Der Hundertjährige Krieg um Palästina (eBook)
384 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31122-0 (ISBN)
Rashid Khalidi, geboren 1948 in New York, studierte in Yale und Oxford und lehrte an mehreren Universitäten. Er ist Schriftsteller, US-amerikanisch-palästinensischer Historiker des Nahen Ostens, hält den Edward-Said-Lehrstuhl für Modern Arab Studies an der Columbia University in New York und ist Mitherausgeber des Journal of Palestine Studies. Seine Publikationen wurden in vielen prominenten Zeitschriften diskutiert, u. a. erhielt er den WOCMES Seville 2018 Award und den MESA Book Award.
Rashid Khalidi, geboren 1948 in New York, studierte in Yale und Oxford und lehrte an mehreren Universitäten. Er ist Schriftsteller, US-amerikanisch-palästinensischer Historiker des Nahen Ostens, hält den Edward-Said-Lehrstuhl für Modern Arab Studies an der Columbia University in New York und ist Mitherausgeber des Journal of Palestine Studies. Seine Publikationen wurden in vielen prominenten Zeitschriften diskutiert, u. a. erhielt er den WOCMES Seville 2018 Award und den MESA Book Award.
Vorwort
In den frühen 1990er-Jahren lebte ich immer wieder während mehrerer Monate in Jerusalem und forschte in den Privatbibliotheken einiger der ältesten Familien der Stadt, einschließlich meiner eigenen. Mit meiner Frau und unseren Kindern wohnte ich im Herzen der dicht bevölkerten, lärmigen Altstadt, in einer Wohnung, die einer religiösen Stiftung der Familie Khalidi gehörte. Vom Dach dieses Gebäudes aus hatten wir die zwei Meisterwerke der frühen islamischen Architektur vor Augen: Kaum dreihundert Meter vor uns ragte der goldglänzende Felsendom auf, der auf dem Haram asch-Scharif, dem »Tempelberg« lag. Dahinter war die kleinere silbergraue Kuppel der al-Aqsa-Moschee mit dem Ölberg im Hintergrund zu sehen.1 Und ringsum waren die Kirchen und Synagogen der Altstadt.
Das Hauptgebäude der Khalidi-Bibliothek befand sich in der Bab El-Silsilah-Straße. Mein Großvater, Hadsch Raghib al-Khalidi, hatte sie 1899 mit einem Vermächtnis seiner Mutter, Chadija al-Khalidi, gegründet.2 Diese Bibliothek beherbergt mehr als zwölfhundert Manuskripte, meist in arabischer Sprache (einige in Persisch und osmanischem Türkisch), von denen die ältesten aus dem frühen 11. Jahrhundert stammen.3 Mit etwa zweitausend arabischen Büchern aus dem 19. Jahrhundert und den Dokumenten des Familienarchivs ist diese Sammlung eine der umfangreichsten in ganz Palästina, die sich noch in den Händen ihrer ursprünglichen Besitzer befindet.4
Während meines Aufenthalts wurde das aus dem 13. Jahrhundert stammende Hauptgebäude der Bibliothek gerade restauriert. Die Bestände waren in großen Pappkartons in einem Gebäude aus der Mamelucken-Zeit zwischengelagert, das durch eine schmale Treppe mit unserer Wohnung verbunden war. Ich verbrachte insgesamt mehr als ein Jahr zwischen diesen Kisten und arbeitete mich durch staubige, wurmzerfressene Bücher, Dokumente und Briefe, die den früheren Generationen der Khalidis gehört hatten, unter ihnen auch meinem Ur-Ur-Großonkel, Yusuf Diya al-Din Pascha al-Khalidi.5 Durch seine Hinterlassenschaft entdeckte ich diesen welt gewandten Mann, der in Jerusalem, Malta, Istanbul und Wien eine umfassende Bildung erworben hatte, der sich intensiv mit vergleichender Religionswissenschaft beschäftigt hatte, insbesondere mit dem Judentum, und der zahlreiche Bücher in europäischen Sprachen zu weit gefächerten Themen besaß.
Yusuf Diya stand in der langen Reihe islamischer Gelehrten und Rechtsbeamten in Jerusalem. Sein Vater, Sayyid Mohammed Ali al-Khalidi, hatte fast ein halbes Jahrhundert lang als stellvertretender Richter und Sekretariatsleiter des Jerusalemer Scharia-Gerichts gedient. Doch schon in jungen Jahren wollte Yusuf Diya einen anderen Weg einschlagen. Nach Abschluss seiner traditionellen islamischen Ausbildung verließ er Palästina im Alter von achtzehn Jahren und brach nach Malta auf – ohne die Einwilligung seines Vaters, wie berichtet wird. Zwei Jahre blieb er an einer Schule der britischen Church Mission Society. Danach zog er weiter nach Istanbul an die Imperial School of Medicine und besuchte dort anschließend das Robert College, das protestantische Missionare aus den USA soeben gegründet hatten. Fünf Jahre studierte Yusuf Diya an dieser in der Region führenden Hochschule, die eine moderne Ausbildung nach westlichem Vorbild vermittelte, und lernte Englisch, Französisch, Deutsch und vieles mehr. Ein ungewöhnlicher Werdegang für den Sprössling einer Familie muslimischer Religionsgelehrter in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Yusuf Diya al-Din Pascha al-Khalidi
Nach dieser umfassenden Ausbildung bekleidete Yusuf Diya verschiedene Funktionen als Beamter des Osmanischen Reiches. Er war Übersetzer im Außenministerium, Konsul in der russischen Hafenstadt Poti am Schwarzen Meer, Bezirksgouverneur in Kurdistan, Libanon, Palästina und Syrien, sowie fast ein Jahrzehnt lang Bürgermeister von Jerusalem. Abstecher führten ihn nach Wien, wo er zeitweise an der kaiserlichen Universität lehrte. Als 1876 im Rahmen der neuen Verfassung des Osmanischen Reiches ein kurzlebiges Parlament gegründet wurde, war er Abgeordneter von Jerusalem und zog sich die Feindschaft von Sultan Abdul Hamid zu, weil er die Vorrechte des Parlaments gegenüber der Exekutive verfocht.6
Im Einklang mit der Familientradition und seiner islamischen wie auch westlichen Bildung wurde al-Khalidi ein angesehener Gelehrter. Die Khalidi-Bibliothek enthält seine umfangeiche Bibliothek in französischer, deutscher und englischer Sprache, sowie seine Korrespondenz mit Gelehrten in Europa und im Nahen Osten. Österreichische, französische und britische Zeitungen der Zeit zeugen davon, dass er regelmäßig die internationale Presse verfolgte. Es gibt Hinweise darauf, dass er sie über das österreichische Postamt in Istanbul bezog, das nicht der drakonischen osmanischen Zensur unterworfen war.7
Seine weit gespannte Lektüre, seine Erfahrungen in Wien und anderen europäischen Ländern sowie die Begegnungen mit christlichen Missionaren hatten ihm die Allgegenwart des westlichen Antisemitismus bewusst gemacht. Sein Wissen über die Ursprünge des Zionismus war beeindruckend, er wusste, dass der Zionismus als Antwort auf den virulenten Antisemitismus des christlichen Europa entstanden war. Zweifellos kannte er das 1896 erschienene Buch des Wiener Journalisten Theodor Herzl und wusste über die ersten beiden zionistischen Kongresse in Basel 1897 und 1898 Bescheid.8 Man kann zudem davon ausgehen, dass Yusuf Diya schon während seines Aufenthalts in Wien von Herzl gehört hatte. Die Debatten der verschiedenen zionistischen Strömungen waren ihm vertraut, einschließlich Herzls Forderung nach einem Staat für die Juden mit dem »souveränen Recht«, die Einwanderung zu kontrollieren. Als Bürgermeister von Jerusalem erlebte er zudem mit, wie die Ankunft der ersten europäischen jüdischen Siedler in den späten 1870er- und frühen 1880er-Jahren zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung führte.
Herzl, der anerkannte Führer der wachsenden, von ihm gegründeten Bewegung, bereiste ein einziges Mal Palästina, im Jahr 1898, gleichzeitig mit dem Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. Herzl hatte bereits begonnen, über einige der mit der Kolonisierung Palästinas verbundenen Fragen nachzudenken. 1895 schrieb er in sein Tagebuch: »Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expropriiren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen, mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.«9
Yusuf Diya war sich wohl mehr als die meisten seiner Landsleute in Palästina der Ambitionen der entstehenden zionistischen Bewegung bewusst. Er erkannte ihre Kraft, ihre Ressourcen und Anziehungskraft. Er war sich darüber im Klaren, dass die Ansprüche des Zionismus auf Palästina und das Ziel eines souveränen jüdischen Staates nicht mit den Rechten und dem Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung des Landes in Einklang zu bringen waren. Vermutlich aus diesen Gründen sandte Yusuf Diya am 1. März 1899 einen siebenseitigen Brief voller Weitblick an den französischen Oberrabbiner Zadoc Kahn mit der Bitte, das Schreiben an Herzl weiterzuleiten.
Im Brief drückte Yusuf Diya seine Bewunderung für Herzl aus, den er »als Menschen und als talentierten Schriftsteller wie auch als echten jüdischen Patrioten« schätzte. Er zeigte seinen Respekt für das Judentum und die Juden. »Für uns sind Sie Vettern« schrieb er, womit er sich auf den Patriarchen Abraham bezog, der von Juden und Muslimen als gemeinsamer Vorfahre verehrt wurde.10 Er zeigte Verständnis für die Beweggründe des Zionismus und beklagte die Verfolgung der Juden in Europa. Vor diesem Hintergrund, so schrieb er, sei der Zionismus im Prinzip »natürlich, schön und gerecht«. Und: »Wer denkt daran, den Juden das Recht auf Palästina zu bestreiten? Mein Gott, historisch gesehen ist es wohl Ihr Land!«
Dieser Satz wird manchmal isoliert vom Rest des Briefes zitiert, um Yusuf Diya als begeisterten Unterstützer des zionistischen Projekts in Palästina darzustellen. Der ehemalige Bürgermeister und Abgeordnete von Jerusalem warnte jedoch vor den Gefahren, die er als Folge eines souveränen jüdischen Staats in Palästina voraussah. Die zionistische Idee würde dort Zwietracht unter Christen, Muslimen und Juden säen. Sie würde die Stellung der Juden im Osmanischen Reich gefährden, die dort immer Sicherheit genossen hatten. Yusuf Diya erklärte nüchtern, dass bei allen Vorzügen des Zionismus die »brutale Gewalt der Umstände« berücksichtigt werden müsse. Vor allem, dass »Palästina jetzt integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches ist und – was...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2024 |
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Übersetzer | Lucien Leitess |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arabien • Asien • Gaza • Israel • Jerusalem • Naher Osten • Nahostkonflikt • Palästina • Westjordanland |
ISBN-10 | 3-293-31122-9 / 3293311229 |
ISBN-13 | 978-3-293-31122-0 / 9783293311220 |
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