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Die Autistinnen (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28044-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Autistinnen - Clara Törnvall
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Clara Törnvalls Essay über Autismus bei Frauen ist ein eindringliches, persönliches Buch über die Gefahr von Fehldiagnosen bei Frauen in Medizin und Psychiatrie.
'Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und lähmende Müdigkeit.' Clara Törnvall wusste schon immer, dass etwas mit ihr nicht stimmt, doch erst mit 42 Jahren erhält sie die Diagnose. Sie ist Autistin? Sind das nicht eher sozial inkompatible Männer mit Inselbegabung? In 'Die Autistinnen' erkundet sie, warum es insbesondere bei Frauen oft zu Fehldiagnosen kommt und wer wirklich hinter der mythisch aufgeladenen Figur der Autistin steht. Dabei stößt sie unverhofft auf eigene Idole wie Beatrix Potter, Greta Thunberg und Virginia Woolf. Ein eindringlicher, überraschender und persönlicher Text, der unsere Auffassung von Normalität infrage stellt.

Clara Törnvall, geboren 1976 in Stockholm, ist Kulturjournalistin und Produzentin. Im Alter von 42 Jahren wird ihr hochfunktionaler Autismus diagnostiziert. Diese für eine erwachsene Frau ungewöhnliche und seltene Diagnose veranlasste sie dazu, Die Autistinnen, ihr erstes Buch, zu schreiben. Es erscheint in zwölf Sprachen.

Einleitung


»Es müßte, dachte ich, ein Ritual dafür geben, wenn man zum zweiten Mal geboren wird — geflickt, runderneuert und für die Welt zugelassen.«

Sylvia Plath, Die Glasglocke

»Wir können gleich bis auf Seite sieben vorblättern«, sagt der Psychologe.

Ich krame in den Unterlagen auf meinem Schoß. Ganz unten steht es: »Autismus ohne einhergehende intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung. Schweregrad 1

»Es gibt keinen Zweifel«, sagt der Psychologe freundlich. »Die Diagnose ist absolut eindeutig.«

Ich lese, dass ich alle sieben Kriterien für die ehemals als Asperger-Syndrom bezeichnete Diagnose erfülle. Und zwar locker, wie es scheint. Auf einer Skala, der zufolge man bereits mit siebenundsiebzig Punkten dazuzählt, habe ich einhundertvierundfünfzig erreicht. Ich bin stolz darauf, dass das Ergebnis so klar ausfällt.

Das Gutachten, das wir nun zusammen durchgehen, enthält auch eine Zusammenfassung meiner psychiatrischen Geschichte. Diese sei für Kolleginnen und Kollegen in der Psychiatrie gedacht, mit denen ich eventuell künftig zu tun haben würde, erklärt der Psychologe.

Dazu wird es nicht kommen, denke ich bei mir. Ich will nie wieder etwas mit der Psychiatrie zu tun haben. Das ist vorbei.

Meine Vergangenheit wird aufgerollt. Es ist, als würde ich einen Film anschauen, der gegen Ende eine unerwartete Wendung nimmt. Es wurde etwas herausgefunden, das alles, was ich bisher über die Protagonisten und den Plot zu wissen glaubte, über den Haufen wirft. Die Hinweise, die so lange schon auf die Lösung des Rätsels hingedeutet hatten, verdichten sich plötzlich zu einem Bild. Sie reihen sich aneinander, einer hinter dem anderen, über all die Jahre. Die ganze Zeit hat es Anzeichen gegeben.

Ich habe immer gewusst, dass ich autistisch bin. Und hatte doch keine Ahnung.

*

Drei Monate zuvor bummle ich durch Hagsätra Centrum, eine überdachte Einkaufspassage. Ich komme am Lebensmittelgeschäft Mat Dax vorbei sowie an der Konditorei Vallmofröt, dabei gehen mir immer dieselben fünf Wörter durch Kopf: Jetzt ist es so weit. Es kommt manchmal vor, dass Sätze in meinem Kopf hängenbleiben, kleine Schlaufen, die sich wie Beschwörungsformeln wiederholen.

Die neuropsychiatrische Praxis ist trotz Handy-App schwer zu finden. Ich gehe ein ganzes Stück in die falsche Richtung und halte, vollkommen desorientiert, bei der Skulptur Mädchen mit Ball inne. Das Mädchen steht starr vornübergebeugt, den Mund zu einem O geformt. Der Springbrunnen vor ihr enthält kein Wasser, der Strahl, den sie normalerweise ausspuckt, fehlt.

Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und meiner selbst so überdrüssig, dass ich beinahe ersticke. Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich Angst gehabt. Einen Abgrund in meinem Bauch, an den ich mich so gewöhnt habe, dass es mein Normalzustand geworden ist. Die Angst hat nichts mit meinen Gedanken zu tun, sie lebt in mir wie ein eigenständiger Organismus. Ich bin weder zwanghaft noch hypochondrisch, leide weder unter Nervosität noch denke ich mir ständig Katastrophenszenarien aus. Aber sobald ich mich in der Welt bewege, fühle ich mich unsicher. Jeder Schritt, den ich tue, ist vorsichtig, als ginge ich auf dünnem Eis.

Ich bin permanent angespannt und erfüllt von einer Trauer, die ich nicht begreife. Nachts schlafe ich mit geballten Fäusten. Zeitweise habe ich brutale Albträume; in einem davon, der mich immer wieder heimsucht, bin ich als kleines Mädchen gestorben. Dunkelheit hat sich über den Park Humlegården gelegt, und ich knie da und schaufle mit den Händen schwarze Erde aus meinem Grab. Es ist Nacht, ich bin allein im Park. Das Loch im Boden wächst. Unter der Erde mache ich ein grünes Nachthemd mit weißen Blümchen aus, eine blonde Haarsträhne, den Handgriff meines Puppenwagens von Brio. Ich lebe und bin erwachsen, dennoch liegt meine Kinderleiche hier begraben. Was ist mit mir geschehen? Warum bin ich gestorben?

Soweit ich zurückdenken kann, habe ich mich anders gefühlt.

Ich rechne nach. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich sechs Einzeltherapien bei verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten gemacht, sowie drei Paar- oder Familientherapien, ich habe zwei verschiedene Antidepressiva verschrieben bekommen sowie diverse angstdämpfende Medikamente, ich habe stapelweise Bücher und Artikel über psychische Krankheiten gelesen, und ich habe vierundzwanzig Stunden in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie verbracht. Es hat nicht geholfen. Nichts von dem, was sie sagen oder beschreiben, trifft zu. Es geht dabei nie um mich.

Und irgendwann dachte ich: Es kann nicht richtig sein, dass es einem so geht. Therapien und Medikamente müssen doch etwas bewirken. Man geht vorübergehend in Therapie, nicht ein Leben lang. Ich bin nicht mehr jung. Ich muss langsam fertig werden.

*

Ich probiere einen anderen Weg, um die Praxis zu finden, weiche einem Mann in Jeansweste aus, der lautstark nach ein paar Kronen verlangt, beschleunige meinen Schritt, ohne zu wissen, ob ich in die richtige Richtung gehe. Das Einkaufszentrum erscheint mir fluide, als würden sich die Straßen, jedes Mal wenn ich mich in eine andere Richtung wende, verschieben.

Im Laufe der Jahre habe ich versucht, mich mit den normalsten aller frauenspezifischen psychischen Beschwerden zu identifizieren. Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht schuld- und schamgetrieben und bis zur Selbstaufgabe damit beschäftigt bin, anderen gefällig zu sein, ein tüchtiges, gutes Mädchen auf dem Weg in die Erschöpfung, eine Perfektionistin mit Essstörung, die ihren Körper hasst. Oder bin ich einfach chronisch depressiv?

Nein, das trifft alles nicht auf mich zu. Im Gegenteil — meistens ist mir egal, was andere von mir denken. Ich erbringe Leistung, aber nur in Bereichen, die mich wirklich interessieren. Alles, was mich langweilt, sortiere ich aus. Mein Körper ist mir egal. Wenn ich mich mit Freundinnen unterhalte, versuche ich manchmal, mir über Kalorien und Sport Gedanken zu machen, Dinge, von denen man erwartet, dass Frauen sich damit beschäftigen, aber eigentlich esse ich alles, worauf ich Lust habe. Ich habe mich nie über meinen Körper definiert.

Dennoch sind da diese permanente Angst und diese lähmende Müdigkeit. Kann ich schlecht einschlafen? Überhaupt nicht, ich erlösche jeden Abend wie eine Kerze.

Es muss aber doch einen Grund geben.

*

Endlich finde ich den Eingang der neuropsychiatrischen Praxis für Erwachsene.

Der Psychologe, bei dem ich einen Termin habe, ist dem Namen nach weiblich — so zumindest meine Erwartung. Ich stelle mir eine kluge ältere Frau kurz vor der Rente vor, die um den Hals eine Lesebrille trägt. Eine Frau, die sich auf langjährige Erfahrungen stützt, die alles gesehen hat und die nichts erschüttern kann.

Die Menschen im Wartezimmer sehen normal aus. Weiße Ohrhörer, Sneakers. Ein Mann in hellblauem Jackett ist ganz in sein Handy vertieft. Auf den Tischen liegen Mandala-Hefte zum Ausmalen aus. Ich öffne eins davon. »Es geht nicht um ein chemisches Ungleichgewicht, sondern um ein Ungleichgewicht der Mächte«, hat ein früherer Besucher auf das Deckblatt geschrieben. »Weder noch, es geht um eine Dysfunktion«, antwortet eine andere Handschrift. »Aber sie ist immer noch Teil von dir, also sei stolz darauf!«, merkt ein Dritter an.

Eine Frau geht zur Kasse und bezahlt für ihren Besuch.

»Quittung«, sagt der Typ hinter der Scheibe.

Die Frau blickt ihn verwirrt an.

»Ob ich einen brauche?«, fragt sie.

Eine kleine Glücksblase steigt in mir auf. Wir haben etwas gemeinsam. Wie soll man wissen, was gemeint ist, wenn einer bloß »Quittung« sagt? Das klingt doch wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Hier bin ich richtig. Hier gibt es Leute wie mich.

»Clara?«

Mein Psychologe kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ein schlanker Mann in Hipster-Klamotten. Er ist jünger als ich und sieht ziemlich gut aus. So ein Mist. Ich gehe hinter ihm her zum Behandlungsraum und fühle mich wie ein Psycho-Fall. Ein besonders schwerer, der unverzüglich weggesperrt werden sollte.

Der Psychologe erklärt mir sachlich, wie die Untersuchung ablaufen...

Erscheint lt. Verlag 29.1.2024
Übersetzer Hanna Granz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Autisterna - om kvinnor på spektrat
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antidepressiva • Autismus • autismusspektrumstörung • Barrierefreiheit • Beatrix Potter • Blickkontakt • Depression • Essay • Fehldiagnose • Frauenmedizin • Greta Thunberg • Hochfunktionaler Autismus • im Spektrum • Inklusion • Medizin • Neurodiversität • Schweden • Sexismus • Virginia Woolf • Wissenschaft
ISBN-10 3-446-28044-8 / 3446280448
ISBN-13 978-3-446-28044-1 / 9783446280441
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