Wählermärkte (eBook)
231 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45654-6 (ISBN)
Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Regierungs-, Parteien- und die Wahlforschung. Einer breiten Öffentlichkeit ist Korte durch regelmäßige Auftritte und treffende Analysen im ZDF, Deutschlandfunk, WDR, SWR und bei Phoenix bekannt.
Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden die Regierungs-, Parteien- und die Wahlforschung. Einer breiten Öffentlichkeit ist Korte durch regelmäßige Auftritte und treffende Analysen im ZDF, Deutschlandfunk, WDR und bei Phoenix bekannt.
1.Marktbesuche: Bunte Auswahl
Der Markt ist kein Modellgeber der Demokratie. Märkte regeln nichts. Wenn überhaupt, dann gehört die soziale Marktwirtschaft zum konstitutiven Teil des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die für das Buch leitende Metapher des Marktes bezieht sich nicht generell auf den Markt, sondern auf den Wochenmarkt, wie man ihn aus vielen Städten und Dörfern unseres Gemeinwesens kennt. Solche Märkte haben durchaus Demokratiequalität. Dort wird nicht nur gekauft, sondern auch gesprochen. Der Markt ist in meinem Erklärmuster ein Forum der Begegnung und des Austauschs.1
Wo existieren – vergleichbar dicht – Vielfalt und Auswahl, die Begegnungen möglich machen? Aus dem Miteinander beim Handeln und Sprechen entsteht politische Macht. Sie ist eine Frage der Beziehung, stets relational. Demokratie ist organisierte Freiheit. Auf dem Markt leben wir organisierte und zufällige Praktiken der Einbeziehung des Anderen. Aus der Begegnung und der sozialen Energie entwickelt sich der Grundstoff von Gemeinschaftsbildungen. Nur die Differenz im Einzelnen kann Quelle sein für kollektive Identität im Ganzen, für Zugehörigkeiten. Und die ist erforderlich, wenn mit legitimierter Macht kollektive Mehrheitsentscheidungen zu treffen sind, die wiederum alle akzeptieren.
Die Orte der Begegnung
Im Lockdown der Coronazeit fehlten auch Marktstände. Die »Coronakratie« war eine Distanzdemokratie, ein politisches System ohne Begegnung. Das gefährdete unsere Freiheit. Es förderte Vereinsamung und Gereiztheit ebenso wie schlechte Laune. Die Öffentlichkeit war extrem fragmentiert. Vieles davon ist weiterhin wirkungsmächtig.
Orte der Begegnung, urbane Marktplätze, öffentliche Räume enthalten durch Zusammenkunft den Schlüssel unseres Zusammenlebens. Ortsmomente entstehen dort durch wechselseitige Zumutungen, durch lebhafte und kontroverse Diskurse, durch lebendigen Vokabelüberschuss, durch verbindliche Vereinbarungen. Marktplätze sind Ausdruck einer Bewegungsdemokratie. Sie enthalten ein Versprechen. Hier existieren Räume der Überschneidung, wo sich sehr unterschiedliche Bürger2 absichtsvoll oder beiläufig austauschen können – ein sozialer Raum als Demokratieerlebnis. Idealerweise befriedigt eine derartige öffentliche Infrastruktur auch paradoxe Bedürfnisse wie das Verlangen nach Nähe und Fernsucht zugleich. Es sind Orte des Verweilens ebenso wie des Vorbeilaufens.3
Märkte sind Orte für Gespräche. Und um sie soll es im vorliegenden Buch gehen. Denn sie sind der Grundstoff für Wählerbeziehungen. Durch sie entstehen Wählermärkte und Regierungen. Deshalb eignet sich der Wochenmarkt sowohl als Anschauungsort der Demokratie wie auch als Metapher für Beziehungsspiele und Resonanzräume.
Flanieren kommt auf dem Wochenmarkt vor. Doch meistens steuern die Besucher gezielt die Ware an, die man kaufen möchte. Man kennt den Stand und man kennt sich. Neben den Standard-Einkäufen bietet der Markt durch Buntheit, Enge und Vielfalt auch Chancen, neue Produkte einzukaufen. Neben Auswahldichte stehen der persönliche Kontakt, die Beratung und eine Chance auf gemeinschaftliche Erfahrungen. Natürlich sind das Vorstellungen eines idealen Marktes, leicht romantisch verklärt. Es gibt auch oft Tristesse, Fremdheit, Rivalität und asozial anmutende Praktiken des Marktgeschehens. Online-Shoppen ist zudem wetterunabhängiger und umfassender. Es gibt insofern auch eine offensive Marktvermeidung.
Die Marktteilnehmer beeinflussen durch Nachfragen das Angebot der Markttreiber. In der Kundendemokratie steuern durchaus auch Angebot und Nachfrage das politische Programm. Wahlen sind oft Ausdruck eines Tagesplebiszits. Gleichzeitig existiert aber auch eine Stammkundschaft, die sich durch Treue zu den Produkten und zum politischen Personal auszeichnet. Insofern passt die Metapher von Märkten gut, um einige wahlbedingte Interaktionsmuster zwischen den Bürgern und der Politik in unserer Demokratie zu erklären. Auf den Märkten versammeln sich Bürger in einem Kommunikationsraum um Waren. Kommunikation ist unverzichtbar, nicht nur beim Marktbesuch. Interpersonale Kommunikation löst etwas aus. Sie kann überredend daherkommen. Man weiß mittlerweile, dass von dieser Art der Gespräche politische Einstellungen, mithin auch Wahlentscheidungen abhängen. Es ist häufig nicht das, was man sieht, hört, liest, wischt, was die Einstellungen prägt, sondern eher das, was man aus dem Gesehenen, dem Gehörten, dem Gelesenen, dem Weggewischten der sozialen Medien in interpersonaler Kommunikation macht. Was man daraus macht, verfestigt Einstellungen. In der Wahlforschung nennt man das »interpersonale Anschlusskommunikation«4. Was aus den Gesprächen auf dem Markt wird, ist vielschichtig bedeutend. Es kann Wissen erweitern, Engagement fördern, moralisch aufladen, Bedeutungen und Relevanzen von Informationen zuordnen und darüber hinaus Wirklichkeiten formen. Kundenkommunikation ist dabei ebenso wichtig wie die Aufenthaltsqualität auf dem Markt generell. Denn nur so kommt es potenziell zum Gespräch miteinander und übereinander. Die Wirkungskraft dieser interpersonalen Kommunikation hängt vor allem mit der weniger zweckgerichteten Glaubwürdigkeit im vertrauten, persönlichen Umfeld zusammen.
Die Metapher des Wochenmarktes
Märkte können als eine Form der Kommunikation und Interaktion zwischen den Teilnehmern verstanden werden, bei denen Angebot und Nachfrage über den Preis eines Gutes oder einer Dienstleistung verhandelt werden. Auf Wählermärkten können politische Parteien und Wähler über politische Überzeugungen und Vorlieben kommunizieren und interagieren.5 Dies kann durch direkte Kommunikation, Meinungsumfragen, Abstimmungen oder Wahlen geschehen. Die Art und Weise, wie die politische Kommunikation stattfindet, kann das Verständnis und die Einschätzung der politischen Landschaft und der Wählermärkte beeinflussen. Bürger können in so einem Modell Konsumenten sein, müssen es aber nicht. Denn auch Wochenmärkten kann man problemlos seine Teilnahme verweigern, wie es millionenfach praktiziert wird, wenn man sie nicht aufsucht und online einkauft – oder einen Bogen darum macht. Nicht-Wähler agieren so. Kunden sind seit einigen Jahren grundsätzlich bereiter zum Wechseln der Produkte, die sie kaufen. Das kann auch an beiden Seiten des Verkaufsprozesses liegen, bei den Marktbeschickern ebenso wie bei den Käufern. Viele Kunden fühlen sich oft schlecht behandelt, werden übersehen, nicht ernstgenommen. Nicht-Wahl hat insofern viele Gründe. Das kann ursächlich mit Nicht-Verstehen und Nicht-Bemühen auf beiden Seiten des Verkaufstresens zusammenhängen.
Mein Bild des Marktes nutze ich zum besseren Verständnis und zur modellhaften Vereinfachung des komplexen Wahlvorgangs, der viele Einstellungs- und Verhaltensvariablen der Wählerschaft umfasst. Die Marktmetapher ist nicht neu und kann auch missverstanden werden. In ihren Demokratietheorien betrachten Joseph Schumpeter und Anthony Downs Demokratie als Markt.6 Auf diesem Markt werben politische Unternehmer um Wählerstimmen. Dort werden Wählerstimmen getauscht durch Unterstützung und Förderungen gegen Angebote der Politik. Dieses Modell ist umstritten, da es eine sehr eingeschränkte Sicht auf die politischen Prozesse und die komplexen Interaktionen in Gesellschaft und Wirtschaft bietet. So beschreibt das Modell dieses politisch-ökonomischen Ansatzes in der Politik und beim Wählen die Überlegung, dass ein freier Markt – ähnlich wie in der Wirtschaft – in politischen Entscheidungen zu einer optimalen Allokation von Ressourcen führt. Diese Überlegung stützt sich auf die Annahme, dass Individuen rational handeln und ihre Interessen auf dem Markt durch den Kauf, den Tausch und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen ausdrücken. In der Politik bedeutet dies, dass politische Entscheidungen auf dem Prinzip des Angebots und der Nachfrage basieren sollten und dass staatliche Eingriffe in den Markt nur dann gerechtfertigt sind, wenn ein externer Effekt oder ein Marktversagen vorliegt. Demokratie...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Systeme |
Schlagworte | AfD • Ampel • Ampel-Koalition • Ampel-Regierung • Annalena Baerbock • Berliner Republik • BSW • Bundesregierung • Bundesrepublik Deutschland • Bundestagswahl • Bündnis Sahra Wagenknecht • CDU • Christian Lindner • CSU • Demokratie • Entscheiden • FDP • Grüne • Kanzlerdemokratie • Koalitionen • Landtagswahlen • Linkspartei • Olaf Scholz • Parteien • Parteienforschung • Politik • Politikwissenschaft • Politische Märkte • Regierung • Robert Habeck • SPD • Wahlen • Wahlentscheidung • Wahlforschung • Wahlverhalten |
ISBN-10 | 3-593-45654-0 / 3593456540 |
ISBN-13 | 978-3-593-45654-6 / 9783593456546 |
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