Beklaute Frauen (eBook)
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-30996-1 (ISBN)
Muse, Sekretärin, Ehefrau - es gibt viele Bezeichnungen für Frauen, deren Einfluss aus der Geschichte radiert wurde. Für deren Leistungen Männer die Auszeichnungen und den Beifall bekamen: Wissenschaftlerinnen, deren Errungenschaften, im Gegensatz zu denen ihrer männlichen Kollegen, nicht anerkannt wurden. Autorinnen, die sich hinter männlichen Pseudonymen versteckten. Oder Künstlerinnen, die im Schatten ihrer Ehemänner in Vergessenheit geraten sind. Lebendig und unterhaltsam erzählt die Historikerin Leonie Schöler ihre Geschichten, sie zeigt, wer die Frauen sind, die unsere Gesellschaft bis heute wirklich vorangebracht haben. Und sie verdeutlicht, wie wichtig die Diskussion um Teilhabe und Sichtbarkeit ist. Dabei wird klar: Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.
Mit zahlreichen Abbildungen und Infokästen
Leonie Schöler, geboren 1993, ist Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Auf ihren beliebten TikTok- und Instagram-Kanälen (@heeyleonie) vermittelt sie spannendes Geschichtswissen und klärt ihre über 230.000 Follower*innen regelmäßig über die Vergangenheit und aktuelle politische Geschehnisse auf. Als Redakteurin und Filmemacherin mit Fokus auf Webvideos liefen ihre Recherchen bei diversen funk-Produktionen, unter anderem »Jäger und Sammler«, das »Y-Kollektiv« und »Auf Klo«. Im Sommer 2021 erschien ihre Dokumentation über das System Tönnies für ZDFinfo, im Januar 2022 ihre achtteilige Webvideoreihe zur Wannsee-Konferenz für das ZDF. Zudem moderierte Schöler ab November 2022 in ihrer Rolle als Historikerin das ZDFinfo-Format »Heureka« auf YouTube. Leonie Schöler lebt in Berlin. »Beklaute Frauen« ist ihr erstes Sachbuch.
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EINLEITUNG
Es waren einmal die Jäger und die Sammler. Die Männer waren die Jäger, die Frauen die Sammlerinnen. Zogen die Jäger aus, um gemeinsam auf die Pirsch zu gehen, suchten die Sammlerinnen nach essbaren Samen, Nüssen, Kräutern und Wurzeln. Saßen die Männer zusammen, um sich aus Steinen neue Waffen herzustellen, kochten die Frauen nahrhafte Eintöpfe und kümmerten sich um den Nachwuchs. So war alles klar geregelt – die Rollen, die die beiden Geschlechter in der Gemeinschaft ausfüllten, waren aufgrund ihrer Fähigkeiten und biologischen Unterschiede festgelegt. Als vor circa 2,2 Millionen Jahren die ersten Menschen auf Erden wandelten, waren sie in ihrer Entwicklung aus heutiger Sicht vielleicht primitiv – aber das mit der natürlichen Ordnung von Mann und Frau hatten sie bereits verstanden. Mann und Frau, Yin und Yang, Gegensätze ziehen sich an!
So oder so ähnlich lautet die Erzählung der ersten Menschen, wie ich sie in der Schule gelernt habe. Den meisten, die jetzt diese Sätze lesen, wurde es vermutlich nicht anders beigebracht! Ob in Büchern, Filmen oder auch im Museum: Die Geschichte der Jäger und Sammler wird bis heute stark über das Geschlecht erzählt. Bildliche Darstellungen zeigen die Männer der Steinzeit mit Speer und Axt in der Hand, wie sie laut brüllend hinter einem Bison herjagen, während die Frauen friedlich zusammensitzen und mit jeder verfügbaren Brust ein Neugeborenes stillen. »Na und?«, werden jetzt einige sagen, »das stimmt doch auch. Das alles wurde längst durch Ausgrabungen bestätigt!« Und in der Tat: Archäologische Funde belegen, dass diese binäre Geschlechterordnung offenbar seit Beginn der Menschheit existiert. Ein bisschen peinlich für all die Feminist*innen, die von der Gleichheit der Geschlechter faseln, und noch peinlicher für die, die von mehr als zwei natürlichen Geschlechtern ausgehen! Lehrt uns die Geschichte denn nicht alles, was wir über das Zusammenleben von Mann und Frau wissen müssen?
Nun, in der Theorie tut sie das. In der Praxis ist es allerdings etwas komplizierter – denn natürlich können wir unsere erlernten Vorbehalte und Denkmuster auch dann nur schwer ablegen, wenn wir in die Vergangenheit blicken. Bezogen auf das Geschlecht nennt sich das in der Wissenschaft Gender Bias, oder auch: geschlechtsbezogener Verzerrungseffekt. Der beschreibt, dass sich sexistische Vorurteile und Stereotype so sehr auf unser Denken auswirken, dass sie unsere Wahrnehmung der Welt verzerren. Als beispielsweise die Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts die biologischen Ursprünge des menschlichen Lebens erforschten, hatten sie ganz klare Vorstellungen von den Geschlechtern. So schrieb Charles Darwin 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen:
»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern.«[1]
Ganz ehrlich – wer glaubt nach dem Lesen dieser Aussage ernsthaft, dass Darwin zu neutralen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Frauen fähig gewesen wäre? Nun, die männlich dominierte Forschungswelt des 19. Jahrhunderts tat genau das. Die anderen Wissenschaftler hatten nämlich größtenteils exakt die gleichen Vorurteile wie Darwin und suchten in der Geschichte und Biologie des Menschen unermüdlich nach Beweisen für die Überlegenheit des Mannes. Als Ausgangspunkt für diese Annahme funktionierten die Jäger und Sammler ganz fantastisch: Die scheinbar klare Rollenverteilung diente als Argument, dass dies die natürliche Ordnung zwischen Mann und Frau sein müsse, die bereits in ihrer Biologie begründet sei. Erste archäologische Untersuchungen bestätigten diese Auffassung. In den Gräbern von Männern waren Jagdwaffen und Werkzeuge beigelegt, während Frauen Schmuck als Grabbeigabe erhielten. So grub man in den folgenden Jahrzehnten die Geschichte immer weiter um und buddelte ganz viele kleine und große Beweise aus für die eigene Vorstellung von der menschlichen Existenz. Ende!
Oje, bitte jetzt das Buch noch nicht wieder zuklappen. Das hier ist doch erst die Einleitung! Vielleicht sollten wir deshalb lieber mit einem Anfang beginnen statt einem Ende, oder? Also gut: Seit wenigen Jahren gibt es tatsächlich eine neue Perspektive auf unsere Vergangenheit. 2018 wurde in den peruanischen Anden das mit Waffen reich bestückte Grab eines Kriegers gefunden. Mithilfe modernster Technik wurden die circa 9000 Jahre alten Gebeine genealogisch analysiert, es wurde also ein DNA-Test gemacht – und etwas schier Unglaubliches bewiesen: Das Skelett war das einer Frau![2] Da musste ein Fehler passiert sein, oder? Lieber noch mal Knochenproben weiterer Funde in die Genanalyse schicken. Doch tatsächlich: 30 bis 50 Prozent der untersuchten Skelette, die man bisher auf Grundlage der Waffen und Werkzeuge im Grab als männlich identifiziert hatte, waren biologische Frauen.[3] Weitere weltweit durchgeführte Untersuchungen belegen, dass von den Grabbeigaben abgeleitete Aussagen über das Geschlecht in der Vergangenheit fehlerhaft waren.[4] Zuletzt haben Archäolog*innen einen Sensationsfund aus dem Jahr 2008 korrigiert: Damals war in der Nähe des südspanischen Valencia das Grab eines mächtigen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt worden. Er bekam den Namen »Ivory Man«, in Anlehnung an die prächtigen Grabbeigaben und Waffen aus Elfenbein, die sich deutlich von anderen Gräbern aus der Zeit unterschieden. Doch 2023 durchgeführte DNA-Tests ergaben, dass der Ivory Man eigentlich eine Ivory Lady war. Nicht nur das: Die Forschenden kamen in ihrer Studie auch zu dem Ergebnis, dass
»sie zu einer Zeit, in der kein Mann eine auch nur annähernd vergleichbare soziale Stellung einnahm, eine führende gesellschaftliche Persönlichkeit war. Nur andere Frauen, die kurze Zeit später in […] einem Teil desselben Gräberfeldes bestattet wurden, scheinen eine ähnlich hohe soziale Stellung gehabt zu haben.«[5]
Offenbar waren in dieser Region vor 5000 Jahren nur Frauen die Anführerinnen gewesen. Gab es etwa doch gar keine strenge Mann-Frau-Aufteilung unter unseren Vorfahren?
Nun, vielleicht machen wir an dieser Stelle einen kurzen Abstecher zurück ins Hier und Jetzt. In einer anthropologischen Studie von 2023 wurden weltweit 391 Gemeinschaften, die ihre Nahrung weiterhin über Jagen und Sammeln beschaffen, genauestens beobachtet. Die Daten ergaben, dass in 80 Prozent der untersuchten neuzeitlichen Jäger-und-Sammler-Kulturen Frauen an der Jagd beteiligt sind – und das überall auf der Welt.[6] Insgesamt sind die Geschlechterrollen in indigenen Kulturen deutlich weniger starr und nicht ausschließlich binär, also nur Mann und Frau entsprechend.[7] Dass Genderidentitäten in der Geschichte der Menschheit schon immer komplex waren, darauf deuten wiederum ebenfalls weltweit gefundene Gräber hin, in denen gemischte Beigaben enthalten waren. Die beteiligten Archäolog*innen kamen in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass diese Ausgrabungen unser westliches, binäres Geschlechterverständnis infrage stellen.[8]
Halten wir also fest: Lange Zeit gingen wir wie selbstverständlich davon aus, dass allein die Grabbeigaben auf das Geschlecht der bestatteten Person schließen lassen. Jedes Grab, das Waffen enthielt oder auf eine Führungsposition zu Lebzeiten hinwies, wurde über Jahrhunderte hinweg automatisch einem Mann zugeordnet. Die Forschungen, die dieses binäre und von sexistischen Vorurteilen geprägte Bild der menschlichen Existenz hinterfragen, haben hingegen gerade erst angefangen. Es stellt sich heraus, dass wir alle einen Gender Bias haben, der unsere Vorstellungen auch von Geschichte stark prägt – wie sehr, das werden wir uns im Laufe dieses Buches genauer ansehen.
Ich werde immer wieder gefragt, warum ich mich so für Geschichte interessiere. Ich antworte dann meistens damit, dass mich die Vergangenheit so fasziniert, weil sie unsere Gegenwart erklärt. Alles ist, wie es ist, weil alles so war, wie es war. Wenn wir ganz genau hinschauen, bietet uns die Geschichte viele Antworten auf heutige Fragen. Wir können beobachten, wie sich Konflikte und Debatten wiederholen. Wir können vergleichen, welche Lösungen wir Menschen in der Vergangenheit für Herausforderungen gefunden haben, und uns fragen, ob wir es heute genauso oder lieber anders machen sollten. Wir können warnen, wenn sich problematische Muster aus der Historie fortsetzen oder wiederholen. Gleichzeitig fühlt sich Geschichte für mich immer ein wenig an wie Detektivarbeit – es gibt noch so viele ungeklärte Fragen und fehlende Puzzleteile, die nur darauf warten, entdeckt und zusammengesetzt zu werden. Das ist nicht immer ganz einfach, denn Geschichte ist auch ein oft unterschätztes Mittel der Macht. Wer bestimmt mit, wie wir über die Geschichte denken, über wen wir etwas wissen, welche Perspektiven wir einnehmen, welchen Narrativen wir zuhören und wessen Stimmen ungehört bleiben? Die ersten Seiten dieser Einleitung deuten bereits an, dass man sich die Vergangenheit – ob bewusst oder unbewusst – auch immer so zurechtschustern kann, wie es einem selbst passt. Sich für komplexe Fragen der Gegenwart einfache Antworten aus der Geschichte zu konstruieren, um damit das eigene Weltbild zu bestätigen,...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-641-30996-4 / 3641309964 |
ISBN-13 | 978-3-641-30996-1 / 9783641309961 |
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