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Soziologie unter Anwesenden (eBook)

Systemtheoretische Vorlesungen 1966-1970
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
660 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77714-5 (ISBN)

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Soziologie unter Anwesenden -  Niklas Luhmann
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Im Jahr 1966 fällt der Startschuß für eine einzigartige Karriere in der deutschsprachigen Soziologie: Niklas Luhmann wird an der Universität Münster nicht nur promoviert und habilitiert, sondern beginnt auch umstandslos mit der Präsentation seines Programms einer Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Systemen. In nur vier Jahren entwirft er in beeindruckender Souveränität die Grundlagen seines Forschungsprogramms der nächsten Jahrzehnte. Die ausführlichen Vorlesungsskripte, die Luhmann beim Verfertigen seiner Theoriegrundlagen und ihrer ersten Anwendung auf Politik und Recht zeigen, werden hier erstmals aus dem Nachlaß publiziert.



<p>Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation.</em> 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation</em> sowie <em>Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung</em> als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: <em>Die Gesellschaft der Gesellschaft</em>.</p>

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2. Soziologie als Aufklärung


Ein aufklärerischer Grundzug der Soziologie tritt an mehreren für das Fach zentralen Stellen besonders deutlich hervor. Ich erwähne nur zwei, die ich ausführlicher erörtern möchte: Erstens den Versuch, menschliches Handeln durch inkongruente Perspektiven zu erklären, und zweitens den Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.

2.1. Erklärung des Handelns durch inkongruente Perspektiven


Für alle Bemühungen der alteuropäischen »Praktischen Philosophie« war die Absicht bezeichnend gewesen, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Die Homogenität der Perspektiven des Denkenden und des Handelnden wurde wie die Gemeinsamkeit der Welt und der Vernunft als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Wissenschaft wurde als ratgebende Wissenschaft gesehen: Sie sollte dem Handelnden seine wahren Zwecke erläutern, sie sollte ihm die richtigen Mittel zeigen, und sie sollte ihm dazu verhelfen, die rechte Grundverfassung (Tugend) zu erlangen. Sie sollte das so erläutern, daß der Handelnde danach handeln konnte. Die Bindungen an die engen pragmatischen Auslegungen des Handlungshorizontes wurden als Merkmal ihres Gegenstandes erlebt. Davon – und nicht etwa von Werturteilen schlechthin – macht die Soziologie sich frei.

Zunächst geschieht dies dadurch, daß sie eine eigentümlich verfremdende Erkenntnistechnik aufnimmt und sich zu eigen macht, die im 19.Jahrhundert aufkommt. Der Sinn des Handelns wird nicht mehr durch Versenkung in sein Wesen, sein telos geklärt, sondern im Gegenteil durch Anlegung eines diskrepanten, unangemessenen, fremdartigen Maßstabes. Kenneth Burke hat dafür die treffende Formel »perspective by incongruity« geprägt.[4]  Beispiele dafür sind die Ableitung des Denkens aus nicht mitgemeinten öko12nomischen Lebensbedingungen bei Karl Marx oder als Sublimierung eines fundamentalen Sexualtriebs bei Sigmund Freud. Oder Friedrich Nietzsches Verwendung einer unheiligen Symbolik zur Darstellung religiöser Verzweiflung. Oder die Romanthemen in der französischen und russischen Literatur, in der die Ehe als Institution an der außerehelichen Liebe gemessen wird und das religiöse Motiv am Verbrechen. Oder denken Sie an Oswald Spenglers Vergleich historisch entfernter Kulturen als »gleichzeitig«. Henri Bergson und Hans Vaihinger erläutern Begriffe und Abstraktionen durch Beziehung auf den Zeitfluß und als Verdeckung von Widersprüchen. Auch die verfremdenden Kunstrichtungen des 20.Jahrhunderts können genannt werden.

All das hat Erfolg, nicht nur populären Erfolg, sondern Erkenntniserfolg, ohne daß es gelänge, diesen Erfolg erkenntnistheoretisch nachzukonstruieren. Die Aufklärung dient nicht mehr der Ausbreitung von Vernunft und Tugend. Sie nimmt einen entlarvenden, diskreditierenden, zerstörenden Zug an. Und die Soziologie schwimmt ein gutes Stück mit in diesem Strom, kriecht hinter die offiziellen Fassaden, untersucht anrüchige Motive und zweite Absichten, latente Funktionen. Bei diesem Geschäft der Entlarvung entdeckt sie, daß die soziale Determination des Handelns sehr viel weiter reicht, als man gemeinhin angenommen hatte. Eine soziale Determination sitzt schon in den Wahrnehmungen und den Bedürfnissen, in den Mythen, in den Selbstmordziffern und im Konsum, in der Sprache selbst und erst recht in den Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Moral. Durch so viel Determination verliert der gemeinte Sinn des Handelns sein kompaktes, undurchsichtiges und insofern wahrheitsfähiges Sein als etwas, das so ist und nicht anders. Durch so viel Aufklärung wird ein noch verborgenes Problem spürbar: die soziale Kontingenz der Welt. Alles könnte anders sein, anders gesehen werden, alles ist erlaubt.

Große Theorie ist jetzt nur noch möglich als Vorschlag zur Lösung dieses Problems – nicht als eine immer mehr entlarvende Aufklärung (die läuft von selbst), sondern als Durchblick auf die Grenzen der Aufklärung dieses neuen Stils, als Abklärung der Aufklärung. Ein symptomatischer Beleg dafür ist, daß die Soziologie genau hier, in der Suche nach einem Gegenhalt in der abrutschenden Aufklärung, ihren Weg als Fach von theoretischer Eigenständigkeit beginnt. Max Weber und Émile Durkheim lösen die 13Soziologie ab von ökonomischen, psychologischen, biologischen, universalhistorischen Ausgangsannahmen und begründen ihre Eigenständigkeit genau mit dem Gedanken, mit dem sie die entlarvende Aufklärung abbremsen.

Zunächst stehen für dieses Abfangen der Entlarvungsaufklärung nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: subjektive und objektive Reduktion. Max Weber hält am subjektiv gemeinten Sinn des Handelns als einzig sicher gegebenem Faktum fest und versucht, daraus Idealtypen zu bauen. Émile Durkheim verdeckt die soziale Kontingenz der Welt durch seine These von der objektiven Dinghaftigkeit sozialer Tatsachen. Beides ist unzulänglich, wie schon die unversöhnliche Gegenüberstellung verrät. Erst die bei Weber und Durkheim in Ansätzen vorgebildete Theorie des sozialen Systems scheint eine Synthese zu ermöglichen und damit, wie ich glaube, zugleich eine Abklärung der Aufklärung.

2.2. Von Faktortheorien zu Systemtheorien


Um ein Urteil über die Bedeutung des Systembegriffs für die soziologische Theoriebildung und zugleich für das Problem der Aufklärung zu gewinnen, ist es nützlich, sich einen Grundzug der Theorieentwicklung vom 19. zum 20.Jahrhundert klarzumachen. Er besteht in einem Übergang von Faktortheorien zu Systemtheorien.

Faktortheorien – das sind Versuche der Erklärung sozialer Gebilde durch bestimmte einzelne Ursachen. Zum Beispiel durch ökonomische Bedürfnisse und die Weisen ihrer Befriedigung, durch psychologische Triebe wie den Kampftrieb oder den Nachahmungstrieb, durch anthropologische Gegebenheiten, zum Beispiel die mangelhafte Ausrüstung des Menschen für den Existenzkampf, oder durch Rassendifferenzen, klimatische Verhältnisse, biologische Auslesevorgänge. All diese Versuche scheitern, sofern sie Ursachen exklusiv oder doch dominant setzen, an ihrem zu einfachen Erklärungsansatz. Systemtheorien haben im Vergleich dazu ein sehr viel größeres Potential für Komplexität. Sie begreifen soziale Gebilde jeder Art – Familien, Produktionsbetriebe, Geselligkeitsvereine, Staaten, Marktwirtschaften, Kirchen, Gesellschaften – als Handlungssysteme, die sich in einer übermäßig komplexen Umwelt erhalten und dabei eine Vielzahl von Problemen lösen müssen. Es 14geht bei der Systembildung mit anderen Worten darum, die unfaßliche Komplexität der Welt auf handlungsfähigen Sinn zu bringen, sie zu reduzieren.

Mit dem Übergehen von Faktortheorien zu Systemtheorien wird die soziologische Theorie von außersozialen Ursachenannahmen abgelöst, die Soziologie also als Fach selbständig. Und zugleich damit ändert sich ihr Aufklärungsstil. Die Faktortheorien hatten Entlarvungsaufklärung getrieben durch das Aufdecken nicht eingestehbarer, peinlicher Ursachen des Handelns. Sie hatten den Handelnden selbst damit diskreditiert. An die Stelle der »eigentlichen« Ursachen des Handelns tritt nun das Aufdecken sehr komplexer, systemfunktionaler Sinnbeziehungen, die dem Handelnden nicht bewußt waren, ja nicht bewußt werden konnten. Auch das ist eine Kritik des Handelns, aber sie zieht nicht beschämend einfache Grundmotive wie bloße Nachahmung, Libido oder wirtschaftliches Interesse ans Licht, sondern sie stellt das Handeln dar als eine allzu drastische, grobe Vereinfachung einer sehr viel komplizierteren sozialen Wirklichkeit. Die Handlungsorientierung wird damit nicht als kunstvolle Scheinwelt, als bloße Verschönerung unedler Motive...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Forschungsprogramm • Hegel-Preis der Stadt Stuttgart 1988 • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Nachlass • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Soziologie • STW 2418 • STW2418 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2418 • Systemtheorie
ISBN-10 3-518-77714-9 / 3518777149
ISBN-13 978-3-518-77714-5 / 9783518777145
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