Alles ist gut, bis es das dann nicht mehr ist (eBook)
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3155-3 (ISBN)
Elke Naters, Jahrgang 1963, machte zunächst eine Schneiderlehre und studierte Kunst und Fotografie in Berlin, ehe sie mit ihrem Debütroman Königinnen (1998) einen großen Erfolg landete. Ihre Romane wurden in mehrere Sprechen übersetzt. Mit ihrem Partner Sven Lager hat sie Romane und Sachbücher geschrieben und auf drei verschiedenen Kontinenten ihre beiden Kinder großgezogen. Zuletzt lebten und schrieben sie in Berlin und haben Paare in ihrer »School of Love Berlin« beraten. Sven Lager ist Mitte April 2021 plötzlich verstorben, seitdem führt Elke Naters die Paarberatungen allein weiter.
Elke Naters, Jahrgang 1963, machte zunächst eine Schneiderlehre und studierte Kunst und Fotografie in Berlin, ehe sie mit ihrem Debütroman Königinnen (1998) einen großen Erfolg landete. Ihre Romane wurden in mehrere Sprechen übersetzt. Mit ihrem Partner Sven Lager hat sie Romane und Sachbücher geschrieben und auf drei verschiedenen Kontinenten ihre beiden Kinder großgezogen. Zuletzt lebten und schrieben sie in Berlin und haben Paare in ihrer »School of Love Berlin« beraten. Sven Lager ist Mitte April 2021 plötzlich verstorben, seitdem führt Elke Naters die Paarberatungen allein weiter.
»Hier ist Otto«, hast du gesagt, als du mich zum ersten Mal angerufen hast. Eine Woche nach unserem ersten Treffen, das eigentlich unser zweites war.
»Wer ist Otto?«, habe ich gefragt, und du hast gelacht. Ich weiß bis heute nicht, warum du dich mit Otto gemeldet hast, und du konntest es mir auch nicht erklären. Otto nannten dich nur deine Schwestern. Oottoo in dem schönen schwedischen Singsang, der das erste und das zweite O betont. Für alle anderen warst du Sven. Auch für mich und die Kinder. Nie habe ich dich Otto genannt, obwohl du dich so vorgestellt hast. Sven war dein zweiter Name, den du zu deinem ersten gemacht hast. Otto Sven Lager.
Du hast mit Otto immer das dicke Kind verbunden, das du nie warst. Du warst groß. Sehr groß und sehr stark. Schon als Kind. Du hast einen Jungen, der dir deine Schaufel wegnehmen wollte, mit einer einzigen Bewegung an das andere Ende des Sandkastens geschleudert. Darauf hat deine Mutter dir verboten, dich zu wehren. Sie hatte Angst, du könntest die anderen Kinder aus Versehen umbringen, mit deiner ungeheuren Kraft. Ein Herkuleskind.
Ich habe oft gedacht, vielleicht hatte der Krebs nur eine Chance, weil du zu nett warst und dich nicht gegen ihn wehren konntest. Weil du gar nicht wusstest, wie man das macht. Das hast du nie gelernt. Wir haben noch darüber gescherzt, als die Ärzte sagten, das seien die größten Lymphome, die sie je gesehen hätten. Und später, als sie sich im Rückenmark ausgebreitet hatten, sagten sie das wieder.
Mr. Larger nannten sie dich in Südafrika. Das warst du. Larger than life.
Ich bin auch groß. »Zu groß für eine Frau«, sagte die Einwiegerin bei Bernbacher Eiernudeln, wo ich einen Sommer lang Nudelpakete wog, und zeigte mit dem Finger auf mich. »Die findet nie einen Mann.«
Komisch, dass ich an die immer wieder dachte. Der hätte ich dich gerne vorgestellt. »Ha, siehst du! Den Mann hier habe ich gefunden.« Oder noch besser: »Er hat mich gefunden. Ich musste gar nichts dafür tun. Der ist nicht nur groß, sondern auch noch schön und lustig und der beste Mann der Welt!«
Du warst so lustig. Dein Humor hat uns oft erleichtert, wenn wir uns festgebissen hatten. Wenn es zu blöd und zu ernst wurde. Ich liebte es, wenn du Witze über mich gemacht hast. Wenn du mich nicht zu ernst genommen hast, wenn ich selbst zu ernst war.
Du hattest mich und meine Freundin, deren Auto du dir ausgeliehen hattest, ins Myśliwska eingeladen. Mich hast du eine Stunde früher bestellt. Aber ich kam eine halbe Stunde zu spät, obwohl ich die Pünktliche war. Später sollte ich an deiner Unpünktlichkeit verzweifeln und mich ihr schließlich anpassen. Aus Lager und Naters wurden die Laters, weil wir immer zu spät waren.
Du saßest in deiner Lederjacke mit dem Fellkragen am Tresen und hast eine Suppe gelöffelt. Ich hatte deinen Plan durchschaut und boykottiert. Warum eigentlich? Wahrscheinlich wollte ich dich dafür bestrafen, weil du in der Nacht, in der wir uns kennengelernt haben, deine Ex-Freundin nach Hause gefahren hast.
Du hast die Frau deines Lebens kennengelernt und hast sie einfach in der Bar zurückgelassen, um deine schlecht gelaunte Ex-Freundin nach Hause zu fahren. Du hattest nicht einmal meine Telefonnummer. Und ich dachte mir: Schade, wirklich schade, und hab nicht weiter an dich gedacht. Erst später habe ich verstanden, dass das die erste White Flag war. Du warst einfach über die Maßen loyal und anständig.
Du hast mir später gesagt, du wusstest: »Es ist getan! Die Frau ist gefunden.« Das beeindruckt mich immer noch. Diese Sicherheit, die du hattest, wenn du etwas wolltest. Keine Zweifel, dass dir jemand widerstehen könnte. Und ich dachte immer nur, der ist zu gut, um wahr zu sein.
Ein paar Tage später waren wir im Kumpelnest. Wir haben Wodka Lime getrunken. Du hattest den grünen Pullover an, unter dem sich deine schöne Brust abzeichnete. An dem Abend haben wir miteinander getanzt und uns zum ersten Mal geküsst. Das einzige Mal, dass wir zusammen tanzen konnten. Tanzen ging gar nicht. Du hast dich immer doppelt so schnell bewegt wie ich.
Ich wohnte damals alleine in einer Dreizimmerwohnung mit Kohleöfen und ohne fließend Warmwasser. Eigentlich war das Walters Wohnung, den du nie kennengelernt hast, weil er zwei Monate zuvor beim Kohlenschleppen an einem Herzinfarkt gestorben war. Walter war mein erster Toter.
Ich kam nach Hause, um ihn zum Einkaufen abzuholen, und fand ihn tot, mit einem weißen Tuch bedeckt, auf dem Treppenabsatz des dritten Stocks. Der junge Notarzt, der über eine Stunde versucht hatte, ihn wiederzubeleben, sah erschöpft und verzweifelt aus. Walter lag schon zu lange da, bis ihn jemand gerufen hatte.
Ich habe mir oft gedacht, die Leute aus dem zweiten oder dritten Stock müssen doch gehört haben, wie er mit den Kohlen auf den Stufen zusammengebrochen ist. Das muss doch einen Höllenkrach gemacht haben. Fünfundzwanzig Kilo Kohlen in jeder Hand und Walters achtundsiebzig Kilo dazu.
Walter war tot. Mit vierunddreißig Jahren im Treppenhaus gestorben. Erst neulich sprach ich mit Ulrich, seinem besten Freund darüber, und er sagte, dass Walter dieses Treppenhaus hasste und gesagt hätte, dass er dort bestimmt einmal sterben würde. Das wusste ich nicht. In meiner Erinnerung war das ein ganz normales Treppenhaus. Nicht einmal besonders heruntergekommen. Ich habe schon Scheußlichere gesehen. Aber wenn man jede Woche fünfzig Kilo in den vierten Stock schleppen muss, denkt man wahrscheinlich anders darüber.
Seitdem mir nach deinem Tod das Treppensteigen zu schaffen macht, entwickle ich auch eine immer größer werdende Abneigung gegen unser Treppenhaus mit den steilen Treppen und dem abgelaufenen Sisal. Jemand sagte, dass Umzugsleute diese Sisalteppiche hassen, weil sie das Treppensteigen so viel beschwerlicher machen. Der Sisal verstärkt die Schwerkraft. Bei jedem Schritt saugt er meinen Fuß fest und gibt ihn nur unter großem Kraftaufwand wieder frei.
Wahrscheinlich hatte Walter eine Vorahnung. Ob du auch diese Vorahnung hattest, als du mir versichert hast, dass du nicht sterben wirst? Bevor ich überhaupt an Tod dachte, hast du schon davon gesprochen und dann nie wieder, als er immer näher kam.
Der schöne Walter wurde abtransportiert, in eine Kühlhalle gebracht und aufgeschnitten, um die Todesursache herauszufinden. Er hatte eine Ausbuchtung der Aorta, in der sich ein Blutgerinnsel festgesetzt hatte.
Es kam mir gar nicht in den Sinn, das Laken aufzudecken und ihn anzusehen. Der Mensch, der Freund, war für immer unter diesem Todeslaken verschwunden. Ich hätte über diesen weißen Haufen steigen müssen, um in die Wohnung zu gelangen. Das habe ich nicht über mich gebracht. Stattdessen saß ich eine Weile weinend bei Peschkes im zweiten Stock in der Küche. Ein altes Berliner Ehepaar. Wir hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen, und jetzt teilten wir wortlos diesen intimen Moment.
Ich lief zurück zu dem Mann, bei dem ich die Nacht verbracht hatte, und bat ihn, über die Leiche zu steigen, in meine Wohnung zu gehen und mein Adressbuch zu holen, damit ich Walters Freunde von seinem Tod benachrichtigen konnte.
Das war 1993. Im Waschsalon auf der Wilmersdorfer Straße habe ich einmal einen Mann mit einem Mobiltelefon gesehen, das so groß war wie eine Schreibmaschine. Schon praktisch, habe ich damals gedacht, wenn man ein Telefon mitnehmen kann, aber das wird sich kaum durchsetzen, wer will schon so einen Klotz mit sich herumschleppen?
Der Mann tat, worum ich ihn bat, gab mir mein Notizbuch, und ich wohnte dann erst einmal bei ihm, weil ich nicht in der verlassenen Wohnung schlafen wollte. Das brachte uns näher, als mir lieb war, und ich fühlte mich ihm verpflichtet, weil er so gut zu mir war.
Als ich ein paar Tage später in die Wohnung kam, standen dort noch Walters Frühstücksteller und seine halb ausgetrunkene Kaffeetasse. An den schönen Körper, in den er so viel Mühe investiert hatte, musste ich oft denken. Walter ging ständig ins Fitnessstudio, während ich faul zu Hause rumlag. Er hat mit unendlicher Mühe sein Abitur nachgeholt,
jahrelang studiert und sich zuletzt mit einer wissenschaftlichen Arbeit herumgequält. Weniger als sein Tod entsetzte mich, dass all diese Mühe komplett umsonst war. Es nützte ihm jetzt alles nichts mehr. Der schöne Körper verrottete in einem Sarg unter der Erde. Was für eine maßlose Verschwendung.
Walter, der besessen von der Angst war, an Aids zu sterben, starb an einem Herzinfarkt. Gefühlt alle paar Wochen hockte er vor dem Telefon auf dem Boden (weil die Telefonschnur zu kurz war, mussten wir immer auf dem Boden sitzend telefonieren), den Hörer ans Ohr gepresst und wartete auf sein Todesurteil aka das Ergebnis des Aidstests. Negativ. Die Erleichterung, dem Tod wieder von der Schippe gesprungen zu sein. Die Angst war real in dieser Zeit. Aber vielleicht war diese übertriebene Angst nur eine Vorahnung seines frühen Todes. Vielleicht war es aber auch gar nicht der Tod, den er so fürchtete, sondern vielmehr den Verfall seines schönen Körpers. Er hatte mit vierunddreißig schon Angst vor dem Alter. Das ist ihm erspart geblieben. Walter bleibt in unserer Erinnerung für...
Erscheint lt. Verlag | 28.12.2023 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Biografie • Eheleben • Geschichte einer großen Liebe • Joan Didion • Liebe • Memoir • Neuanfang • Schicksalsschlag • Tod des Partners • Trauer • Trauerbewältigung • Verlust • Verlust des Partners |
ISBN-10 | 3-8437-3155-1 / 3843731551 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3155-3 / 9783843731553 |
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