Was ihr wollt (eBook)
192 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3165-2 (ISBN)
Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format 'Jäger&Sammler' von 'funk', dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast 'Piratensender Powerplay'. Dschungel war sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Das von ihm 2021 zusammen mit Samira El Ouassil verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Karig lebt in Berlin und in München.
Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format "Jäger&Sammler" von "funk", dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast "Piratensender Powerplay". Dschungel war sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Das von ihm 2021 zusammen mit Samira El Ouassil verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Karig lebt in Berlin und in München.
Prolog
Werfen Sie mit diesem Buch eine Scheibe ein
Protest spricht laut und deutlich. Über den legendären Harvey Milk, US-amerikanischer Aktivist für die gleichgeschlechtliche Ehe, existiert die so hübsche wie kaum nachprüfbare Geschichte, wonach er auf den Straßen von San Francisco der 1970er-Jahre angeblich einen homosexuellen, am gemeinsamen politischen Kampf aber demonstrativ desinteressierten Mann mit folgenden Worten zum Mitstreiter konvertieren wollte: »Du solltest das machen, was du am besten kannst: ein Arschloch sein. Aber sei es wenigstens bei uns!«
Die meisten Menschen glauben, Protest, Aktivismus und Widerstand seien etwas für wenige, spezielle Individuen. Sie denken, es bräuchte einen Mahatma Gandhi oder eine Greta Thunberg, einen Martin Luther King Jr. oder einen Harvey Milk, sprich, charismatische Anführer:innen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und unendlich viel Mut, um etwas zu verändern. Für den Rest bleibe höchstens die Rolle als Statist:in, aber auch das nur in historischen Ausnahmen; seltenen, flüchtigen Augenblicken, in denen man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müsse, ehe sie als rasch vergilbende Nachrichtenbilder in die Archive wandern. Die Vorstellung, selbst für oder gegen etwas die Stimme zu erheben, erscheint den meisten Menschen in unseren freien westlichen Demokratien so fern wie das eigene Parlament oder das Oberste Gericht. Sie existiert, hat aber kaum etwas mit ihnen persönlich zu tun. Wieso sollten sie sich auch mit Protest befassen, wo sie doch nicht zu jener seltenen Spezies gehören, die für die historischen Momente gemacht ist? Und außerdem nicht in einer dieser besonderen Zeiten leben, mit klingenden Jahreszahlen wie 1968 oder 1989, in denen viele Regeln aufgehoben sind?
Zum Glück ist diese Vorstellung von Protest und Widerstand nicht wahr. Wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, ist sogar das Gegenteil wahr. Umstürze und Umschwünge, Revolutionen und Revolten werden immer und ausschließlich von vielen Menschen getragen, von denen die wenigsten in irgendeiner Form herausstechen. Wenn es um solche sozialen Prozesse geht, sind die vermeintlichen Statist:innen sehr wohl Hauptdarsteller:innen. Man muss dazu nicht einmal besondere Fähigkeiten besitzen oder übermenschlich tapfer sein. Denn erfolgreicher Protest lebt nicht von Heldenmut oder Exzellenz, sondern von Verbindlichkeit und Gemeinsinn, Kommunikation und Koordination, kurz: von einer Gruppe, die zusammenhält – und einen Plan hat. Die Vorstellung, Protest sei in der Regel bloß ein mehr oder weniger spontaner emotionaler Ausbruch, trifft auf kaum eine der großen Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte zu. Effektiver Protest war in der Regel strategisch ausgeklügelt und sehr gut geplant – und entfaltete genau deshalb seine Wirkung. Was also, wenn diese scheinbar wie Gewitter aufziehenden, mal reinigenden, mal verwüstenden Protestereignisse nicht nur vorhersehbar, sondern sogar steuerbar wären?
In der öffentlichen Diskussion über Protest begegnet man jedoch jeder Menge Missverständnisse, Widersprüche oder schlicht falscher Annahmen. Da heißt es etwa, er ziele darauf ab, eine Mehrheit zu überzeugen, denn ohne diese könne man keine Veränderung herbeiführen. Dabei deutet empirisch alles darauf hin, dass eine kleine, aber überzeugte Minderheit genügt, um großes zu bewirken. Viele glauben außerdem, Protest sei immer nur einen Schritt von einer gewaltsamen Radikalisierung entfernt. Dabei sind die allermeisten Bewegungen bewundernswert friedlich geblieben, egal wie hart sie angegangen wurden. Und schließlich wird immer wieder suggeriert, es gäbe für Protest genau einen richtigen, aber viele falsche Wege – dabei weiß die Protestforschung längst, dass eine Vielzahl von ineinandergreifenden und sich potenzierenden Taktiken am meisten Erfolg verspricht. Fail better, das wiederkehrende Scheitern zum Erfolg, scheint das vorherrschende Muster.
Rosa Parks, die mit ihrem Sitzstreik in einem Bus von Alabama für einen der Schlüsselmomente der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA sorgte, sagte später einmal: »Das Einzige, was mich ärgert: dass wir so lange mit diesem Protest gewartet haben.«[1] Auch ihr Protest war nicht spontan, sondern wohlgeplant. Sie war an diesem 1. Dezember 1955, anders als später gerne nacherzählt, nicht zu müde, für einen Weißen aufzustehen. Sie hatte sich gezielt dafür entschieden. Sie und ihre Mitstreiter:innen wussten: Es gibt nicht den perfekten Zeitpunkt, um aktiv zu werden, nicht den einen unzweifelhaften Anlass und erst recht keine Erfolgsgarantie. Das ist freilich eine gute Nachricht, denn sie bedeutet im Umkehrschluss: Wir können uns jederzeit dafür entscheiden, uns zu entscheiden; nicht mehr nur zu klagen, sondern auch zu handeln. Protest wartet nicht auf seinen historischen Moment, er schafft ihn selbst. Deshalb bereute Rosa Parks es, nicht früher mit dem Scheitern zum Erfolg begonnen zu haben. Vieles an erfolgreichem Protest stellt unser gewohntes Denken regelrecht auf den Kopf. Um zu gewinnen, muss man oft erst einmal verlieren, wie Mahatma Gandhi es sagt: »Unser Triumph besteht darin, eingesperrt zu werden, obwohl wir nicht das geringste Unrecht getan haben.«
Was man über Protest wissen muss, ist zwar oft überraschend und durchaus komplex, aber keine Quantenphysik. Deshalb ist dies kein dickes Buch geworden. Es folgt natürlich mit den besagten Gandhis, Parks’ und Kings den großen Protestgestalten durch die Historie. Es erzählt aber auch weniger bekannte Geschichten wie die von Emily Davison, die sich vor das Pferd des britischen Königs warf, um für das Frauenwahlrecht zu kämpfen, und dabei starb. Es berichtet von dem eingangs zitierten Harvey Milk und seiner Ermordung, von einer Gruppe serbischer Student:innen, die es mit einem von Europas letzten Diktatoren aufnahmen, von den Ukrainer:innen und ihrem folgenreichen Maidan. Wir tauchen ein in die einschlägige Forschung, denken nach mit Philosoph:innen wie John Rawls, Hanna Arendt und Jürgen Habermas, erfahren von den magischen 3,5 Prozent der Revolution, die eine berühmte Studie beschreibt. Und nicht zuletzt lernen wir viel über uns selbst.
Meine eigene politische Haltung werde ich dabei nicht ganz außen vor lassen können, denn der Zweck von Protest und seiner Betrachtung beeinflusst immer seine Mittel und Bedingungen. Ich werde in diesem Buch also zu erklären versuchen, warum mir eine tiefgreifende Veränderung unseres Verhältnisses zu Politik und Gesellschaft unausweichlich erscheint, wie sie vonstattengehen könnte und was sie erfordert. Und ich werde davon erzählen, wie ich selbst relativ spät erfuhr, was für ein großes Glück diese Entscheidung zur Entscheidung bedeuten kann. Man tritt dabei in die Fußstapfen von Giganten: Gewerkschaften, Wahlrecht für Frauen, Ehe für alle – viele große Errungenschaften unseres Zusammenlebens verdanken wir weniger einem gesetzgebenden Prozess als dem stetigen Druck von Protest. Der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht behauptet sogar: »Wir hätten keine freiheitliche, repräsentative Demokratie ohne Protest. […] Protest hat Demokratie im Wortsinn erzwungen.«[2] Ließe sich auf diese Weise nicht noch mehr »erzwingen«, was die Welt besser machen würde? »I have a dream«, sagte mal jemand, der mit friedlichem Protest den Lauf der Geschichte verändert hat. Was wäre Ihr Traum?
Oder Ihr Albtraum? Sie können dieses Buch gerne mit einem konkreten Missstand im Hinterkopf lesen. Vielleicht ist es etwas Lokales – das Ausbluten einer kaputtgesparten sozialen Einrichtung, die Umwidmung von Grünflächen zu Baugrund zugunsten eines steuervermeidenden Konzerns, die eklatante Unterversorgung von Schulen, das Sterben an den Außengrenzen Europas oder die Diskriminierung einer marginalisierten Gruppe. Anlässe für Klagen und Anklagen gäbe es genug. Eine Weile habe ich deshalb mit dem Gedanken gespielt, diesem Buch einen etwas aktiveren Titel zu geben: Werfen Sie mit diesem Buch eine Scheibe ein (von einem Ölkonzern oder Ähnlichem). Oder Werfen Sie dieses Buch Ihren Abgeordneten vor die Füße. Aber dann dachte ich: Aggressivität und schlechte Nachrichten haben wir mehr als genug. Ja, wir drohen momentan den Kampf um eine gute Zukunft zu verlieren. Die gute Nachricht lautet jedoch: Wir haben noch nicht einmal angefangen, wirklich zu kämpfen. Wir wissen nur leider nicht so richtig, wie das geht. Damit meine ich: Wir wissen kaum, wie Protest wirklich wirkt, wie er tatsächlich im Innern funktioniert. Weil friedlicher Protest meist als spontaner Akt verstanden wird und selten im Handumdrehen die Welt verändert, erscheint er eher hilflos als mächtig. Dieses Buch versucht ihn hingegen als kühle Strategie zu ergründen, als effizientes Medium gemeinsamer Selbstermächtigung, als intelligentes Instrument der politischen Teilhabe. Je besser wir verstehen, was viele einzelne Bürger:innen, die zu einer Bewegung werden, auszurichten vermögen, desto mächtiger wird jede:r einzelne – und werden damit auch Sie, die Sie das hier lesen.
Begreifen Sie die folgenden Seiten also bitte als suchenden Essay, zu Seiten geronnene Neugierde und, ja, auch als eine Art Kochbuch. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Aktivismus • Aufruhr • Bauern • CO2-Steuer • Demonstrationen • Diesel • Fridays For Future • Grüne • Habeck • Heizungsgesetz • Klimakleber • Klimawandel • letzte Generation • narrative • Neubauer • Parteien • Protest • Rechtsradikale • Regierung • Revolution • Thunberg • Ungleichheit |
ISBN-10 | 3-8437-3165-9 / 3843731659 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3165-2 / 9783843731652 |
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