Der alte Westen und der neue Süden (eBook)
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3186-7 (ISBN)
Walter J. Lindner, geboren 1956 in München, studierter Jurist und ausgebildeter Musiker, war Botschaftsrat bei den Vereinten Nationen in New York, später Pressesprecher von Joschka Fischer und Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Sigmar Gabriel. Als Botschafter diente er Deutschland in Kenia, Somalia, Südafrika und Venezuela, bevor er sich 2019 mit dem Botschafterposten in Indien einen Lebenstraum erfüllte: Schon in den 1970er-Jahren hatte er das Land bereist, nun bildete es den Schlusspunkt seiner diplomatischen Karriere. Seit 2022 ist Lindner zurück in Deutschland und widmet sich mit Leidenschaft seinem zweiten Leben als Pianist, Komponist und Musikproduzent.
Walter J. Lindner, geboren 1956 in München, studierter Jurist und ausgebildeter Musiker, war Botschaftsrat bei den Vereinten Nationen in New York, später Pressesprecher von Joschka Fischer und Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Sigmar Gabriel. Als Botschafter diente er Deutschland in Kenia, Somalia, Südafrika und Venezuela, bevor er sich 2019 mit dem Botschafterposten in Indien einen Lebenstraum erfüllte: Schon in den 1970er-Jahren hatte er das Land bereist, nun bildete es den Schlusspunkt seiner diplomatischen Karriere. Seit 2022 ist Lindner zurück in Deutschland und widmet sich mit Leidenschaft seinem zweiten Leben als Pianist, Komponist und Musikproduzent.
Indien? Warum gerade Indien?
Die Stimme des Globalen Südens
Indien ist in. Das Land wird seit einiger Zeit umworben wie nie zuvor – als strategischer Partner, gigantischer Absatzmarkt, Fachkräftereservoir und IT-Hub. Der Subkontinent gilt als Innovationshochburg und unverzichtbarer Mitstreiter bei allen wichtigen globalen Themen, vom Umweltschutz über Lieferketten bis zur Pharmaproduktion. Und: Indien wird mehr und mehr zur Stimme des Globalen Südens. Aufgrund der schieren Größe des Landes, aber auch seiner wirtschaftlichen Kraft, seiner Innovationsfreude wird diese Stimme immer deutlicher hörbar im Konzert der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft. Der zuständige indische Minister erklärte selbstbewusst: »In einigen Jahren wird Indiens Wirtschaft größer sein als die von Deutschland.« Womit er übrigens bald recht behalten könnte.
Aber gerade Deutschland tut sich vielfach schwer mit dem neuen Giganten in Südasien, mit dem man doch – aus wirtschaftlichen wie geopolitischen Gründen – so gerne eine neue Partnerschaft begründen möchte. Deutschland braucht Indien – eigentlich. Doch der indische Partner bleibt der deutschen Politik ein Rätsel: Warum nur weigert sich Premier Modi so hartnäckig, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu verurteilen? Was bedeutet das Erstarken des Hindu-Nationalismus im Land? Ist die »größte Demokratie der Welt« gar auf dem Weg zu einer Scheindemokratie?
Als Botschafter stand ich – nicht nur in Indien – viele Jahre zwischen den Fronten. Das Fremdeln der deutschen Seite gerade im Hinblick auf Indien lässt sich durchaus nachvollziehen: Kein Land der Erde vereint so viele Extreme. Viele Realitäten bestehen gleichzeitig und nebeneinander. Mehr als nur ein Klischee ist, dass in Indien zur selben Zeit mehrere Länder in mehreren Jahrhunderten existieren. Hier die Nation, die Raketen auf den Mond schickt, Lenkräder für fahrerlose Autos von übermorgen entwirft oder Artificial-Intelligence-Ingenieure in alle führenden Labore der Welt entsendet. Dort das Indien, das auf dem Land Ernten mit Ochsenkarren einfährt oder Trinkwasser aus kilometerweit entfernten Brunnen schöpft. Wer Reichtum und Opulenz sucht, der findet beides: im Bollywood der Reichen, angesichts der Ferraris auf den Boulevards von Mumbai, aber auch in den Einkaufszentren der wachsenden Mittelschicht. Dann aber eben auch das Indien der Armut und des Gestern: Millionen Menschen schlafen auf der Straße oder unter Brücken, in den großen Megastädten finden sich dicht bevölkerte Slums und überlastete Infrastruktur.
Doch haben mich Besucher aus Deutschland oft genug auch selbst verblüfft – wie wenig waren sie bereit, ihren mitgebrachten Kokon zu verlassen und die Fremde und das Neue zu entdecken. Ich werde hier keine Namen nennen, es geht mir auch nicht um konkrete Personen, sondern vielmehr um eine Haltung, die ich immer wieder beobachten konnte. Ich denke da beispielsweise an einen Abgeordneten, den seine Ausschusstätigkeit im Bundestag nach Nairobi führte. Wie in solchen Fällen üblich, holte ich, damals deutscher Botschafter in Kenia, den Mann vom Flughafen ab – doch schon auf der Fahrt zur Botschaft zeigte sich, dass er zwar ans andere Ende der Welt gereist, gedanklich aber in seinem Abgeordnetenbüro stecken geblieben war: Pausenlos redete er über Wählerstimmen, über die Schwierigkeiten mit einem Parteikollegen und eine Finanzierungslücke, die er gerade in seinem Projektplan entdeckt hatte. Sobald ich von »da draußen« – der Stadt, ihren Menschen und der Kultur – erzählte, verstummte er unwillig. Welche Einsichten sollten sich ihm auch ausgerechnet hier vermitteln? Was konnten ihm die Kenianer bieten, was er nicht ohnehin schon wusste? Und was half ihm ein Besuch in Ostafrika, wenn er doch bei seinen Wählern zu Hause punkten wollte? Schade – und kein Einzelfall. Solche Begegnungen sind verpasste Chancen. Noch immer ist der Globale Süden nicht wirklich auf dem Radar vieler deutscher Politiker.
Und da rede ich noch gar nicht vom belehrenden Zeigefinger, der manches Mal die ungünstige Alternative zum Desinteresse ist. Selbstverständlich soll man über Menschenrechte sprechen und muss Missstände wie Korruption, Armut, Ausgrenzung und Gewalt kritisieren. Doch oft genug erfolgt der zweite Schritt vor dem ersten; nicht immer ist den Sprechenden klar, dass sie auf dem Boden einer kolonialen Vergangenheit stehen, deren Folgen bis heute nachwirken. Da ist es nicht besonders geschickt, ausgerechnet als Europäer und damit Erbe des Kolonialismus die Menschen dort sofort zu belehren, wie sie sich organisieren sollen. Es gilt zunächst Vertrauen zu schaffen, die Kultur und Geschichte des anderen zu verstehen. Selbstgewisse Besserwisserei hingegen trifft auf verstopfte Ohren – und das in allen Ländern des Globalen Südens.
Eine Diplomatie, die den Menschen dient, muss die diplomatischen Enklaven und selbstvergewissernden Zirkel der Exzellenzen verlassen, muss sich umsehen, Puls und Vielseitigkeit des Gastlandes erkunden. Es geht um Empathie, Neugier und Interesse. Auch um Demut.
Ich habe mich entschieden, über mein Sehnsuchtsland Indien zu schreiben, das ich als Backpacker-Traveller in den 1970er-Jahren das erste Mal bereiste und dessen Faszination ich bis heute spüre. Den letzten Ausschlag gaben meine indischen Freunde, die mir nach über drei Jahren als Botschafter in ihrem Land eindringlich an Herz legten, meine Erfahrungen aufzuschreiben – nicht nur als womöglich hilfreiche Lektüre für das deutsche Lesepublikum, sondern auch, weil sie sich bewusst sind, dass der Blick von außen oft mehr Erkenntnis bringt als das fortwährende Schmoren im eigenen Saft.
Dieses Buch handelt hauptsächlich von Indien, doch vieles gilt ähnlich auch für Kenia, Somalia, Südafrika oder Venezuela – Länder außerhalb des westlichen Kosmos, in denen ich als Grenzgänger zwischen den Welten den Wert einer Diplomatie des Zuhörens immer wieder neu erfahren konnte. Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsame Welt eine bessere wird, wenn wir uns im Westen der blinden Stellen im Umgang mit den Ländern des Globalen Südens bewusst werden. Und dass wir einiges gerade von diesen Ländern lernen können – so wie sie vielleicht auch von uns.
1977: Als Backpacker in Indien
Wie sehr habe ich mir den Moment herbeigewünscht, endlich in Indien zu sein, den Ursprungsort all der abgeklärten Musiker wie Ravi Shankar zu sehen, die Lebenswahrheiten eines Siddhartha und seine Gespräche mit dem Fährmann nachzuerleben, an Weisheiten unzähliger Gurus und Sadhus teilzuhaben, die Aura von Meditation und Transzendentalem zu spüren, kurzum: den tieferen Sinn des Lebens zu ergründen. Wir schreiben 1977. Ich wähne mich am Ziel. Dabei stehe ich erst am Anfang. Nach den Jahren der Vorbereitung meiner ohne Frage lebensverändernden Reise ist in mir ein idealisiertes Bild von dem gewachsen, was mich erwartet. Ohne Instagram- und Facebook-Shots, ohne TV-Korrespondenten vor Ort, ohne Reisebüros, die man vorher hätte befragen können, sind meinen Vorstellungen nur wenige Grenzen gesetzt. Mit Hesses Buch in der Tasche erwarte ich beinahe unter jedem Banyan-Baum einen meditierenden Inder und vermute Govinda, Ganesha oder Sarasvati hinter jeder Straßenecke. Dazu Sitarklänge und den Duft von Lotus-Räucherstäbchen. Jedenfalls insgeheim.
Der Realitäts-Check ist ernüchternd, der gewaltige Kulturschock hält mehrere Wochen an. Es beginnt mit der Zugfahrt. Zweite Klasse »turist« in der Regionalbahn von Amritsar nach Delhi, Fensterplatz, dritter Waggon. Es gibt weder Sitzplatznummern noch Sitzplätze überhaupt. Keine funktionierenden Toiletten. Keinerlei Lüftung. Die Menschen sitzen, stehen, liegen, auch in den Gepäcknetzen. An Haltestellen – gefühlt alle 15 Minuten – steigen immer mehr Menschen in den ohnehin schon völlig überfüllten Zug ein. Die Gänge und Türen sind bereits unpassierbar, also wird durch die offenen Fenster ein- und ausgestiegen. Viele ersparen sich das mühsame Herausklettern an Haltestellen zur Suche nach einer Toilette und lassen im Abteil der Natur ihren freien Lauf. Zerkaute Betelnüsse landen auf meinen Schuhen oder dem Hemd. Schweiß fließt, ich verstehe kein Wort. Auf freier Strecke wartet der Zug stundenlang, die Hitze und Enge sind nicht mehr auszuhalten. Lautsprecherdurchsagen gibt es nicht, ebenso wenig Zugangestellte. Nach drei endlosen Tagen erreichen wir Delhi. Es ist Anfang Juli 1977, der Monsun beginnt. Ich will nur noch duschen, schlafen, essen. Ich steuere das Backpackerviertel an, Paharganj, gleich hinter dem Hauptbahnhof gelegen. In meiner Erschöpfung nehme ich nur noch wahr, dass es sich um ein riesiges Rotlichtviertel handeln muss, mit jungen Mädchen, die hinter Gittern ausgestellt sind. Unzählige heruntergekommene Hostels, die ihren Namen kaum verdienen und über steile Holztreppen in wackeligen Gebäuden zu erreichen sind, reihen sich aneinander. Es ist heiß, stickig, dunkel, alles starrt vor Dreck. Meine Wahl fällt auf die nächstbeste Bleibe, das Gulzar Hostel. Dort falle ich auf die Matratze und schlafe ein. Ein Albtraum, nicht das ersehnte Land der Erleuchtung – das ist Indien für mich in den...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut • BRICS-Staaten • Demokratie • Frauenrechte • G20 • Gandhi • High-Tech • Hinduismus • Kaschmir-Konflikt • Kasten • Kolonialismus • Nationalismus • Rassismus • Rohstoffe • Schwellenländer • Weltbevölkerung • white supremacy |
ISBN-10 | 3-8437-3186-1 / 3843731861 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3186-7 / 9783843731867 |
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