecht auf die Direktzahlungen geltend zu machen, sieht sich der Bauer immer noch in der Verant­wortung, die Bevölkerung zu ernähren und mit gesunden Produkten zu versorgen.In seinem Buch - Tagebuch, literarische Reportage und Pamphlet zugleich - unter­sucht Hofmann umfassend und faktenreich die Krise, in der Ackerbau und Viehzucht heute stecken, und verteidigt zugleich den Traum von einer hundertprozentig nachhal­tigen Landwirtschaft, die eine Herausforde­rung für die ganze Gesellschaft bedeutet.

Blaise Hofmann wurde 1978 in Morges im Kanton Waadt in eine Bauernfamilie geboren und ist einer der bekanntesten Schriftsteller der französischsprachigen Schweiz. Studium an der Universität Lausanne, das er für eine zweijährige Weltreise unterbrach. Seinen ersten Sommer als Schafhirte auf der Alp hielt er in Estive (2007) fest, ausgezeichnet mit dem Nicolas­Bouvier­-Preis. Heute unterrichtet der Autor von rund zehn weiteren Büchern am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und führt einen Weinberg am Genfersee.

Blaise Hofmann wurde 1978 in Morges im Kanton Waadt in eine Bauernfamilie geboren und ist einer der bekanntesten Schriftsteller der französischsprachigen Schweiz. Studium an der Universität Lausanne, das er für eine zweijährige Weltreise unterbrach. Seinen ersten Sommer als Schafhirte auf der Alp hielt er in Estive (2007) fest, ausgezeichnet mit dem Nicolas­Bouvier­-Preis. Heute unterrichtet der Autor von rund zehn weiteren Büchern am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und führt einen Weinberg am Genfersee.

Wenn aus Gras keine Milch mehr wird


Hätte man Großvater Hofmann zu Lebzeiten gesagt, dass der Haufen einmal verschwinden und dort ein Parkplatz entstehen würde, hätte er nur spöttisch gelächelt, was so viel bedeutete wie: Blödsinn.

 

Der Haufen thronte vor dem Bauernhof auf dem Betonsockel gegenüber des zweiflügeligen Tors zum Stall. Im Laufe des Winters konnte er bis zu zwei Meter hoch werden, Großvaters ganzer Stolz. Ein sauber aufgeschichteter, makelloser Misthaufen »nach Berner Art«.

 

Ich sehe sie noch alle vor mir, Onkel Hans, meinen Vater, den Lehrbub, Carlos oder Manuel, wie sie morgens und abends mit ihrer Schubkarre aus dem Stall kamen. Mit verkniffenen Zügen, hochkonzentriert, peilten sie die Rampe an, ein robustes, jedoch schmales Brett, und kippten oben die Karre aus, um das Gemisch aus Stroh und Kuhmist mit einer vierzackigen Gabel zu verteilen. Sie schichteten zuerst die Ecken schön auf, dann die Seiten, danach trampelten sie mit ihren hohen Gummistiefeln darauf herum, das verlangsamt den Gärungsprozess. Zwar setzt das Herumtrampeln nicht nur Luft, sondern auch Stickstoff frei, aber dafür können die Bakterien sich an die Arbeit machen und den wertvollen Humus produzieren; deswegen ist es in einem Misthaufen warm, deswegen dampft er auch im Winter.

 

Die Autos mussten vor der Kreuzung auf der Höhe des Misthaufens abbremsen, manchmal auch in seiner Nähe parken, wenn man in dem kleinen Lebensmittelladen der Genossenschaftsmolkerei von Villars-sous-Yens einkaufen wollte. Manche Leute hielten sich vor diesem dampfenden Kunstwerk, dessen Bedeutung ihnen entging, die Nase zu: eine Ode an den Graskreislauf, dank der Ausscheidungen unserer vor zehntausend Jahren domestizierten Wiederkäuer. Ein Kreislauf, der auch die Weizenfelder einschließt: die weiten gelben rechteckigen Flächen, die schön in der Landschaft liegen und Streu und Stroh liefern. Der gewonnene Mist kehrt mit seinen Nähr- und Wirkstoffen als Dünger, als geballte Lebenskraft und Energie in die Erde zurück und beschenkt uns mit gutem Gras, mit gelbem und grünem Weizen, mit Fleisch und Milch.

 

Die Kundschaft hatte nicht die Muße, ihn zu betrachten, zu bemerken, was hier so kunstvoll und zu welchem Zweck überhaupt aufgeschichtet war, und dem Bauern zu gratulieren, der sich im Gegensatz zu den Passanten manchmal auf die Holzbank neben der Stalltür setzte, die getane Arbeit zu bewundern, weil er wusste, dass ein guter Misthaufen das beste Mittel ist, um einen müden Boden zu kräftigen, eine ausgetrocknete, widerständige Erde zu beleben.

 

Auf dem Land wurde die Mitgift nach der Größe des Misthaufens des elterlichen Hauses bestimmt.

 

Die Jauche war das schwarze Gold der Ställe.

 

Der Mist, die Hefe des Bodens.

 

Als mein Vater im elterlichen Betrieb auf dem Belpberg im Berner Mittelland seinen Beruf erlernte, um später in die Westschweiz zu ziehen, hatten die Bauern nie mehr Vieh, als ihre Felder und Weiden versorgen konnten. Man importierte kein Futter, verwendete keine künstlichen Düngemittel. Man tat, was zu tun war, und niemand sprach von Nachhaltigkeit, ökologischer Verantwortung, Harmonie zwischen Mensch, Tier und Natur. Man tat es einfach. Man wusste nicht, dass ein Kubikmeter Mist fünf Kilogramm Stickstoff, fünf Kilogramm Phosphorsäure und sechs Kilogramm Kalium enthält. Man tat es, weil es funktionierte und weil man es immer so getan hatte.

 

Auch mein Vater war bestimmt stolz auf seinen Misthaufen, gab es doch im ganzen Dorf keinen, der sorgfältiger aufgeschichtet gewesen wäre; ganz besonders stolz sieht Vater auf dem Dorffest von Villars-sous-Yens an diesem ersten Juli-Wochenende 1983 aus (ich war damals fünf): Auf einem Foto, das meine Mutter in einem Album gefunden hat, ist mitten in der festlich gekleideten Menge die blau uniformierte Blaskapelle von Yens zu sehen, man erkennt auch meinen in Sonntagskluft und Gummistiefeln steckenden Vater, der zusammen mit seinem Angestellten auf ebendiesem Misthaufen eine Stabpuppe installiert, einen Greis in blauem Overall, mit einer Heugabel in der Hand: Das war Pipe, die Hauptfigur aus Les Petites fugues von Yves Yersin; der Film über den pensionierten Bauernknecht, der am Lenker seines Mofas noch einmal zum Leben erwacht, war in der Stadt wie auf dem Land ein Riesenerfolg gewesen.

 

Wäre der Misthaufen heute noch da, würde man allerdings anders vorgehen. Der Stall wäre mit einer automatisierten Entmistungsanlage inklusive Schwenkarm ausgerüstet. Vor allem aber würde man die Formulare der Bundesverwaltung ausfüllen, das Feld »Hofdünger« ankreuzen, eine Düngerbilanz erstellen, womit man die Kriterien des ökologischen Leistungsnachweises erfüllt und Anrecht hat auf die wertvollen Direktzahlungen, die den Bauern trotz sinkenden Milchpreises ihren Lebensunterhalt sichern.

 

2023 sagen sich die meisten Kunden im Lebensmittelladen: Umso besser, wenn der Misthaufen nicht mehr da ist, das macht weniger eingesperrte Tiere im Winter, weniger zwangsbesamte Kühe, weniger Kälber, die nach der Geburt gleich von der Mutterkuh getrennt werden, weniger Stiere, die man sechs Monate lang mästet und dann kaltblütig schlachtet, weniger überflüssiges Protein auf den Barbecues, weniger enthornte Kühe, Stockschläge, Maul- und Klauenseuche, weniger Rinderpest und BSE.

 

Am schlimmsten ist aber – Großvater, verzeih –, dass ich manchmal genauso denke wie die Kunden im Lebensmittelgeschäft. Ich habe es im Fernsehen gesehen: 40 % des treibhausgasintensiven Methans kommen von der Viehzucht. Ich habe es im Radio gehört: Gewisse wegen Misshandlung ihres Viehs sanktionierte Bauern erhalten weiterhin Bundessubventionen. Ich habe es in der Zeitung gelesen: In Brasilien wird Tierfutter produziert, um europäisches Vieh zu ernähren, dort wird abgeholzt, hier importiert, und die Ausscheidungen unserer Kühe gelangen nie auf die Felder zurück, von denen sie einst gekommen sind; der Düngungskreislauf ist unterbrochen, zu viel Nitrat und Stickstoff bei uns und zu wenig Dünger dort, also exportieren die europäischen Konzerne anorganischen Dünger nach Übersee, die Welt steht Kopf, und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.

 

 

 

Früher einmal – es ist gar nicht so lange her – wurde der Landwirt an seiner jährlichen Milchproduktion gemessen.

 

Nur wer Vieh im Stall hatte, durfte sich Bauer oder Bäuerin nennen.

 

Und die anhaltende Begeisterung für Alpabzüge, Älplerfeste und Ringkuhkämpfe spricht Bände. In der Schweiz ist die Anzahl Kühe pro Einwohner schon immer höher gewesen als anderswo auf der Welt. Die Kuh ist als geschnitzte Holzfigur oder in der Schokoladenwerbung nach wie vor angesagt. Die Kuh ist in unserer DNA, sie gehört zur Swissness.

 

»Der Schweizer melkt die Kuh und lebt ein friedliches Leben«, lautet ein Satz in Victor Hugos »Legende der Jahrhunderte«.

 

2018 stimmte die Schweizer Bevölkerung an der Urne darüber ab, ob die Kühe ihre Hörner behalten dürften. (Sie stimmte zu 55 % Nein.)

 

In Villars-sous-Yens wissen es wenige: Es gibt im Dorf heute keinen Milchproduzenten mehr. Wer ist schuld? Der Milchpreis sinkt seit dreißig Jahren unaufhörlich; er hat sich kürzlich stabilisiert, bleibt aber deutlich unter den Produktionskosten.

 

Als 2021 die letzten Milchkühe in einem Viehwagen abtransportiert wurden, hat dies niemanden sonderlich bewegt. Weder Fernsehen noch Radio oder Zeitungen haben darüber berichtet. Derlei Ereignisse sorgen nicht für Schlagzeilen. Es geht nicht um den neuen Standort einer 5G-Antenne, eine Schulhausverlegung oder die Schließung einer Poststelle. Doch das Dorf hat ein wenig seine Seele verloren.

 

Küffer besitzt schon lange kein Vieh mehr; Reymond mästet Kälber; Schmid, Guibert und Rezin halten Mutterkühe. Bevor die Milchsammelstelle der Molkerei geschlossen wurde, fuhr bei Martin, dem letzten Milchproduzenten, noch täglich ein Milchwagen vorbei. Seit 2021 beschränkt er sich auf Färsen und hält die Milchkühe fünfzehn Kilometer von seinem Hof entfernt, am Jurafuß, wo er für seine Milch immer noch einen angemessenen Preis bekommt und Gruyère-Käse mit Herkunftsgarantie produziert werden kann.

 

Die kleine Molkerei besteht zwar weiterhin, aber nur noch als gemeinschaftlicher Landmaschinenpark. Es gibt eine WhatsApp-Gruppe, um einen Güllewagen, eine Egge oder einen Viehanhänger zu reservieren; das Problem ist nur, dass Küffer immer noch kein Handy hat.

 

Zusammen mit der Auberge de la Croix Fédérale – das Wirtshaus hält sich knapp über Wasser –, der längst geschlossenen Poststelle und dem Schulhaus, wo Pilates, Yoga und Qigong angeboten werden, war die Molkerei einer der letzten Treffpunkte im Dorf: Die Milchbauern kamen dort gern auf einen Schwatz vorbei, besonders an Winterabenden. Mein Vater erinnert sich, wie die Informationen zirkulierten: »Martin brachte die Neuigkeiten aus dem Oberdorf. Heute grüßt man sich noch knapp mit der Hand durch die Windschutzscheibe. Vielleicht liegt ein Freund seit zwei Wochen im Krankenhaus, und niemand weiß es.«

 

Als ich klein war, gab es in unserer Straße noch drei weitere Bauernhöfe: Rezins und Küffers Höfe sind heute Mietshäuser, Guiberts...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Übersetzer Yves Raeber
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bauernhof • Biologische Landwirtschaft • Krise der Landwirtschaft • Landleben • Landwirtschaft • Moderne Landwirtschaft • Schweizer Bauer
ISBN-10 3-7152-7535-9 / 3715275359
ISBN-13 978-3-7152-7535-2 / 9783715275352
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