Armut (eBook)
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01980-5 (ISBN)
Matthew Desmond, geboren 1979, ist Professor für Soziologie an der Universität Princeton. Selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen, hat Desmond später zu Forschungszwecken über Jahre hinweg von Armut betroffene Familien begleitet. Ihre Geschichten gingen ein in das Buch «Evicted», für das er 2017 den Pulitzer-Preis erhielt. Der lange erwartete Nachfolger «Armut», der ein noch größeres Bild zeichnet, stand auf Platz 1 der «New York Times»-Bestsellerliste, das Presseecho war enorm: «Dringlich und packend - eine moralische Kraft wie ein Schlag in den Magen.» (The New Yorker)
Matthew Desmond, geboren 1979, ist Professor für Soziologie an der Universität Princeton. Selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen, hat Desmond später zu Forschungszwecken über Jahre hinweg von Armut betroffene Familien begleitet. Ihre Geschichten gingen ein in das Buch «Evicted», für das er 2017 den Pulitzer-Preis erhielt. Der lange erwartete Nachfolger «Armut», der ein noch größeres Bild zeichnet, stand auf Platz 1 der «New York Times»-Bestsellerliste, das Presseecho war enorm: «Dringlich und packend – eine moralische Kraft wie ein Schlag in den Magen.» (The New Yorker)
Vorwort
Warum gibt es in den Vereinigten Staaten so viel Armut? Um mir diese Frage zu beantworten, habe ich dieses Buch geschrieben. Ich forsche und schreibe seit vielen Jahren über Armut, habe in armen Stadtteilen gelebt, viel Zeit mit Menschen verbracht, die in Armut leben, Statistiken und staatliche Berichte studiert, mit Aktivisten und Gewerkschaftern gesprochen, an der Entwicklung von Programmen mitgewirkt, mich in die Geschichte des Sozialstaats, der Stadtplanung und des Rassismus in den Vereinigten Staaten eingearbeitet und an zwei Universitäten Seminare über soziale Ungleichheit gehalten. Aber bei alledem habe ich mir immer gewünscht, dass es so etwas wie eine grundlegende Theorie gäbe, die erklärt, warum es in diesem reichen Land so viel Armut gibt.
Die Armut beschäftigte mich schon als Kind. Wir lebten ein paar Kilometer außerhalb der Kleinstadt Winslow in Arizona, an der Route 66, in einem Holzhaus. Der Herd in unserer Küche wurde mit Holz befeuert, und im steinigen Boden um das Haus herum wuchsen dornige Sträucher und Ölweiden. Wir waren hierhergezogen, weil mein Vater eine Stelle als Pastor der First Christian Church bekommen hatte. Sein spärliches Gehalt kam aus dem Klingelbeutel, und mein Vater zürnte des Öfteren, dass die Bahnarbeiter im Ort mehr verdienten als er. Er konnte Altgriechisch lesen, aber sie hatten eine Gewerkschaft.
Wir lernten, Dinge zu reparieren oder ohne sie auszukommen. Als ich mit meinem neuen Luftgewehr eine Fensterscheibe zerschoss, blieb sie kaputt. Aber zusammen mit einem Kumpel baute ich in mein erstes Auto einen Motor ein, den ich auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Als mein Vater seine Stelle verlor, nahm uns die Bank das Haus weg, doch wir lernten, auch ohne das Haus auszukommen. Ich gab meinem Vater die Schuld, aber ich fragte mich auch, ob das die Lösung war, die unser Land einer Familie zu bieten hatte, die in Not geriet.
Ich studierte an der Arizona State University und bewarb mich um jedes Stipendium, von dem ich hörte. Und ich arbeitete: als Kellner in einem Café oder als Telefonverkäufer, was es eben so gab. Über den Sommer arbeitete ich bei der Feuerwehr und bekämpfte Waldbrände in der Nähe meines Heimatortes. Während des Semesters verbrachte ich immer mehr Zeit mit den Obdachlosen rund um den Campus – nicht in der Essensausgabe oder der Kleiderkammer, sondern ich unterhielt mich mit ihnen. Das half mir, auf meine jugendliche Art zu verarbeiten, was ich um mich herum sah: Geld. Viel Geld. In Winslow hatten einige Familien mehr gehabt als andere, aber nicht so. Meine Kommilitonen fuhren BMWs und Mustang Cabrios. Während meines Studiums hatte ich lange Zeit gar kein Auto, und als ich mir schließlich eines zulegte, war es ein alter Ford Pick-up – der mit dem Motor vom Schrottplatz und mit einem Boden, der derart rostzerfressen war, dass ich beim Fahren sehen konnte, wie die Straße unter mir durchrauschte. Während meine Kommilitonen Sushi essen gingen, hortete ich in meinem Wohnheimzimmer Sardinen und Cracker. Die Stadtverwaltung von Tempe, wo sich der Campus der Arizona State University befindet, hat Hunderte Millionen Dollar ausgegeben, um mitten in der Wüste einen drei Kilometer langen künstlichen See anzulegen, eine riesige Pfütze, die pro Jahr zwei Drittel ihres Wassers durch Verdunstung verliert. Ein paar Hundert Meter weiter saßen die Bettler auf der Straße. Wie konnte es sein, dass es inmitten dieses Reichtums und dieser Verschwendung derart krasse Not gab?
Diese Frage trug ich auch in mein Studium, und ich belegte Seminare, von denen ich hoffte, dass sie mir helfen würden, mein Land und seine unverständliche und unverschämte Ungleichheit zu verstehen. Sie trieb mich auch während meiner Promotion an der University of Wisconsin um, wo ich mich mit der Immobilienkrise auseinandersetzte. Um dem Problem so nahe zu kommen wie möglich, zog ich nach Milwaukee und lebte auf einem Campingplatz und in einer Obdachlosenunterkunft. Ich schloss Freundschaft mit Familien, deren Haus zwangsversteigert worden war, und begleitete sie über Jahre hinweg – ich schlief bei ihnen auf dem Fußboden, sah ihre Kinder groß werden, lachte und diskutierte mit ihnen, und einige davon begleitete ich später auf den Friedhof.
In Milwaukee lernte ich alte Damen kennen, die in ungeheizten Wohnwägen lebten. Den Winter über mummelten sie sich in dicke Decken ein und beteten, dass der Heizstrahler nicht den Geist aufgab. Einmal sah ich eine Wohnung voller Kinder, nur Kinder, die an einem verregneten Frühlingstag auf die Straße gesetzt worden waren. Nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie beschlossen, in ihrem Haus zu bleiben, bis die Bank es räumen ließ. Seither bin ich vielen armen Menschen im ganzen Land begegnet, die um ihre Würde und ihre Rechte kämpfen oder ganz einfach ums nackte Überleben (was schwer genug sein kann): Pflegekräfte in New Jersey, die zu den erwerbstätigen Obdachlosen zählen, Mitarbeiter von Fast-Food-Ketten in Kalifornien, die für den Mindestlohn kämpfen, und illegale Migranten in Minneapolis, die gemeinsam bezahlbare Unterkünfte suchen und sich mithilfe von Google Translate mit ihren Nachbarn verständigen.
Das sind die Vereinigten Staaten: das reichste Land der Erde, aber mit mehr Armut als jede andere Demokratie. Wenn die Armen des Landes einen eigenen Staat gründen würden, dann hätte dieser mehr Einwohner als Australien oder Venezuela. Fast jeder Neunte – und jedes achte Kind – lebt in Armut. Mehr als 38 Millionen Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht decken, viele sind im Niemandsland zwischen Armut und finanzieller Sicherheit gefangen.[1] Mehr als eine Million Kinder im schulpflichtigen Alter sind obdachlos und leben in Motels, Autos, Obdachlosenunterkünften und leer stehenden Häusern. Viele Verurteilte stellen nach Haftantritt fest, dass sich ihr Gesundheitszustand verbessert, weil es ihnen in Freiheit (und Armut) noch schlechter ging als im Gefängnis. Mehr als zwei Millionen Amerikaner haben zu Hause kein fließendes Wasser und keine Toilette. In West Virginia trinken Menschen aus verschmutzten Flüssen, und Familien der Navajo fahren stundenlang mit dem Auto, um ihre Wasserfässer zu füllen. Die ärmsten Gemeinden werden von lange besiegt geglaubten tropischen Krankheitserregern wie dem Hakenwurm heimgesucht; schuld sind oft ungenügende Abwassersysteme, über die Kinder mit ungeklärten Abwässern in Kontakt kommen.[2]
Die jährliche Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten übertrifft die Chinas um 5,3 Billionen Dollar. Ihr Bruttoinlandsprodukt ist höher als das von Japan, Deutschland, Großbritannien, Indien, Frankreich und Italien – den dritt-, viert-, fünft-, sechst-, siebent- und achtreichsten Staaten der Welt – zusammengenommen. Der Bundesstaat Kalifornien erwirtschaftet mehr als ganz Kanada, und der Bundesstaat New York mehr als Südkorea.[3] Wenn dennoch so große Armut herrscht, dann liegt das also nicht daran, dass es den Vereinigten Staaten an Mitteln fehlt. Uns fehlt etwas anderes.
Bücher über Armut beschäftigen sich oft mit den Armen selbst. Das ist seit über hundert Jahren so. Im Jahr 1890 beschrieb Jacob Riis, «wie die andere Hälfte lebt», er dokumentierte die entsetzlichen Bedingungen der New Yorker Elendsviertel und fotografierte verdreckte Kinder, die auf der Straße schliefen. Ein Jahrzehnt später schilderte Jane Addams die Not der Einwanderer in Chicago – eine dreizehnjährige Russin, die sich das Leben nahm, weil sie ihre Schulden von drei Dollar nicht zurückzahlen konnte, oder die Mutter eines Neugeborenen, die so lange arbeiten musste, dass ihr die Muttermilch durch die Bluse troff. Die Berichte von James Agee und Walker Evans und die Fotos von Dorothea Lange aus der Weltwirtschaftskrise brannten eindringliche Bilder von schmutzigen und vertriebenen Kleinbauern in das kollektive Gedächtnis ein. 1962 veröffentlichte Michael Harrington sein Buch Das andere Amerika, um die «zig Millionen Menschen» zu zeigen, die «aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden und vergessen» waren. Zwei Jahre später besuchten Präsident Lyndon B. Johnson und seine Frau die Appalachen und setzten sich auf die grob zusammengezimmerte Veranda eines arbeitslosen Sägewerksarbeiters, umringt von Kindern in abgetragenen Kleidern.[4]
Diese Bücher sind wichtige Zeugnisse, die uns helfen zu verstehen, was Armut bedeutet. Wir brauchen sie. Trotzdem bieten sie keine Antwort auf die eigentliche Frage: Warum? Warum diese ganze Armut? Diese Frage verlangt eine andere Herangehensweise. Um die Ursachen der Armut zu verstehen, müssen wir über die Armen hinausblicken. Diejenigen von uns, die im Wohlstand leben, müssen den Blick auf sich selbst richten. Haben wir – die Abgesicherten, die Versicherten, die Behausten, die Studierten, die Behüteten, die Glückskinder – etwas mit diesem sinnlosen Leid zu tun? Das hier ist mein Versuch, diese Frage mit Blick auf dieses «wir» zu beantworten. Deshalb geht es in diesem Buch über Armut nicht nur um die Armen. Es geht vielmehr darum, wie die andere «andere Hälfte» lebt, und darum, wie einige Menschen kleingehalten werden, damit sich andere entfalten können.
Ausgehend von meiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema sowie einer breiten sozialwissenschaftlichen Forschung zeige ich, warum es in den Vereinigten Staaten so viel Armut gibt und was wir tun können, um mit ihr aufzuräumen. Die Abschaffung der Armut verlangt natürlich eine neue Politik und erneuerte soziale Bewegungen. Doch sie verlangt auch, dass jeder von uns zum...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2024 |
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Übersetzer | Jürgen Neubauer |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | American dream • Arm und Reich • Armut • armut in den usa • Barack Obama Leseliste 2023 • Barack Obama Reading List 2023 • Bücher aus den USA • Bücher Neuerscheinungen 2024 • by America deutsch • Deindustrialisierung • Donald Trump • evicted • Existenzsicherung • Existenzsorgen • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gesellschaft USA • Hillbilly Elegie • J.D. Vance • Kamala Harris • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Klassengesellschaft • Klassismus • Leben am Existenzminimum • Mindestlohn • Neoliberalismus • Politik • Politisches Sachbuch • Poverty • Präkariat • Soziale Ungleichheit • Sozialpolitik • US-Wahl 2024 • Vereinigte Staaten von Amerika • Vermögensverteilung • Wohlstandsgesellschaft |
ISBN-10 | 3-644-01980-0 / 3644019800 |
ISBN-13 | 978-3-644-01980-5 / 9783644019805 |
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